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Cover Lettre International 64, Lila Polenaki
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LI 64, Frühjahr 2004

Auf der Seilbrücke

Das Tibet von heute und das Paradies der Traumsucher

Was genau man glaubt und wie sehr und warum – das sind die Fragen, die Tibet einem eindringlicher stellt als jeder andere Ort, den ich kenne. Zum Teil gehören sie überall zum Reisen dazu – das Überschreiten von Grenzen des Bekannten, hinein in das Reich von Wunschdenken und Illusion und echtem Staunen –, doch in Tibet treten sie in Begleitung von jahrhundertealten Legenden und einem Selbstbewußtsein auf beiden Seiten auf, wie man sie in anderen Kulturen nicht findet. Oft reisen wir nach Tibet, gerade um entrückt zu werden, und dann passiert es uns zwangsläufig (was nicht der Fall wäre, sähen oder hörten wir dieselben Dinge zum Beispiel in Wisconsin). Tibet ist der Name, den wir allem geben, was wir zu glauben wünschen oder nicht ganz zu glauben vermögen.

In dem modernen Land Tibet paßt das natürlich zu der anderen wesentlichen Frage des Reisens, das heißt, wie man die schrecklichen Verhältnisse, die man um sich herum sieht, in Einklang bringt mit dem strahlenden Licht der Sonne (die in Tibet stärker und schärfer scheint und der man dort näher ist als in jeder anderen, tiefer gelegenen Gegend der Welt). Die Chinesen würden sagen, daß diese Dinge miteinander zusammenhängen: Tibet ist arm, eben weil es seine Zeit Göttern und Gebeten und Aberglauben widmet. Viele Tibeter würden vielleicht antworten, daß ihnen Karaokebars und lärmende Baukräne wirklich barbarisch erscheinen. Der Reisende, der in den meisten Fällen wünscht, die besondere Schönheit und Würde einer alten Kultur bewahrt zu sehen, ist aber außerstande, die Empfehlung zu geben, daß das dazugehörige Volk ohne die Schulen und Krankenhäuser leben soll, die er selbst für so wichtig hält. Und deshalb bewegt sich der Gast zwischen den beiden Seiten wie auf einer der berühmten Seilbrücken, die sich über die Schluchten des Himalaja spannen, denn je nachdem, an welcher Stelle der Wind die Brücke erfaßt, schwingt sie bald in die eine, bald in die andere Richtung.

Als ich auf dieser besonderen Reise nach Tibet kam, eine Woche, ehe ich auf das versteckte Kloster stieß, erlebte ich etwas, was als das Gegenteil eines Déjà-vu-Erlebnisses bezeichnet werden könnte: Ich konnte einfach nicht glauben, daß ich schon jemals hier gewesen war. Die Straßen, die Form, ja die Skyline von Lhasa hatten sich bis zur Unkenntlichkeit verändert: Dort, wo sich einmal alte Häuser am Fuße des Potala-Palastes zusammengedrängt hatten, gab es heute einen Themenpark mit Schwanenbooten und einem alten Flugzeug, in dem sich die Leute für die Dauer einer Photoaufnahme in ein volles Tibeter-Ornat werfen konnten. China hat Tibet bekanntlich mit breiten Straßen, hohen Wohnblocks und Kaufhäusern in das Zeitalter der Aufklärung geführt; das Ergebnis ist eine Stadt, die aussieht wie ein asiatisches Las Vegas, mit einem unnatürlich überdehnten Streifen gigantischer Discos und moderner Hotels, mitten in eine Gegend gepflanzt, die sonst eine mondgleiche Ödnis wäre. "China-Mobile"-Fahnen flatterten von den Laternenpfählen der breiten, makellosen Boulevards, und eine Reklametafel zeigte ein Bild von Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Mao Zedong, die neben dem Potala strahlten (demselben Potala, den zum Beispiel Mao, wie er immer wieder zu verstehen gab, am liebsten zerstört hätte). Es war, als sei ein Hochglanz-Propagandaposter über das gelegt worden, was einmal ein Sammelsurium von Familienschnappschüssen gewesen war.

Als ich zum ersten Mal nach Tibet kam, 1985, kurz nachdem sich das Land für den Rest der Welt geöffnet hatte, traf ich auf ein Fest der Hoffnung und des Lichtes: Die Tibeter genossen es, Ausländer zu sehen, die zu einem Universum zu gehören schienen, das anders war als das ihre (bis 1979 waren in seiner ganzen Geschichte keine 2 000 westlichen Besucher in Tibet gewesen), und die Reisenden waren ebenso erstaunt, weil sie sich in einem "Verbotenen Königreich" wiederfanden, das, als sie Kinder gewesen waren, noch nicht einmal die Transportmöglichkeit auf Rädern gekannt hatte. Blumenkästen leuchteten in der blendenden Sonne vor den getünchten Häusern, schüchterne Mönche kamen aus ihren Gebetsräumen heraus, um mit meiner Kamera zu spielen, und nachts stiegen die wenigen von uns, denen es gelungen war, sich in diese geheime Zauberwelt zu stehlen, hinauf auf das Dach unseres baufälligen guest-house, um den Potala im Vollmondlicht mit seinen tausend hellerleuchteten Fenstern zu betrachten.

Als ich 1990 nach Tibet zurückkehrte, waren sämtliche Lichter erloschen. Das Kriegsrecht war verkündet worden, nachdem tibetische Mönche (vielleicht von den Ausländern angestachelt, die ihnen jetzt eine Stimme verliehen und einen Kontakt mit der Welt ermöglichten) angefangen hatten, nach Unabhängigkeit und Menschenrechten zu rufen: Jetzt patrouillierten Soldaten auf den Dächern der niedrigen Gebäude rund um den Jokhang-Tempel, der heiligsten Stätte in Tibet, und in der Nähe waren Panzer aufgefahren. Tibetern war es nicht einmal mehr erlaubt, den Potala, also das Herzstück ihrer Kultur, zu besuchen, und so standen sie jeden Morgen klagend vor seinen Toren und sahen den wenigen sichtbaren Touristen zu, die rund um das großartige Symbol zu dessen Rückseite geführt wurden. Selbst diejenigen von uns, die ins Innere durften, wurden durch ein weitgehend verbarrikadiertes, kaum beleuchtetes Gebäude mit geschlossenen Türen geführt, in dem das Licht mehrmals völlig ausfiel, so daß wir in absoluter Dunkelheit dastanden.

Als ich dieses Mal wieder nach Tibet kam, fand ich das Überqueren der Seilbrücke riskanter denn je: Jetzt gab es hier weder ein Fest noch einen Stromausfall. Einerseits waren die Tempel voller Tibeter, die eifrig bestrebt waren, sich vor den heiligen Statuen hinzuwerfen und unter verstaubten Schriften entlangzukriechen in der Hoffnung, daß Weisheit oder zumindest Gnade auf sie herabkommen möge; andererseits waren die Bilder des Dalai-Lama, von denen einst die Altäre geradezu überschwemmt waren, durch die jenes kleinen Jungen ersetzt worden, den Peking zum elften Pantschen-Lama erkoren hat (derjenige, auf den die Wahl der Tibeter fiel, befindet sich noch immer unter Hausarrest, wie bereits in sieben seiner 13 Lebensjahre). Die Tibeter, die ich traf, schienen viel weniger als die Ausländer verärgert über die gleißenden neuen Gebäude, die voll waren mit Ghettoblastern und Schildern für "Giordano" und "Jeans West", doch eines Tages, als ich an einer ultramodernen Straße saß und ihre Wunder auf mich wirken ließ, kamen zwei freundliche tibetische Matronen zu mir herüber und blickten auf das, was hier wirklich Staunen auslöste: den Federhalter, mit dem ich gerade die Szene festhielt. Das kleine guest-house, in dem ich einmal einen einzigen Kaltwasserhahn in einem Hof und ein stinkendes Loch im Boden mit dreißig oder vierzig anderen geteilt hatte, verfügt jetzt über ein elegantes Dachterrassen-Restaurant, in dem man japanische und mexikanische Speisen essen kann und Jim Morrison dazu singt (zumindest an dem Abend, als ich dort war): "This is the end, my only friend, the end …"

Ein Ausländer, der mit einem der sechs Flieger von China Southwest, die im Sommer täglich von Chengdu aus verkehren, in Lhasa einschwebt ("California Dreaming" strömte durch die Kabine, und über die Videoschirme lief für die überwiegend chinesischen Passagiere ein alter Gangsterfilm made in Hongkong), so ein Ausländer mag sich bemühen, das "Petro-China"-Schild, das ihn bei seiner Ankunft begrüßt, ebenso zu übersehen wie den Tower, auf dem ostentativ "The Lhasa Airport of China" steht, oder die Trauben von Touristen aus Peking, die mit ihren flotten "Discover-Tibet"-Baseballkappen ins Freie drängen. Doch als ich um den Potala herumspazierte, trat ein junger Tibeter auf mich zu und sagte mit sanfter Stimme: "Aussicht schön" (ich blickte gerade aus einem der kleinen Fenster auf die unter mir liegende Stadt), "aber was ist mit Menschenrechten?" Als ich über den Hauptmarkt bummelte – reihenweise Mönche überall, die auf dem Boden saßen und mit vor- und zurückwippenden Oberkörpern rezitierten –, streckten die Mönche die Hand aus, und als ich ablehnte, ihnen etwas zu geben, spotteten sie auf eine ganz und gar unmönchische Weise. Während ich an dem spiegelglatten Teich saß, den die Chinesen vor dem Potala angelegt haben, machte ich die Bekanntschaft zweier kleiner Mädchen, höchstens sechs oder sieben Jahre alt, die auf meinen Schoß kletterten, mir mit den Händen über das Gesicht strichen und gurrten: "Give me money. Give money."

In vielen der Heiligtümer in Tibet kostet es jetzt zwanzig Dollar, wenn man nur eine Kamera zückt, und in manchen von ihnen 250 Dollar, wenn man eine Videokamera einschaltet. Das Gewirr der alten Häuser, das bei meinem ersten Besuch den größten Teil von Lhasa ausgemacht hatte, wurde jetzt "Altstadt" genannt, als wäre es irgendein künstlich wiederaufgebauter Bezirk in einer Yuppie-Vorstadt. Abends dachte ich bisweilen an den Ort, der mich so berührt hatte, als ich zum ersten Mal hierhergekommen war, und der mich, wie ich meinte, auf die höchste Stufe meines Seins getragen und eine Art Fenster aufgestoßen hatte, das ein erhabenes, klares Licht hereinließ. Niemals zuvor war ich in einer Stadt gewesen, die mich so weit von allem wegführte, was ich bisher gekannt hatte. Dann dachte ich an den Dalai-Lama, der vor nicht allzu langer Zeit von einem Kollegen von mir gefragt worden war, was er von den Discos am Fuße des Potala halte. "Kein Problem", sagte er, "kein Problem", und meinte damit, daß derart oberflächliche Veränderungen unwichtig seien, solange nur etwas Wesentlicheres in den Seelen und Bäuchen seines Volkes respektiert werde.

(…)

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