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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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LI 93, Sommer 2011

Vagabunden

Vom zerbrechlichen Leben der Obdachlosen in Moskau

 (...) Die Milizionäre verprügeln die Obdachlosen oft, professionell und mit Lust. Sehr gerne an Feiertagen. Zu Neujahr zum Beispiel. Und ganz besonders am 10. November, am „Tag der Miliz“. Schlafende schlägt man auf die Beine. Wer tief schläft, bekommt Schläge auf die Hände. Es wird mit Knüppeln geprügelt, mit Elektroschockern, es werden Platzpatronen ins Gesicht geschossen. Eine Gaudi für sich: obdachlose Frauen verprügeln.Eine nicht mehr ganz junge Obdachlose wurde von Milizionären lange, gründlich und mit Gefühl verprügelt. Man schlug auf sie ein mit allem, was gerade da war. Es fand sich auch ein Besen. Man steckte ihr den Besenstiel in alle Öffnungen. Auch in die Vagina. Man hat die Frau im Krankenhaus gerade noch retten können. Es gab eine furchtbare Blutung. Jetzt bepißt sie sich unentwegt.

Ehemalige Kriminelle kommen nie allein zu Lisa, nur in Gruppen, in schwarzen Joppen. Melden genau, wie oft sie gesessen haben und nach welchen Artikeln des Strafgesetzbuches. Zeichen höchsten Vertrauens zu Lisa die Frage: „Sag mal, wo hast denn du gesessen?“ 

Lisa Glinka meint, für die meisten Obdachlosen sei das Vagabundieren – ein Lebensstil. In der Regel haben sie nichts, wohin sie zurückkehren könnten. Was kann der Staat für sie tun? Lisa ist überzeugt: Heime und Nachtasyle bauen.

Das Vagabundieren als Lebensstil gibt es auf der ganzen Welt. In den USA gibt es 3 Millionen Vagabunden, in den EU-Ländern – 5 Millionen. Die meisten leben in Frankreich, dort heißen sie Clochards und haben sogar eine eigene Gewerkschaft.

Repressive Gesetze gegen die Vagabunden sind dort abgeschafft worden. Das Problem des Vagabundierens versucht man folgendermaßen zu lösen: Man richtet karitative Hotels ein, Kantinen, Bäder, Desinfektionsstellen. In den USA leben fast alle Obdachlosen permanent in Asylen.

In Rußland gibt es 4,5 Millionen Vagabunden. Unabhängige Experten sind der Meinung, daß diese Zahlen stark untertrieben sind.

In Moskau – wiederum nach ungewissen Angaben – gibt es einhunderttausend Obdachlose. Und nur acht Heime. In die nur Personen mit Moskauer Aufenthaltserlaubnis (!) aufgenommen werden. Eine piekfeine Sache, wie Rina Seljonaja einmal sagte. Wenn einer eine Moskauer Aufenthaltserlaubnis hat, ist er ein Prinz und kein Obdachloser.

Unsere Staatsduma hat sich auch hier hervorgetan. Sie hat einen Gesetzesentwurf vorbereitet, nach welchem jeder Obdachlose eine Adresse zu haben hat. Einen Wohnsitz des Obdachlosen. Sonst wird er eingebuchtet. Beim ersten Mal für zehn Tage. Und im Falle der „böswilligen Weigerung, sich registrieren zu lassen“, kann er ein oder auch zwei Jahre brummen.

Dieser Gesetzentwurf wurde in erster Lesung angenommen. Eine Zeitung hat an Autoren und Vorbereiter dieses Gesetzes Fragen gerichtet:

Wofür will die Miliz den Obdachlosen bestrafen? Dafür, daß er keine Wohnung hat? Dabei ist der Besitz einer Wohnung ein Recht, aber keine Pflicht der russischen Bürger. Dafür, daß er sich nicht an einem bestimmten Ort aufhält? Aber die Verfassung Rußlands garantiert den russischen Bürgern Bewegungsfreiheit. Dafür, daß sie übel riechen und schlecht angezogen sind? Aber kein russisches Gesetz schreibt den Bürgern vor, wie sie zu riechen und was sie an öffentlichen Plätzen zu tragen haben. Dafür, daß sie Tuberkulose und Läuse haben? Aber das ist Krankheit und kein Verbrechen.

„Der Staat ist verpflichtet, die normalen Bürger vor dem zweifelhaften Vergnügen zu schützen, mit den Vagabunden in Berührung zu kommen“, erläuterte in einem Interview das Wesen des neuen Gesetzes der Chef der Moskauer Hauptverwaltung des Innern im Verkehrswesen, Generalmajor der Miliz Andrei Alexejew.

Eine Krankenschwester in einem Kiewer Hospiz sagt über solche Staatsmänner: „Denen tut’s ja nicht weh.“

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.