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Cover Lettre International 64, Lila Polenaki
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Inhaltsverzeichnis

LI 64, Frühjahr 2004

Chinesisches Werkzeug

Eine fernöstliche Denkposition zur Archäologie des Abendlandes

Roman Herzog: Sie arbeiten seit den achtziger Jahren als Sinologe und Philosoph an einer Neubestimmung des abendländischen Denkens, indem Sie versuchen, von China aus das Abendland neu zu befragen. Wie sind Sie zu Ihrer Methode eines Umwegs über China gekommen?

François Jullien: Ich bin Philosoph und komme von Griechenland her. Nach der École Normale Supérieur entschloß ich mich, einen Seitenweg über China einzuschlagen, um eine neue Perspektive auf das europäische Denken zu gewinnen und es von diesem Außen her zu befragen: Eine Position des Denkens zu finden, scheint mir wichtig. Ich habe China gewählt, weil das chinesische Denken gegenüber dem europäischen das am radikalsten äußerliche ist. Wenn man Europa verlassen möchte, ist es notwendig, sich aus der indoeuropäischen Sprachtradition herauszubegeben. Deshalb war für mich das Sanskrit ausgeschlossen. Es ist auch notwendig, die geschichtlichen Verbindungen zu überschreiten, wodurch die arabische und die hebräische Welt ausgeschlossen wurden. Weil ich Philosoph bin und kein Anthropologe, war es für mich auch notwendig, einen schriftlich festgehaltenen und kommentierten Kontext des Denkens zu haben. Da ich diesen drei Bedingungen einer sprachlichen und geschichtlichen Andersartigkeit sowie einer explizierten Denktradition Rechnung tragen wollte, blieb nur China übrig. Pascal fragt in einer schönen Formulierung in den Gedanken über die Religion, was glaubwürdiger ist, Moses oder China? Mir gefällt daran die Alternativdimension – dieses hier oder jenes dort. Moses ist die große Figur des Monotheismus, Symbol der religiösen Abenteuer Europas. Demgegenüber hat man in China nicht Konfuzius, Laotse oder einen anderen Weisen, sondern einen Denkraum. Obwohl Pascal von China fast nichts wußte, sah er, welche Objektivierungskraft es gegenüber dem europäischen Denken besitzt. Pascal schrieb: "Sie sagen, China verdunkele, aber suchen Sie genau dort den Zugang." Eben dieses Außen Chinas erschien mir wertvoll. Das europäische Denken hört nicht auf zu oszillieren zwischen den beiden Quellen der Griechen – also dem logos und der Philosophie – auf der einen Seite und der Offenbarung Gottes in der hebräischen und christlichen Variante auf der anderen. Das Angenehme an China ist, daß es andere ursprüngliche Worte liefert als die unseres biblischen Denkrahmens. Es gab also einen theoretischen Reiz. Es war keine Faszination durch die Distanz oder die Differenz, keine Bewunderung einer Utopie. Wenn Philosophie bedeutet, anders zu denken, und wenn jeder Philosoph nein sagen muß zu seinen Vorgängern, dann hat China mir ein Ensemble von Möglichkeitsbedingungen dieser Andersartigkeit des Denkens gegeben. Es handelt sich um eine strategische Verwendung Chinas. Deshalb habe ich diese Form des Umwegs und der Rückkehr konzipiert: des Umwegs, um dem Denken ein Gefühl der Fremdheit zu geben, um die Tradition des europäischen Denkens, der Philosophie, des Seins, Gottes, des Ideals der Freiheit und so weiter in Frage zu stellen und zu ermitteln, inwieweit wir uns unwohl fühlen, wenn all das nicht gegeben ist; und die Form der Rückkehr oder des Zugangs, um zu den Voraussetzungen des europäischen Denkens vorzudringen und um es in einer Weise zu befragen, wie es sich selbst nicht befragen kann. Ich versuche über China die Voraussetzungen der europäischen Vernunft in den Blick zu bekommen, worauf sie sich stützt und womit sie verbunden ist. Es ist der Versuch, das Ungedachte, auf das sich das Denken stützt, besser zu erfassen.

Ist es überhaupt möglich, von dem "chinesischen Denken" zu sprechen?

Ich spreche verkürzt von dem "chinesischen Denken". In meinen Büchern gibt es immer den Bezug auf einen bestimmten Autor und Text. Ich hasse interkulturelle Generalisierungen wie die Pest, links Europa und rechts China, Ost und West. Ich bin Philologe und Philosoph. Als Philologe bin ich früh auf die Komplexität eines singulären Sinns gestoßen, und als Philosoph habe ich Abstand genommen, um vom Außen dasjenige in den Blick zu bekommen, was ich von Innen heraus nicht sehen kann. Auch innerhalb Europas kann ich nicht von dem "europäischen Denken" sprechen, denn es ist sehr vielfältig, und zudem wurde es durch seine Geographie und Geschichte verändert. Man kann aus dem Inneren heraus also nicht sagen, dies oder jenes sei europäisch. Wenn ich von China aus den Okzident betrachte oder umgekehrt, kann ich durch diese Exterritorialität, die mir das jeweils andere Denken ermöglicht, dennoch treffend von dem "chinesischen" oder dem "europäischen Denken" sprechen, denn was ich vom Außen her sehe, kann ich nicht aus dem Innern heraus erkennen. Durch das Außen Chinas sehe ich in bezug auf Europa eine Kohärenz oder ein Einverständnis unter unseren großen Philosophen, eine Art Fundament des europäischen Denkens. Ich habe vor einigen Jahren das Buch Vom Wesen des Nackten geschrieben, über das Nackte in der Kunst, vor allem aber über das Warum des Nackten; wodurch es ermöglicht wird und welches seine Geschichte ist. In Europa wurde der Glaube, daß unsere Form der Kunst vom exponierten Körper des Menschen ausgehend entstanden ist, als Evidenz betrachtet. Die Abwesenheit des Nackten in China ist auffällig und brachte mich dazu, über die Unmöglichkeit und die Bedingungen der Unmöglichkeit des Nackten in China nachzudenken, was mir wiederum erlaubte, über die Möglichkeitsbedingungen des Nackten in der europäischen Kunst zu reflektieren. Das Nackte ist sehr europäisch. In China wurde das Nackte in der Kunst nicht als Möglichkeit entwickelt. Der Körper wird dort nicht anatomisch, sondern energetisch betrachtet, wie eine Art Sack, der durchlässig ist für die Energiezirkulationen, die beispielsweise der Akupunkteur in den Blick nimmt. Das Nackte beruht auf einer Modellbildung, in China aber wurde nicht modelliert, sondern schematisiert. Das ist etwas anderes, so wie die Schrift in Bildzeichen etwas ganz anderes ist. Das Nackte entstand aus der Mathematisierung, dem Vermessen der Bewegungen und der Proportionen und ihrer Bewertung – das klingt banal, ist aber spezifisch, denn so wurde eine neutrale Idee des Schönen etabliert. Und dann stellte ich fest, daß es in China diese Idee des Schönen gar nicht gibt. Für uns ist das Nackte der Träger des Schönheitsideals der Form und des Seins – deshalb heißt mein Büchlein Vom Wesen des Nackten, denn vom Nackten gelangt man zur Ontologie. Das Nackte ist eine Abstraktion der Wissenschaft, wie Descartes in seiner Zweiten Meditation sagt: "Wenn ich an die Frauen denke, denke ich nackt an sie." So entstand ausgehend vom Nackten das abstrakte Denken vom Menschen. Aber im Grunde handelt es sich nur um eine Verdeckung. Man dachte immer, das Nackte sei das Natürliche. Ich glaube, es ist umgekehrt: Das Ereignis des Nackten verdeckt, es integriert den Körper nicht in die Natur, sondern unterstreicht seine Äußerlichkeit. Das Nackte selbst bedeutet seit den Griechen keine Integration des menschlichen Körpers in die Natur, sondern eine Betonung seiner Exterritorialität. Das ist spezifisch europäisch. Vor und nach den Griechen, in Pergamon, Rom und bei den Christen, wurde diese spezielle Sicht auf den Körper, dieses Studium des Nackten, weitergereicht, in der Bildhauerei, der Malerei und der Photographie bis zu den heutigen Akademien der Schönen Künste. Diese anatomische Perspektive des Nackten ist ein europäisches Epistem. Wie hätte ich das aus dem Innern heraus feststellen können? Im Inneren Europas kann ich das Spezifische nicht betrachten. Foucault dachte, daß mit seinem Denken, dieser Idee der Episteme und einer Archäologie des eigenen Denkens, ein Bruch mit dem europäischen Denkens vollzogen werde. Er wollte so die Tradition überwinden. Ich denke, daß Foucault mit seinem Denken eben keinen Bruch vollzogen hat, sondern sich im Innern des Epistems bewegte. Wenn ich aber über China Europa betrachte oder umgekehrt, kann ich, glaube ich, das Wesen des europäischen oder des chinesischen Denkens herausstellen und so dem Begriff der "Tradition", von dem Foucault sich befreien wollte, einen neuen Sinn geben.

Kann oder will "China" das Nackte nicht denken? Ist es eine bewußte Entscheidung oder eine mangelnde Kapazität?

Es ist eine Frage der Ergiebigkeit des Denkens. Es gibt in Europa zahlreiche Annahmen vom Nackten, die unsere Auffassung von ihm präjudizieren. Demnach hat es ein Wesen. Die europäische Anatomie etabliert ein Modell, wonach der Körper aus einzelnen Teilen besteht, die in ihrer Gesamtheit gesund sein müssen. Aus dieser Abstraktion, die dem Körper einen spezifischen Sinn beimißt, erwächst die Wissenschaft vom Menschen. Dabei werden diese impliziten Vorentscheidungen des Denkens offensichtlich.

In China wurde eine andersartige Ergiebigkeit des Denkens gewählt: Man hat keinen Bezug zu den Teilen und dem Ganzen, sondern zur Disposition. Es gibt keine Präsenz des Seins. Der Körper wird nicht als anatomische Ansammlung angesehen, sondern als energetische Kapazität. Es sind unterschiedliche Denkweisen mit einer je verschiedenen Ergiebigkeit. Das chinesische Denken kannte und hatte die Möglichkeiten des europäischen Denkens, zum Beispiel die Idee der Wahrheit. Aber diese Möglichkeit hat es nicht interessiert, denn es verfügte über eine andersartige Logik, deren Ausbau ihm nützlicher erschien. Die MohistenVerweis_Endnoteparanumonly am Ende der chinesischen Antike waren eine Art chinesische Griechen. Sie dachten die Geometrie, die Optik, die Definition, den Punkt und die Linie, die Widerlegung im ideologischen Disput, und sie näherten sich einem Konzept der Wahrheit als Angemessenheit des Geistes, im Sinne einer adaequatio res et intellectus. Doch dieses Denken fand sich nur versteckt und hat sich quasi nicht weiterentwickelt. Was weiterentwickelt wurde, war die Disponibilität des Weisen, die Offenheit gegenüber all dem, was möglich ist, die Nichtzerstückelung. Das schien dem chinesischen Denken tragfähiger und fruchtbarer, und deshalb hat es diese Richtung ausgebaut. Das ist in sehr knappen Worten, was ich in Der Weise hängt an keiner Idee entwickle.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.