LI 89, Sommer 2010
Ästhetik des Aufbruchs
Von der Schönheit der Hoffnung und der Schönheit der VerzweiflungElementardaten
Genre: Autobiographie, Gespräch / Interview
Textauszug
Werner Schroeter Spricht mit Heinz-Norbert Jocks
HEINZ-NORBERT JOCKS: Bereits deine Großmutter lebte dir vor, wie man sich im Leben behauptet?
WERNER SCHROETER: Meine polnische Großmutter war eine Phantasiebombe, die mich in die Wonnen ihrer phantastischen Welt einweihte. Als ich fünf Jahre alt war, 1951, kurz nach dem Krieg, lebten wir in einer proletarischen Siedlung außerhalb Bielefelds. Diese Außenwelt war meiner Sensibilität so fremd, daß meine Großmutter mit ihren Träumen zu meiner eigentlichen Welt wurde. Sie, die weder jemals Repression ertragen mußte noch ausübte, übersetzte jede Art von Erfahrung, einfach alles, in Phantasie. Ich erinnere mich, wie sie einmal die Bielefelder Straßenbahnschienen in Indianerpfade verwandelte. Aus einem Stuhl wurde ein Palast, aus einem Blumentopf ein Urwald. Diese Freiheit des Umgangs mit Dingen faszinierte mich, und in dieser fremden Tagtraumrealität fanden wir unseren Platz. Mein Bruder wohl weniger als ich, der ich völlig darin aufging. So konnten wir uns innerlich von dem schwer erträglichen, immens häßlichen Umfeld absetzen, an dem die Seele eines Kindes allzuleicht Schaden nimmt, von jenen, die sich ins Koma soffen oder zu Tode prügelten. Ich erinnere mich an eine urkomische Geschichte. Meine Großmutter, mit sechzig Jahren noch erstaunlich schön und schlank, hatte im Osten durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg alles verloren – bis auf ihre schönen seidenen Kleider aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Die trug sie 1950 in der Bielefelder Arbeitersiedlung, blondiert und stattlich mit Einkaufstasche daherstolzierend. Was sie anhatte, wirkte klasse auf ihrem Körper, so daß die Jungs hinter ihr herpfiffen, während sie mit mir an ihrer Hand spazierenging. Mich anlächelnd, sagte sie: „Jetzt paß mal auf.“ Daraufhin drehte sie sich mit Schwung und einem Lächeln um und sagte in aller Schärfe: „Nicht wahr, Jungs, von hinten Lyzeum und von vorne Museum?“ Ihr Sinn für Wirklichkeit war von vitaler Ironie und stark ausgeprägt. Mit ihrer Traumwelt bereitete sie uns auf ein Leben im Widerstand vor. Phantasie bedeutet Widerstand. Nur mit ihr läßt sich Unerträglichkeit ertragen und Wirklichkeit aus den Angeln heben. Ohne sie gibt es keine Revolution, die nicht nur eine Massendynamik, sondern der Übergang von einer Phantasie zu einer Gegebenheit hin und damit die Überwindung der gegebenen Wirklichkeit ist. In ihrer Art von Weltflucht erschuf meine Großmutter eine neue Realität, die überall, ganz gleich wo, stattfinden konnte. Genau dort findet sich die Quelle meiner Freiheit gegenüber dem, was man realistische Darstellung oder Naturalismus nennt. Es ist für mich selbstverständlich, daß sich mit gutem Willen und viel Phantasie Berge versetzen lassen – natürlich imaginäre.
Was ist es, das Geschichte macht?
Widerstand nicht. Identisch zu sein mit Politik schafft kein Mensch. Das ist ein viel zu fragiles, korrumpiertes und korrumpierbares Gebäude. Man kann ja nicht identisch mit Ideologie sein. Das ist wie mit dem Christentum. Ich begreife mich als überzeugter Christ. Der Unsinn, den die Kirche mit dem Christentum angestellt hat, ist nichts, womit ich mich irgendwann in meinem Leben habe identifizieren können. Dasselbe gilt für den Untergang des Sozialismus. Dessen Grundgedanken gehen weit über das hinaus, was davon heute übriggeblieben ist. Wer weiß, wie weit die Veruntreuung einer Idee in ihr selber angelegt ist, wie undurchführbar ideelle Ansprüche sind oder wie weit der Marxismus seine Selbstzerstörung bereits in sich selbst enthält, indem er die Menschen überschätzte, die seine Idee realisieren sollten? Als Absolutum ist sie nach wie vor nicht verkehrt.
Wie wichtig ist dir Ernst Bloch in dem Zusammenhang?
Das Prinzip Hoffnung schätze ich seiner Großzügigkeit wegen. Bei Bloch finde ich nichts Kleinliches. Beim Lesen seiner nach den utopischen Resten Ausschau haltenden Kulturgeschichte empfinde ich niemals, daß er sich selber in den Mittelpunkt stellt. Er gibt nicht vor, selbst Don Giovanni geschrieben zu haben.
Wie idealistisch denkst du?
Gibt es alternative Möglichkeiten? Sich um die Müllentsorgung zu kümmern mag für Menschen befriedigend sein, die den Tod verdrängt haben. Es ist auch normal, sich darum zu kümmern, aber daraus eine Ideologie zu zimmern, ist Tante Emma als Freiheitsstatue. Wir leben in einer Gesellschaft permanenter Todesverdrängung. Kein Leben ist ohne Tod, aber der Tod ist nicht im Leben. Beides sind Parallelen, die sich im Unendlichen treffen. Es geht darum, sich seine Vitalität zu bewahren, solange man lebt.
Wie kamst du auf die Idee, Theater zu machen?
Mehrere Faktoren waren dafür ausschlaggebend. 1959 hörte ich ein aus Amsterdam übertragenes Konzert mit der Callas im Radio, bei dem ich nicht sicher war, ob es sich dabei um Gesang handelte. Es faszinierte mich so, daß ich mich von der langweiligen Mathematik abwandte.
Die Callas wurde zum Idol für dich?
Ohne Idol lebt man eigentlich nicht. Es ist eine archaische Notwendigkeit wie das Genie, das in der griechischen Mythologie Vermittler zwischen Gott und Mensch ist. Daß man einen Menschen wie die Callas verehrt, die Großes zu leisten vermochte, ist doch schön, und Schönheit kann man lieben. Die Callas rettete mir durch ihre Art des klarsten Ausdrucks, ohne es zu wissen, das Leben. Ich habe mich mit ihr seit meinem 13. Lebensjahr intensiv beschäftigt und übrigens im Rahmen meiner Filmarbeit einen Regisseur kennengelernt, dessen Trauzeugin sie war. Er stellte mich ihr vor, so kamen wir ins Gespräch.
Was brachte dich außerdem noch zum Theater?
Ein Erlebnis als kleines Kind. Da sah ich Leonora Feininger, die mich mit ihrem exzessiven Toben begeisterte, als wild Fauchende in Lessings Emilia Galotti. Dann, als mein im Libanon gedrehter Film Salomé nach einem Stück von Oscar Wilde mit Magdalena Montezuma, die den Herodes spielte, Ende 1970 im Fernsehen lief, erhielt ich Anrufe von Jean-Pierre Ponnelle, Ivan Nagel und Peter Zadek mit der Aufforderung, doch auch Theater zu machen. Ich wäre von mir aus vermutlich nicht auf die Idee gekommen. Das erste, was ich im Frühjahr 1972 inszenierte, war Emilia Galotti in Hamburg, anschließend Salomé bei Zadek in Bochum. So ging es immer weiter.
Wovon hängt die Wahl der Theaterstücke ab?
Davon, was mich in früher Jugend faszinierte. Im Grunde verwirklicht man alles, was man damals empfand, als man ganz offen, also jung war. Viel Neues kommt da nicht hinzu.
Zahlreiche deiner Inszenierungen leben stark von der Sprache der Körper.
Denken und Körper schließen sich ja nicht aus. Bei dem, was ich hervorhob, ging es mir um eine Steigerung der Sinnlichkeit des körperlichen Ausdrucks. Im Fall von Lessings Emilia bot es sich an, dies so klar wie möglich zu tun, weil die Sprache über diese Körperlichkeit verfügt. Außerdem ist sie bezüglich Gedankenführung und Ausdruck von kartesianischer Klarheit, zudem wie ein Sprachballett.
Warum stieß dein König Lear nach Shakespeare 1990 in Düsseldorf auf so starken Widerstand? Da hieß es, der Regisseur zöge Lear die Hosen aus.
Es löst großes Erstaunen aus, wenn man sieht, welche Möglichkeiten von Weltsicht in einem Stück stecken, die sich jemandem, der nur liest, nicht erschließen. Sowohl die Klassiker als auch die Dichter der Renaissance, die ihr Dasein im Dunstkreis von Schulliteratur fristen müssen, werden in ihrer extremen Lebensausdeutung oft gar nicht zur Kenntnis genommen. Dabei verletzt dieses facettenreiche Spielmodell das Tabu „Familie“. Bewußte Provokationen sollen zum Überdenken dessen führen, was „Familie“ bedeutet, etwa die inzestuösen Beziehungen zwischen Lear und seinen Töchtern. Daß Lear bei mir für ein paar Minuten altersschwul wurde, war wohl ein auslösender Moment für die heftigen Publikumsreaktionen bei der Premiere. Da ist das Tabu wieder erstarkt, daß Männer das unterlassen sollten.
Gehört die Grenzüberschreitung zur Kunst?
Gewiß. Was sonst?
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