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Lettre International 146
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Inhaltsverzeichnis

LI 145, Sommer 2024

Wenn das Wasser kommt

Der Klimawandel als Extrazutat zum Hexenkessel des Senegal

(…)

Ein Menschenschmuggler

Wir sitzen draußen vor dem Grenzübergang, während sich unsere Partner vor Ort um die Papiere kümmern. Fünfzig Meter weiter weg, auf einem Parkplatz, liegt ein großes Boot.

Genauer betrachtet, ist nur noch die Hälfte des Schiffsrumpfs übrig. Das Schiff ist etwa zwanzig Meter lang gewesen. Randvoll mit Menschen. Mit Illegalen.

Bei näherem Hinsehen erkennt man, daß der Rumpf mittschiffs entlang der Spanten und Bodenhölzer Risse aufweist. Daß das Schiff zerrissen wurde wie ein Blatt Papier.

„Wie winzig wir doch sind im Verhältnis zum Meer“, denke ich und setze mich ins Auto, als wir nach einer halben Stunde unsere Pässe zurückbekommen haben.

Wir wissen, warum Menschen migrieren: Sie suchen finanzielle Sicherheit, Freiheit, ein besseres Leben. Mit dem Klimawandel wurde der Bogen für viele noch weiter gespannt, und je unerträglicher das Leben in diesen Gegenden wird, desto mehr Menschen setzen auf ein Leben auf der anderen Seite des Meeres. Junge Männer und Frauen, die sich verschulden und in den übervollen Booten das Weite suchen. Wir kennen das Bild, wir wissen, daß das geschieht.

Wir haben Kontakt zu einem Menschenschmuggler aufgenommen. Einem Mann, der sich Charles nennt. Er hat uns angeboten, eine Überfahrt mitzuerleben. Eines der Schiffe zu begleiten, wenn es vom Land ablegt und über das Meer fährt, voll mit hoffnungsvollen, vor allem jungen Menschen. Aber wir sollen dafür bezahlen. Denselben Betrag in den Pott legen wie jene, die mitkommen. 3 500 Kronen [etwa 470 Euro]. Der Mann, der sich Charles nennt, ist Kaufmann.

Wir erklären ihm mit Hilfe unserer Kontakte, daß wir nicht bezahlen dürfen, weil wir dann nicht in der Zeitung darüber schreiben können. „Das ist unethisch“, sagen wir, als würden wir für Zirkus Afrika eine Eintrittskarte kaufen, dafür bezahlen, um zu sehen, wie verzweifelte Menschen vor einer Wirklichkeit fliehen, die sie nicht meistern können.

Aber der Mann, der sich Charles nennt, hat dafür nur ein Schulterzucken übrig. Ich denke, diese Art von Überlegungen scheint einen Menschenschmuggler nicht sonderlich zu beeindrucken – einen Kaufmann, der auf dem freien Markt agiert, wo alles zum Verkauf steht und es um Profit geht. Aber er möchte uns gern treffen. Es soll uns nichts kosten. Nur zum Reden. So wird es ausgemacht. Wir werden uns sehen, um etwas über sein Geschäft und über die Menschen, die sich an ihn wenden, zu erfahren.

Während wir an dem verlassenen Schiff vorbeigehen, denke ich über die Entscheidung dieser Menschen nach. Daß sie unverständlich, abwegig und viel, viel zu riskant erscheint. Vor allem, wenn man bedenkt, daß die meisten irgend jemanden verlassen. Ihre Familie in der Hoffnung zurücklassen, eines Tages Geld nach Hause schicken zu können, während mögliche Konsequenzen ignoriert werden. Jene Realitäten, über die man lieber nicht so laut spricht.

Der Traum von Europa

Ich weiß, daß Saidou bereits zwei gescheiterte Versuche, die Kanarischen Inseln zu erreichen, überlebt hat. Ich weiß, daß er gesehen hat, wie Menschen ertrunken sind, daß er überlebt hat und damit zurechtgekommen ist, dennoch bin ich mir nicht sicher, wie bewußt er sich der Reise ist.

Saidou streicht seiner Tochter über das Haar. In eine Ecke gefläzt, halbsitzend, das Telefon vor sich. Auf meine persönlichsten Fragen möchte er nicht antworten. Das Mädchen versteckt sich hinter ihm. Sie streckt eine Hand aus. Versucht, das Telefon zu ergreifen. Das Telefon, das klingelt. Das Telefon, das abgenommen wird, woraufhin Saidou seiner Frau etwas zuruft, Kadi, die einsilbig aus dem Schatten unter dem großen Baum antwortet, wo sich der Großteil der Familie befindet, träge in der schweren Wärme.

Sie warten auf die kühlen Abendstunden und darauf, daß wir sie in Ruhe lassen. Sie warten darauf, daß die große Rinderherde, die über ihr Land zieht, vorbei an den fünf Hütten, welche die Siedlung umgeben, ihre Wanderung im Kuh-Tempo durch den Busch fortsetzen kann, aber sie warten auch auf eine Lösung, die es nicht gibt, sagt 
Saidou, als man ihn fragt.

„Es ist hoffnungslos. Was soll ich tun? Alles wird vom Regen fortgespült, ich habe kein Geld, um etwas zu kaufen. Ich pflanze, und dann kommt der Regen. Ich habe kein Geld. Wenn ich Geld hätte, könnte ich Setzlinge kaufen, die dem Wasser standhalten. Wenn ich Geld hätte, könnte ich im Regen säen.“

Dann streicht er über das geflochtene Haar des Mädchens, sie dreht ihren Kopf dicht an seinen Körper. Gerade hat er mir von seinen beiden gescheiterten Versuchen erzählt, illegal die Kanarischen Inseln zu erreichen. Zuletzt 2017, als sie keinen Treibstoff und kein Essen mehr hatten und irgendwo da draußen vor der marokkanischen Küste lagen, Wind und Wetter trotzten, bis sich ein anderes Boot, gesteuert von einem Kollegen ihres Skippers, näherte.

Saidou blickt hoch.

„Als die Leute das Schiff sahen ... gab es eine Schlägerei. Die Leute waren wie von Sinnen, und das ging so weit, daß die andere Piroge wieder davonsegelte, während wir schrien“, sagt er.

„Der eine Skipper rief den anderen Skipper an. Er sagte: Wer schwimmen kann, ist willkommen, aber es ist nicht für alle Platz. Also sprang ich rein“, erzählt Saidou.

„Ich bin ein guter Schwimmer. Das wußte ich. Aus Erfahrung.“

Bei der ersten Tour, als sie von der Küstenwache festgenommen wurden, entwischte er auf offenem Meer. Die Küstenwache bekam ihn zu fassen, und er landete in Marokko im Gefängnis. Jetzt, bei der zweiten Tour, gab es keine Küstenwache. Es gab nur das Meer.

„Ich schwamm zu dem anderen Boot“, sagt Saidou.

„Dort waren wir eine kleine Gruppe, die es geschafft hatte. Die anderen, so etwa hundert Leute, riefen uns nach, als wir davonsegelten. Sie riefen und schrien, aber sie wußten, worauf sie sich einließen.“

Saidou hält inne. Für einen Moment sitzen wir da und sonnen uns. Anders, der Photograph, sitzt schräg hinter mir. Zu gern würde ich ihn jetzt sehen. Sehen, was er denkt – wenn ich das nur könnte.

„Sie sind ja selber in die Boote gestiegen“, fährt 
Saidou dann fort.

Eine sogenannte freie Entscheidung. Ich nicke vermutlich, trinke vielleicht etwas Wasser. Und dann? Dann ging es nach Marokko, denn das überfüllte Boot hatte keine Chance, die Kanarischen Inseln zu erreichen.

„In Marokko habe ich zwei Jahre illegal in einem Wald am Meer gelebt.“

„In Ceuta?“ fragt der Photograph.

„War das in Richtung Norden?“

„An der Grenze zu Spanien“, antwortet Saidou, und wir nicken zu der vagen Antwort.

„Nach zwei Jahren hat es mir gereicht. Ein netter LKW-Fahrer half mir, nach Hause zu kommen. Er hat die Polizei und die Grenzwächter bestochen. Wir fuhren mit einer Ladung Apfelsinen und mir.“

„Und was hat dich zu Hause erwartet?“ frage ich.

„Genau dasselbe“, fährt Saidou fort, während seine Tochter von ihm weggeglitten ist.

Sie liegt auf dem Bauch und spielt mit etwas, was nicht da ist. Die Beine überkreuzen sich, langsam, während sie summt.

Ich frage, ob er nicht an das Risiko denkt, daß es schiefgehen könnte, nach zwei Versuchen mit tödlichem Ausgang für die Mitreisenden, nach Gefängnis, Abwesenheit, Schulden? Daran, wie es sein würde, sie zu verlassen, sie alle zu verlassen. Die 17 Menschen, die seine Familie sind.

Saidou lehnt sich zurück, wischt sich den Schweiß von der Stirn, reicht dem hübschen Mädchen das Telefon, welches im selben Augenblick wieder klingelt. Er streckt die Hand aus, ein flacher Schlag, und sagt ein paar Worte auf wolof, die ich nicht verstehe.

„Kadi“, ruft er und steht auf.

„Kadi“, wiederholt er und macht ein paar Schritte.

Das Mädchen blickt mich an. Sie läuft ihrem Vater nach, der in der Tür steht. Sie versteckt sich in seinem T-Shirt, die Nase an seinem Bauch. 

(…)

Saint-Louis ist auf der Liste des UNESCO-Welterbes. Es erinnert an Havanna, der koloniale Look, die schön verzierten Balkons, die dunkelgrünen Fensterläden, die flatternden weißen Gardinen, der farbige Kalkputz, der in langen sanften Bewegungen auf die Wände aufgetragen wird. Die hängende, grün schwellende und rosa blühende Bougainvillea, auch Drillingsblume genannt, die sich über das Mauerwerk rankt und in deren Schatten eine Frau gefüllte Baguettes verkauft, während Jungs, die koranstudierenden Taliban, in den Pausen zwischen dem Lesen in den heiligen Schriften um Geld betteln und spielen. Eine ältere französische Madame hebt ihr Hündchen hoch, bekommt eine schnelle Tasse Kaffee bei dem Nescafé-Verkäufer an der Ecke, während sie alle auf der Straße grüßt. Die vielen Menschen, die versuchen, Schmuck oder hin und wieder ein Fußballtrikot an die wenigen Touristen zu verkaufen, die gutgekleideten, hochgewachsenen Männer mit Aktentaschen unter dem Arm, die Frauen, die in ihren Hausschuhen durch die Straßen schlurfen, um Brot zu holen oder um beim Nachbarn Wäsche zu waschen.

Aber die Stadt besteht auch aus Abwasserkanälen, die bei Regen überschwemmt werden, großen Löchern im Mauerwerk, Müll und zurückgelassenen Gegenständen, verbarrikadierten und mit Brettern vernagelten Ladentüren. Zerbrochene Fenster und einstürzende Häuser. Ein Ort für Ästheten des Untergangs, wo sich das Auge dem Licht und der Schönheit des Verfalls öffnet, ein Memento mori für die Stadt, die Blumen, aber auch für die Arten und damit auch für den Menschen. Bedenke, daß du sterben wirst, steht zwischen den Zeilen in dieser Stadt, und unter den Straßen der Stadt ist Wasser, um uns herum sind Flüsse, Deltas, Ströme und Kanäle.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 146 erscheint Ende September 2024