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Cover Lettre International 94, Robert Longo
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LI 94, Herbst 2011

Zero in Europa

Erstes gemeinsames Gespräch mit den Gründern nach dem Ende der Gruppe

HEINZ-NORBERT JOCKS: Über den Modus der Leere werden wir noch reden müssen, um uns über das Utopische von ZERO klarzuwerden. Interessant ist ja, daß fast parallel zu ZERO in Frankreich das Buch von Roland Barthes Am Nullpunkt der Literatur erschien und daß in der französischen Literatur seitens des Nouveau roman die Loslösung von allem Psychologischen eingefordert wurde. Das war sozusagen eine Parallelaktion zu ZERO.

(…)

OTTO PIENE: Es geht ja um die späten vierziger Jahre. Davor besuchte ich in München die Kunstakademie. Der Platz, wo ich am liebsten gemalt habe, war buchstäblich auf den Mauerresten der Akademie. Von dort aus hatte man einen Blick in den Himmel und auf einige Zwischenräume von München, die nicht in Trümmern lagen. Darüber hinaus gab es einen persönlichen Horizont. Über der Trümmerlandschaft, die in den späten vierziger Jahren traumatisch war, lag eine andere, ja vollkommen reine, bei Tageslicht so helle wie intakte Welt. Sie wurde für mich zum Inbegriff der Leere. Dieser Himmel über der chaotisch zerstörten, kaputten Stadtlandschaft, die kaum noch erkennbar war, wenn man nicht die Karte bemühte, war eine sowohl faßbare wie auch unfaßbare und gegenstandslose Leere. Diese findet sich bei uns, die wir hier sitzen, immer wieder unter verschiedenen Namen. Mal heißt sie „Himmel“, mal „Wüste“ oder „Arktis“. Damit ist eine Vorstellung verknüpft, die sich gut mit dem verträgt, was an den aufgezählten Stätten andere gedacht, gefühlt und gesehen haben und diese motiviert hat, die Leere nicht nur zu untersuchen, sondern auch menschlich greifbar zu machen …

Herr Uecker, was verstanden Sie unter Leere?

GÜNTHER UECKER: Als einer, der vom historischen Materialismus geprägt worden war, suchte ich nach einer Gegenwelt zu den Weltvorstellungen, die mich in der DDR geprägt hatten. Die materialistische Vision einer den Menschen von Ausbeutung befreienden Utopie, die sich zu einer neuen, für die Menschen besseren Gesellschaftsform wandeln sollte, war 1953 gescheitert. Das zeigte sich auch in Ostberlin, von wo aus ich dann nach Westberlin ging. Der Arbeiteraufstand 1953 als Auslöser führte dazu, das Studium in der DDR aufzugeben und zu Otto Pankok an die Düsseldorfer Kunstakademie zu gehen. Schon in der DDR hatte ich ihn mir wegen seines Rufes als Antifaschist, der während des Nationalsozialismus Malverbot erhalten hatte, auserkoren. Ich sah in ihm einen Befreier. Er hatte einen Jesus gemalt, der ein Gewehr über dem Knie zerbricht. So sah ich mich in dieser Einbindung humaner Utopien dazu ermuntert, mir ein Auffanglager in der Akademie zu wünschen. In diesem Zusammenhang bedeutete Entleerung für mich Halt in psychischer Not, in die ich geraten war als jemand, der eine Gehirnwäsche erfahren hatte, hin- und hergerissen zwischen Realitätserfahrung und meinen Wunschvorstellungen. In der westlichen Welt mußte ich irgendwie Halt finden. Das gelang mir durch das Lesen der Werke von Jean-Paul Sartre und Bertrand Russell, durch das Sprechen mit Menschen, die dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus angehörten, und auch durch die Erfahrungen, die ich in Frankreich gemacht hatte. Mich zog es aus Deutschland raus nach Südfrankreich, wo ich Cocteau und Picasso kennenlernte. Da konnte ich in einer einfachen Hütte schlafen. Das waren für mich Gegenwelten, verbunden mit der Frage, wo ich hineinrenne. Zu den Büchern, die mir Freunde zu lesen gaben, gehörten auch welche von Arthur Schopenhauer, über dessen Philosophie ich zu ostwestlichen Wechselwirkungen im Denken vordrang. Da realisierte ich das Andere im asiatischen Denken, das weniger rational geprägt ist als das Denken in einer utopischen Dimension. Die Leere, nach der Sie mich fragen, war der leere Keller, in dem ich bei Fliegeralarm Schutz gesucht habe. Den hatte ich geliebt, obwohl ich nachts mehrmals hineingehen mußte. Die Ereignisse des Krieges gehören zum kindlichen Erfahrungsschatz, weil dies ja auch eine aufregende Zeit war. Am liebsten wollte ich immer draußen sein, weil da immer etwas los war. Der von mir auch tagsüber aufgesuchte Keller, der leere Raum, war für mich mit einer Sehnsucht nach Ferne verknüpft. Ich fragte mich, woher die Flugzeuge wohl kamen. Aufregend war auch das Feuer in der Nacht, die Explosionen, der fremdartige Geruch von schmorenden Kabeln und zerstörter Flugtechnik.

(…)

Herr Mack, Sie hatten mit Sartre nicht so viel am Hut, dafür mehr mit Immanuel Kant. Ihr Begriff der Utopie fiel mit einer Entscheidung zusammen, museale Räume gar nicht erst betreten zu wollen. Statt dessen zog es Sie in die Sahara. Warum?

HEINZ MACK: Es war ja so, daß man innerhalb eines kurzen Zeitraums immer mehr Kunstbücher in die Hand bekam. So konnte man wenigstens virtuell eine Reise durch die Kunstgeschichte unternehmen. Frei nach André Malraux konnte man sich in ein musée imaginaire versetzen. Dadurch war es möglich, alles, was auf dieser Welt an Kunst präsent war, miteinander zu vergleichen. Bedingt durch meine kunsthistorischen Interessen wurde mir bald bewußt, daß die abendländische Malerei mindestens seit Giotto, etwa seit 700 Jahren, die Komposition zum Thema der malerischen Auseinandersetzung gemacht hatte. Selbst Picasso hat die europäische Malerei auf seine Weise wiederholt. Auch für ihn war die Komposition ein Thema. Selbst noch beim Kubismus ist das der Fall, wo diese nach ihrer Auflösung in Vibration geriet und sich in ein Energiefeld verwandelte.

Aufgrund dieser Phänomene fragte ich mich, wie es in der europäischen Kunst weitergehen soll. Was kannst du, Heinz Mack, noch tun, nachdem in den zwanziger Jahren in Rußland eine so starke malerische Vitalität ausgebrochen war und bereits alles gemalt worden ist? Malewitsch hatte das Bild so weit reduziert, daß ein weißes Quadrat auf einem weißen Feld nur noch mit größter Aufmerksamkeit sichtbar war. Was später bei Yves Klein geschah, war da längst antizipiert. Die reine Monochromie. Die Leere, die ich vor der Frage, was noch zu tun sei, empfand, setzte meine Beziehung zum asiatischen Denken in Bewegung. Das asiatische Denken schlägt dem Meditierenden vor, erst einmal nichts zu tun. Er soll nur ein- und ausatmen, solange er das durchhalten kann. In diesem inneren Gleichgewicht und der harmonisch ausbalancierten Ruhe, die sich dabei einstellt, entsteht, willentlich oder nicht, eine Unruhe. Diese Unruhe der Ruhe oder diese Ruhe der Unruhe ist ein europäisches Phänomen. Die Frage, was ich noch machen kann, war hochvirulent. Da habe ich mich in meiner Imagination in die Wüste begeben. Das war eine Flucht vor der abendländischen Kunst. Ich wollte neue Räume aufsuchen. Mir wurde bewußt, was bereits die Futuristen verkündet hatten: daß die Museen Friedhöfe sind. Heute bin ich in 120 Museen vertreten. Das habe ich mir damals weiß Gott nicht gewünscht. Ich wollte raus aus den Museen, wie Günther Uecker wollte ich an die frische Luft. Ich wollte meiner Imagination einen Freiraum geben. Da war die Wüste das nächstliegende als Utopie. Wieland Schmied sagte eines Tages über meine Utopie in der Sahara, sie sei gescheitert. Er war allerdings so freundlich, hinzuzufügen: „aber auf hohem Niveau“. Zum Begriff der „Utopie“ gehört, daß sie in dem Moment, wo sie in Erfüllung gehen könnte, etwas verliert, was sie zutiefst ausmacht, nämlich ihre Dimension eines offenen Horizonts. Dieser stellt eine enorme künstlerische Provokation dar. Ich habe es einmal so formuliert: Wer sich in die Wüste begibt, muß damit rechnen, daß er zeitweilig Begleitung haben kann. Diese Begleiter hießen Günther Uecker und Otto Piene. Doch irgendwann kam dann auch für uns als Künstlergemeinschaft der Tag, wo der gemeinsame Weg, der außerordentlich sinnvoll und fruchtbar, menschlich berührend und freundschaftlich und von blindem Vertrauen beseelt war, endete. Diese wunderbare Künstlerfreundschaft, die mir in meiner Isolation sehr geholfen hat, war etwas, woran ich mich halten konnte. Doch das hörte eines Tages auf. Irgendwann kapiert der Künstler in seiner hochexistentiellen Situation, daß er nun ganz alleine, auf sich gestellt und ohne Wegweiser seinen Weg durch die Wüste suchen muß. Da ist keiner mehr, der sagt, wo es lang geht, ob rechts oder links, geradeaus oder wieder zurück. Es gibt keinen Kompaß. Das ist eine andere Metapher für Leere. Der unendliche Raum der Imagination namens „Sahara“ oder „Wüste“ will bestanden sein. In dem Aufsuchen solcher Reservate sehe ich auch die Möglichkeit, eine Welt zu betreten, die gegenüber den Regionen, in denen wir leben, einen großen Vorteil hat. Sie ist nicht so okkupiert von einem korrupten und verrotteten Zivilisationsinventar. In unserer gegenwärtigen Welt, die vollkommen materialisiert, kommerzialisiert und produktorientiert ist, ist es kein Vergnügen, Künstler zu sein. Insofern lasse ich mir nicht so schnell von Zeitgenossen auf den Kopf zusagen, meine Utopie sei reine Träumerei. Ich zitiere gerne Seneca, der vor 2 000 Jahren formulierte: „Nur wer wach ist, kann über seine Träume berichten.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.