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Cover Lettre International 55, Roberto Cabot
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Inhaltsverzeichnis

LI 55, Winter 2001

Eis und Heide

Aufzeichnung eines Wanderers durch nordisches Gelände

Steine habe ich überall gesammelt und nach Hause getragen. In Aaremaa. In Armenien. In Irland. In Britisch Kolumbien. In Armenien habe ich sogar ein Gedicht geschrieben, das einzige Gedicht, das ich jemals in russischer Sprache schrieb: "Stikhi ob armianskom kamne". Als ich einen Trinkspruch ausbringen sollte, trank ich auf Armeniens Steine. Steine werden zu Sand, Sand wird zu Erde, und aus der Erde wächst das Essen und der Wein, der die Armenier zu Armeniern gemacht hat. Ein Schriftsteller aus Leninakan (heute Gyumri) versprach, er werde versuchen, mein Gedicht in armenischer Übersetzung zu veröffentlichen. Ich weiß nicht, ob er es getan hat, ich weiß noch nicht einmal, was aus ihm und den anderen Menschen geworden ist, denen ich in dieser Stadt begegnete, nachdem das große Erdbeben Armenien traf und die Stadt Leninakan in einen Schutthaufen verwandelt wurde, genauso wie meine Geburtsstadt nach dem Nordischen Krieg, wie es ein altes Klagelied in meinem heimatlichen Dialekt beschreibt.

Es gibt viele Steine in Armenien, aber ich hatte nicht viel Zeit für sie, wie immer auf meinen Reisen. Einmal bat ich einfach den Fahrer, kurz anzuhalten: so konnte ich aus dem Auto steigen und ein paar Schritte in die Berge tun, um nach Steinen Ausschau zu halten.

Im Grunde besteht Armenien vollständig aus Stein, es ist ein einziger riesiger Felsen, eine Felseninsel im Nahen Osten, ein Massengrab an Geschichte. Armenische Steinkreuze, hackars, ähneln den irischen. Armenien selbst ähnelt Irland. Auch Irland ist eine Insel, eine Felseninsel. Von dort habe ich Kiesel nach Hause gebracht, die ich am Strand gesammelt hatte, und ein paar Muscheln. Die anderen wollten etwas essen gehen. Irgendwie wollte ich nicht mitkommen, ich wollte am Strand entlanggehen und nach Steinen suchen. Es war Ebbe, und ich fand ein paar hübsche Kiesel und Muscheln. Das war an der offenen Atlantikküste, an einem der westlichsten Orte Europas, wo die Sonne in den Ozean versinkt und die Seelen der Toten sich auf die Reise über das Meer machen, nach dem Glauben der alten Kelten und wahrscheinlich auch ihrer modernen Nachkommen.

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Zweimal bin ich in Lappland gewesen. Das erste Mal kurz nach unserer Hochzeit. Tiia war schwanger, aber sie kam trotzdem mit. Sie war jung, zäh und glücklich. Wir überquerten ein paar Bergpässe und sammelten Steine – weiße Flintsteine mit schwarzen und gelben Flechten darauf. Solche Flechten habe ich sonst nirgends gesehen. Einer dieser Steine wog mehrere Kilo. Bei einem Umzug ging er verloren; den anderen, kleineren haben wir noch.

In Lovozero, Luuiavr in der samischen Sprache, begegneten wir einigen Samen. Die meisten waren betrunken. Die Russen und Komis lachten über die kleinen Samen, die im Laden umhertorkelten. Wir kamen in ein Haus, wo alte Frauen sangen. Die eine sang ihr persönliches Lied, ihr Schicksalslied, wie es in der ethnographischen Literatur heißt, und dann brach sie in Tränen aus.

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Hier in Estland liegt der Felsgrund tief unter der Erde. Die Steine, die man bei uns findet – Kiesel, Schleudersteine, Felsblöcke – haben ihren Ursprung nicht hier. Sie kommen von anderswo, aus Finnland, aus Schweden, aus Lappland. Selbst der Sandstein und der Lehm kommen von dort, aus den Bergen Fennoskandias, von wo die devonischen Flüsse sie hertrugen. Der Sand sogar kommt von dort, wie auch die Erde. Auch wir sind ein Produkt der ständigen Arbeit der erodierenden, neptunischen Kräfte. Wir sind neptunische Nationen, wohlweislich anders als die plutonischen Nationen, deren Heimatland ein Tummelplatz chthonischer Kräfte an den Ufern des Mittelmeers ist, in Armenien und anderswo.

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Eines der berühmtesten Gebäude meiner Heimatstadt Tartu war die Steinerne Brücke, eine Brücke aus behauenen Granitblöcken. Sie war gebaut worden als Geschenk der Kaiserin Katharina an die Stadt, nachdem Tartu durch ein großes Feuer verwüstet worden war. Im Zeitalter des Automobils taugte die alte enge Brücke nicht mehr für den Verkehr, aber eine Buslinie konnte sie noch überqueren. 1941, als sich die deutschen Armeen näherten, sprengten die Russen auf dem Rückzug die Brücke. Die Leute sagen, daß die Blöcke mit Blei verfugt waren; um es zu schmelzen, verbrannte man große Haufen Brennholz darauf, einen Tag und eine Nacht lang. Man verwendete so viel Sprengstoff, daß die Blöcke über das ganze Stadtzentrum verstreut wurden. Als ich ein kleines Kind war, lagen noch einige auf den Bürgersteigen herum. Später schaffte man sie fort.

Wahrscheinlich wurden sie zu Schotter zermahlen. Es heißt auch, vor der Explosion seien zwar die Leute aus der Nachbarschaft evakuiert worden, aber die Soldaten hätten einen Mann vergessen, der nahebei in einem kleinen Pumpwerk arbeitete. Sowohl das Gebäude als auch der Mann überlebten, aber er war von der Explosion taub geworden. Es heißt auch, daß bei der Explosion einige Menschen ums Leben kamen. Nur einer der Fälle, von denen ich hörte, scheint gesichert: eine Frau eilte über die Brücke nach Hause, aber sie kam niemals an.

Zum gleichen Zeitpunkt, als die Brücke gesprengt wurde, wurden 192 Gefangene in dem Gefängnis umgebracht, das die Behörden nicht mehr hatten evakuieren können. Zu ihnen gehörte Leo, ein Neffe meiner Mutter. Er war durch reinen Zufall verhaftet worden; er besuchte gerade den Nachbarn, als der NKWD kam, um diesen Mann zu verhaften. Leo wurde mitgenommen. Später wurden die Körper der ermordeten Menschen aus dem Gefängnisbrunnen und der Kalkgrube geholt. Das wurde von neuen Gefangenen erledigt; wirkliche und angebliche Kommunisten, von denen später einige ihrerseits hingerichtet wurden. Es heißt, die in dem Brunnen und besonders in der Kalkgrube gefundenen Leichen seien so entstellt gewesen, daß man einige nur anhand ihrer Kleidung hätte identifizieren können.

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Wir haben das alte Bauernhaus vor neunzehn Jahren gekauft. Sein letzter Bewohner war ein alter Junggeselle, der in der Küche schlief und kochte – die anderen Räume waren nicht beheizt worden, und die Böden waren am zerfallen. Der Herd zog nicht, die Decke war verrußt und voller Spinnweben. In der unmittelbaren Umgebung des Hauses standen keine Blumen, nur ein paar große Eschen und in der Nähe ein paar Fliederbüsche. Die Zäune verrotteten, die Dächer leckten. Schon am ersten Abend wurde mir klar, daß ich nun die Zäune, die Decken, die Böden, die Leitungen, den Brunnen und die Latrine reparieren und ausbessern müßte, und daß dieses Reparieren und Ausbessern niemals ein Ende finden würde. Ich begriff aber auch, daß unser ganzes Leben aus solchem Reparieren und Ausbessern besteht: der ständige Versuch, einen alternden Körper, ein nachlassendes Gedächtnis, zerfallende Kleider und ein verfallendes Heim in Ordnung zu halten, wenn man denn ein Heim hat. Das Leben ist nichts anderes als eine endlose Reparatur.

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Dieses alte Bauernhaus ist nun unser Zuhause, für mich und meine Familie. Ich habe die meisten Dächer repariert, zur Isolierung weiche Pappe und Sperrholzplatten an die Wände genagelt, neue Böden gelegt und eine Brunneneinfassung aus Beton gegossen. Ein Mann mit einem Bagger hob mir hinter der Sauna einen Teich aus, und auf dem Grundstück der ehemaligen Besitzer pflanzte ich etwa hundert Bäume und Sträucher. Am schnellsten wachsen die Lärchen: einige erheben sich bereits über das Dach; und auch die Birken, Eichen und Kiefern sind schon so groß, daß die Kinder in ihnen herumklettern können. Ich habe auch ein paar exotische Bäume gepflanzt. Einige sind gut angewachsen, zum Beispiel die Drehkiefer, Pinus contorta, die aus Nordamerika kommt und sich von unseren Kiefern vor allem dadurch unterscheidet, daß ihre Nadeln, Schößlinge und sogar Zweige verdreht sind. Die japanische Korkeiche war bereits ein großer Baum, als sie vom Winter beschädigt wurde. Die meisten ihrer Aste starben ab; nur ein kleinerer ist noch am Leben. Mehrere andere Bäume haben ebenso unter der Kälte gelitten. Die Tannen, die ich am liebsten mag, werden oft von Rehböcken beschädigt, die ihr Gehörn an den Bäumen scheuern und dabei häufig die Rinde abschaben: so markieren sie ihr Gebiet. Manchmal greifen sie auch Eichen, Linden und Lebensbäume an, aber diese erholen sich besser von ihren Verletzungen.

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In Oslo besuchten wir das Museum für Wikingerschiffe, wo neben den restaurierten Schiffen viele Objekte ausgestellt sind, die in den Schiffen von Oseberg, Gokstad und Tune gefunden wurden; in diesen Schiffen waren die Adligen beigesetzt worden. Fast alle diese Objekte – die gesamte künstliche Umgebung der frühen nordischen Menschen – waren aus Holz: Teller, Wannen, Fässer, Stühle, Wagen, Schlitten, Drachenköpfe, Tassen, Löffel, Betten, Häuser ... In einem Schaukasten mit Objekten aus dem Oseberg-Schiff lag ein rundes Stück Holz mit unbekanntem Verwendungszweck, das die Runeninschrift LITILIUSM trug, die richtig LITILL VISS M hätte geschrieben sein müssen – "Wenig weiß der Mensch" – und auch diese Interpretation ist keineswegs gesichert. Auf einem Schiff sahen wir das Bild eines kleinen Mannes, der mit gekreuzten Beinen dasaß; das Schiff wird im Scherz "der Buddha-Eimer" genannt. Wer weiß, vielleicht kommt dieser kleine Mann tatsächlich aus Mittelasien und vielleicht kommt auch das Tierornament der Wikinger von dort. Dann könnte sein Modell durchaus eine Buddha-Statue aus dieser Region gewesen sein, neu interpretiert und nachgeschaffen von einem einheimischen Handwerker.

Von den Schiffen selbst war ich tief beeindruckt. Sie waren so perfekt gebaut, daß es mit den Werkzeugen und Materialien jener Zeit nicht besser hätte gemacht werden können. Bei den Wikinger-Schiffen handelt es sich um ausgeklügeltste Eisenzeit-Technik, und es ist kein Wunder, daß die Menschen, die über sie verfügten, fast ganz Europa von Kiew bis Irland beherrschten. Einer meiner norwegischen Freunde erzählte mir, daß unter den Leuten, die die Schiffe bauten, auch Samen gewesen seien. Die Samen waren in einigen Teilen Norwegens als hervorragende Bootsbauer berühmt.

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Ich mag Lebensbäume oder Thujen, auch wenn die meisten meiner Freunde nichts für sie übrig haben. Sie halten Lebensbäume für Friedhofsbäume. Für mich sind sie vor allem nordamerikanische Bäume, und einer von mehreren Orten, an denen ich mich sehr zu Hause gefühlt habe, war Vancouver an der kanadischen Pazifikküste. Zum Teil fühlte ich mich deswegen so zu Hause, weil ich dort viele jener Bäume antraf, die in Amerika auch Zedern genannt werden, oder Douglasien, Schierlingstannen, Zypressen und Tannen. All diese Bäume haben weiche Nadeln, und die ozeanische Luft an der Pazifikküste ist sanft und mild, so daß sie gut zu atmen ist und man sich wohl fühlt. Atmen ist fast dasselbe wie sein: Das haben mich meine Kontakte zu chinesischen Taoisten und Bücher über deren körperlichen Übungen – taiji und qugong – gelehrt.

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In Wirklichkeit ist das alte Bauernhaus, der Baumgarten und der Garten für mich mehr als nur ein Zuhause. Eigentlich habe ich viele Orte, wo ich zu Hause bin, ich weiß nicht einmal wie viele. Ich habe sie zu finden versucht, auf verschiedene Weise. Manchmal lasse ich mir von Bäumen helfen. Finde ich einen Baum, der mir gefällt, dann muß der Platz, wo er wächst, ein Zuhause sein. Das gilt natürlich nicht nur für Bäume, sondern auch für andere Pflanzen, für die natürliche Umgebung insgesamt, für die Landschaft. In Bäumen zeigt sich der Geist des Ortes, der Genius loci, mit größerer Klarheit und Kraft als in anderen Pflanzen, stärker sogar als in Tieren und Menschen. Vielleicht mit ebensoviel Kraft wie in Steinen.

Ich spüre, daß ich wohl einem Ökosystem angehöre, in ihm meinen Platz habe, aber ich habe es noch nicht gefunden, oder nur Teile, Fragmente davon. Ich weiß nicht einmal, ob dieses Ökosystem in der heutigen Welt überhaupt existiert. Vielleicht ist es ausgestorben, vielleicht ist es nur eine Schöpfung, ein Konstrukt meiner eigenen Phantasie, zusammengesetzt aus Pflanzen, Steinen und Landschaften, die in der Natur niemals gemeinsam aufzufinden wären. Die Suche nach meinem Zuhause, nach meinem eigenen Ökosystem ist dann ebenso seltsam wie die Anlage dieses Baumgartens, in dem eine amerikanische Lärche, ein mandschurischer Walnußbaum, eine kaukasische Pterocarya und unsere heimische Birke nebeneinander wachsen. Die Tiefland-Birke nennen die Leute oft Hänge- oder Trauerbirke. Ist es nicht seltsam, daß diejenigen, die keine Lebensbäume mögen, mit Trauerbirken, Trauerulmen und -weiden keine Schwierigkeiten haben?

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Mein Haus, mein Baumgarten, ist eine Anthologie möglicher Heime, eine Sammlung von Orten, an denen ich mich zu Hause gefühlt habe, und diese Orte existieren vielleicht gar nicht, haben vielleicht niemals existiert. Einige von ihnen sind verschwunden: die Eiszeit, die Landwirtschaft, Wüstenbildung, Bergbau oder Kriege haben sie vollständig zerstört. Vielleicht würde ich mich am wohlsten in den Pflanzengemeinschaften des Tertiärs fühlen, im Paläozän, als Sequoien, Gingkos und Magnolien in Nordeuropa das Landschaftsbild bestimmten. Aber ich weiß es nicht und werde es wahrscheinlich auch niemals wissen. Wenn es stimmt, daß die Zeit nur nach vorne fließt. Aber was überhaupt bedeutet "Bewegung der Zeit"?

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Die Grashüpfer zirpen und sägen. Jede Nacht wird es lauter. Vielleicht höre ich sie nur immer genauer. Mehr und mehr weiße Nachtfalter fliegen gegen die Fensterscheiben. Kleine Nachtfalter, die aus der Dunkelheit kommen und in die Dunkelheit zurückkehren. In der Wand tickt manchmal der Totenuhrkäfer. Genau wie vor neunzehn Jahren, als wir zum ersten Mal hierher kamen.

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Auch meine Gedichte und Prosagedichte sind Versuche, ein Zuhause zu finden, Anthologien bestehender und nichtbestehender Heime. Wäre ich besser mit der Psychoanalyse vertraut, dann würde ich annehmen, dies rühre von der Tatsache her, daß ich als kleines Kind mein Zuhause verlor und in den Ruinen von Tartu in einer Wohnung zusammen mit vier oder fünf anderen Familien aufwuchs, und auf dem Land in den Häusern unserer Verwandten. Aber in Wirklichkeit sind die meisten Esten ohne Heim und Heimatland. Sie sind Emigranten, Flüchtlinge, verfolgt und als Fremde betrachtet selbst in dem Land, das ihr Heimatland sein könnte und sollte. Jahrhundertelang waren wir Stiefkinder im Land unserer Väter, verstoßen und verachtet von einer bösen Stiefmutter, ausgelacht und verhöhnt von ihren bösen Kindern. Dies erklärt viel, aber meine Leidenschaft für Bäume und Steine erklärt es nicht.

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Es gibt noch eine andere Art, nach deiner Heimat zu suchen: nach Pflanzen Ausschau zu halten, nach Arten, Gattungen und Familien, die sich wie du selbst verhalten, die eine Neigung zu den gleichen Orten haben wie du. Nach deiner eigenen Familie zu suchen unter denen, die ihre Namen von Carolus Linnaeus erhielten. Dich selbst mit Pflanzen zu identifizieren, dich als Pflanze zu betrachten oder zumindest als eng mit ihnen verwandt. Und dann zu schauen, wo ihre – will sagen deine – Verwandten wachsen, wie die Landschaft dort aussieht, welche Menschen dort leben, welche Sprache sie sprechen, welche Lieder sie singen. Auch das ist wichtig, wenn auch nicht so wichtig wie die Pflanzen selbst, die Flora und die Landschaft.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.