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Cover Lettre International 67, Arnulf Rainer
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Inhaltsverzeichnis

LI 67, Winter 2004

Beruf Reporter

Dabeisein, Sehen, Hören, Teilhaben, Reflektieren - Werkstattprotokolle

Der Journalismus gehört zu den gemeinschaftsabhängigsten Berufen, denn ohne die anderen können wir nichts vollbringen. Jemand, der nicht Anteil nehmen kann, wird in diesem Beruf Schwierigkeiten bekommen. Wir existieren nicht, wenn nicht andere uns helfen, sich beteiligen, ihre Meinungen und Gedanken äußern. Sich mit anderen zu verstehen ist die grundlegende Vorbedingung. Wir tun und sind das, was uns die anderen ermöglichen. Keine moderne Gesellschaft kann ohne Journalisten existieren, aber Journalisten können auch nicht ohne die Gesellschaft existieren.

In vielen Fällen sind wir Situationen sklavisch ausgeliefert, in denen wir unsere Selbständigkeit einbüßen und davon abhängig sind, daß uns jemand zu einem abgelegenen Ort bringt oder sich entscheidet, mit uns über das Thema zu sprechen, das wir recherchieren. Ein Journalist darf sich nicht jenen überlegen fühlen, mit denen er arbeiten will: Er muß ein Gleichgestellter sein, damit er auf die anderen zugehen, sie verstehen und ihre Erwartungen wiedergeben kann.

Der beste Weg, um Informationen zu erhalten, führt über ein freundschaftliches Verhältnis. Ein Journalist kann nichts allein tun, und wenn der andere die einzige Informationsquelle ist, muß man mit ihm eine Verbindung herstellen, sein Vertrauen gewinnen, eine gewisse Empathie mit ihm erreichen.

Dieser Wesenszug steht in Zusammenhang mit einem der großen Fragen unseres Berufs: Was geschieht, wenn der andere eine verzerrte Sichtweise der Tatsachen hat oder zu manipulieren versucht? Es gibt kein Rezept, um das zu vermeiden; alles hängt ab von der Situation, von unendlich vielen Dingen. Wenn wir Zeit haben, kann unsere Gegenmaßnahme darin bestehen, die größtmögliche Zahl von Meinungsäußerungen zusammenzutragen, um sie auszubalancieren und eine Auswahl treffen zu können.

Wir arbeiten mit der schwierigsten Sache der Welt: dem Menschen. Mit unseren Worten können wir ein Leben zugrunde richten. Unser Beruf bringt uns für Stunden oder Tage an einen Ort, den wir wieder verlassen. Wahrscheinlich kehren wir niemals dorthin zurück, aber die Menschen, die uns geholfen haben, bleiben da, und ihre Nachbarn lesen, was wir über sie geschrieben haben. Wenn das, was wir schreiben, diese Personen gefährdet, können sie vielleicht nicht länger an diesem Ort leben, und wer weiß, ob es Orte gibt, wohin sie ausweichen können. Darum ist das Verfassen journalistischer Texte höchst problematisch. Wir müssen unsere Worte abwägen; jedes einzelne kann von den Feinden der betreffenden Leute falsch aufgefaßt werden. Unser ethischer Standpunkt muß auf der Achtung der Integrität und des Erscheinungsbildes des anderen beruhen. Ich betone noch einmal: Wir gehen fort und kommen nie wieder, aber das, was wir über die Menschen schreiben, bleibt mit ihnen für den Rest ihres Lebens zurück. Unsere Worte können sie zugrunde richten. Und im Allgemeinen handelt es sich um Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen.

Es gilt, Sensibilität und eine bescheidene Haltung gegenüber unserer Arbeit zu bewahren. Mit jedem Artikel, jeder Reportage, jedem Bericht beginnen wir wieder bei Null. Nicht einmal die Bücher, die wir schreiben, entgehen dieser Regel: Keines wird uns eine große Hilfe für das nächste sein. Niemals können wir zufrieden sein. In diesem Beruf hört das Lernen nie auf. In der Medizin, in den technischen oder Verwaltungsberufen kann man sagen, daß die Karrieren an einem bestimmten Punkt abschließen; für den Journalismus gilt das nicht, weil dieser Beruf immer neuen Tatsachen und Problemen gegenübersteht. Solange sich die Welt entwickelt und bewegt, sind wir in diese Wandlungsprozesse einbezogen. Die Gesellschaft erwartet, daß wir ihr erzählen, was vor sich geht, damit sie Nachrichten zu interpretieren vermag. Das verpflichtet uns, ständig und überall hinzuzulernen. Der Journalist wildert in allen menschlichen Wissenschaftsbereichen.

Anthropologie, Soziologie, politische Wissenschaften, Psychologie, Literatur … Wir müssen jede Disziplin studieren, die wir benötigen. Es läßt sich leicht durchschauen, wie wir schreiben, forschen, recherchieren und überlegen. Jeden Tag stimmt der Leser über unser berufliches Schicksal ab, nicht alle vier oder sechs Jahre, wie bei einem Präsidenten.

Der Leser mit seinen Meinungen und Vorlieben ist eine aktive Person, die die Zeitung kauft und ihre Zeit damit verbringt, unsere Texte zu lesen, weil sie darauf vertraut, darin Antworten auf ihre Fragen zu finden. Wenn der Leser solche Antworten nicht erkennt, wird er die Zeitung oder den Journalisten nicht mehr lesen; wenn er sie findet, ist er sehr dankbar und wird unseren Namen wiedererkennen. So erwirbt man sich Reputation.

Infolge der technologischen Revolution hat sich unser Beruf verändert. Die elektronischen Kanäle ermöglichen es, Nachrichten schnell und problemlos weltweit zu befördern: Jahrzehnte zuvor war es ein ganz eigenes Thema, wie es ein Journalist schaffte, eine Meldung an ihren endgültigen Bestimmungsort zu befördern. Egon Erwin Kisch schrieb in seinen Erinnerungen, daß die Arbeit, die Nachricht zu übermitteln, manchmal faszinierender als die Reportage selbst wirkte. Mit der technologischen Umwälzung hat dieses Thema aufgehört zu existieren.

Es gibt einen vielleicht wichtigeren Grund für den Wandel unseres Berufs: Die Nachrichten sind zu einem Geschäft geworden. Auf die Entdeckung des ungeheuren wirtschaftlichen Wertes der Nachrichten ist das Eindringen des Großkapitals in die Medien zurückzuführen. Früher praktizierte man den Journalismus aus Ehrgeiz oder wegen seiner Ideale; dann stellte man fest, daß Nachrichten ein Unternehmen sein konnten, bei dem sich große Summen verdienen ließen. Das veränderte die Arbeitsbedingungen von Grund auf.

Das Großkapital spaltete den Nachrichtenbereich in zwei ungleiche Sektoren: die großen Multimediakonzerne und die kleinen marginalisierten Medien. Die Führung der großen Multimediakonzerne wurde von Personen übernommen, die nicht aus dem Journalismus kamen und ihn eher als Instrument betrachteten, um Profite zu erwirtschaften. Darum fehlt den Reportern eine gemeinsame Sprache mit den Medienzaren, die oft nicht einmal den Wortschatz des Berufs beherrschen. Es entstand eine Kluft zwischen den Eigentümern und Verwaltern der Medien und uns, den Journalisten, weil sie andere Interessen und Ziele verfolgen. Ein Reporter, der von einer Reise zurückkehrt, wird von seinem Chef heute nicht gefragt, ob die Nachricht, die er mitbringt, wahr ist, sondern ob sie interessant ist und ob er sie verkaufen kann. Darin besteht die tiefgreifende Veränderung in der Medienwelt: eine Ethik wurde durch eine andere ersetzt.

Unser Beruf beruhte traditionell auf Wahrheitssuche: Der Wert der Meldung oder des Textes bestand darin, die Wahrheit zu berichten. Oft funktionierte die Information als Waffe im politischen Kampf um Einfluß und Macht. Nach dem Eindringen des Großkapitals in die Medien wurde dieser Wert ersetzt durch die Suche nach dem, was sich verkaufen läßt. So wahr auch eine Information sein mag, sie bleibt wertlos, wenn sie nicht das Interesse eines Publikums wecken kann, das seinerseits zunehmend launenhaft reagiert.

Der Wert des Wortes hat sich trivialisiert. Das Problem der Kommunikation heute ist nicht, daß man die Wahrheit unterschlägt, sondern daß dem Wort nicht mehr das einstige Gewicht zukommt. In der kommunistischen Ära hatten die sowjetischen Presseorgane vier Seiten, und wenn dort ein kritischer Artikel erschien, konnte jemand in einem Konzentrationslager landen. Jedes Wort hatte den Wert, über Leben oder Tod zu entscheiden. Jetzt kann man über alles Mögliche schreiben, und in einem Kontext, der von Überfülle und Unterhaltungsbedürfnis geprägt ist, kümmert sich niemand darum. In Polen schreibt die Presse, daß ein Minister ein Lügner sei, und nichts geschieht; der Minister macht weiter, was er will, und bleibt unerschütterlich auf seinem Posten.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.