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Cover Lettre International 76, Anne-Mie van Kerckhoven
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LI 76, Frühjahr 2007

Morgenspaziergang

Der große polnische Reporter besucht in Warschau Orte der Kindheit. (Text aus dem Nachlaß des Autors)

Ich erwache am Morgen, trinke Kaffee, dann gehe ich spazieren. Es ist sieben. Von der Straße, in der ich wohne, der Prokuratorska, gehe ich in Richtung Wawelska. Ich komme am Britischen Konsulat vorbei, wo um diese Zeit schon eine Menschenmenge vor dem Tor steht. Die Leute übernachten hier, sie schlafen im Auto, auf der Wiese, auf Bänken – sie warten darauf, einen Antrag für ein Visum einreichen zu können. Wenn ich das sehe, weiß ich gleich, daß ich in der Dritten Welt bin. Solche morgendlichen Aufläufe gibt es weder in Oslo noch in Bern, es gibt sie jedoch in Kampala und in Kuala Lumpur.

Die Bewohner ärmerer Länder, wie zum Beispiel Polens, bieten ihre billige Arbeitskraft an, und die reichen Länder wehren sich dagegen, weil sie zu viele Anwärter haben. Hungrig, aber noch nicht so hungrig, daß sie sich nicht mehr rühren könnten (wie meine Armen aus der Sahelzone), stürmen die Arbeitsuchenden den Westen, wo man immer noch gut verdienen kann, wenn man nur einen Job findet. (Der Nachbar meiner Mama, Herr Kucharski, ein schon älterer Maurer, antwortet auf die Frage, ob er in seinem Leben noch einen Wunsch habe, ohne lange nachzudenken: Wissen Sie, ich möchte noch einmal so richtig schön verdienen!)

Die Sehnsucht, gut zu verdienen, ist nicht gleichbedeutend mit dem primitiven Wunsch, sich die Taschen zu füllen. Dahinter steckt vielmehr das Bedürfnis, sich zu beweisen, eine öffentliche Bestätigung zu erhalten, wieviel ich wert bin, welchen Platz ich in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehme. Die Frage nach dem Verdienst ist vor allem eine Frage danach, wie andere Menschen mich sehen und einschätzen, wie ich wahrgenommen und qualifiziert werde.

Gleich hinter dem Konsulat kreuzen sich die Wawelska und Aleje Niepodleglosci – an dieser Stelle laufen die Grenzen von drei Stadtvierteln zusammen: Mokotow, Ochota und Srodmiescie (Zentrum). Direkt vor mir, gegenüber dem Gebäude des Statistischen Zentralamtes, steht das Haus, in dem vor dem Krieg Andrzej Strug wohnte, der Autor von Menschen im Untergrund, dazu Großmeister der Freimaurer und Senator. In seiner Wohnung lernte der Dichter Witkacy Czes?awa Okninska kennen, die letzte Liebe seines Lebens. Das war im Jahre 1929. Zehn Jahre später, im September 1939, brachen die beiden nach Polessien auf, wo sie sich in einem Wald nahe des Dorfes Jezioro das Leben nehmen wollten (Okninska konnte jedoch gerettet werden).

Ich überquere die Wawelska und betrete die Grünfläche, die man Pole Mokotowskie nennt. In der Entfernung sehe ich das Gebäude der Nationalbibliothek – eine ewige Baustelle. Es ist bemerkenswert, daß man, bevor man noch mit dem Bau der Bibliothek begann, eine ganze Reihe von Gebäuden und soliden Baracken für die Verwaltung der Baustelle hinstellte, als ginge man von vornherein davon aus, daß die Errichtung dieses nicht allzu großen Gebäudes Jahre, ja Jahrzehnte in Anspruch nehmen werde. Und so kam es dann auch! In den Verwaltungsgebäuden sieht man vom frühen Morgen an Angestellte hin und her laufen, während auf der Baustelle nebenan, auf schon morschen Gerüsten, höchstens ein einzelner Arbeiter zu sehen ist, ein zweiter ist damit beschäftigt, in einer defekten Maschine eine Handvoll Beton anzurühren.

Nun (es ist Ende Mai) betrete ich die Grünanlage von Pole Mokotowskie. Hier, an der Kreuzung der Wawelska und Aleje Niepodleglosci, wurde im Jahre 1945 eine Siedlung kleiner hölzerner Einfamilienhäuser, genannt finnische Häuser, errichtet. Unmittelbar nach Kriegsende wurde uns eines dieser Häuser zugewiesen, weil mein Vater damals im Genossenschaftlichen Bauunternehmen beschäftigt war. Dieses kleine Häuschen, ohne Badezimmer und Zentralheizung, war ein Luxus, es war das große Glück, da wir (eine vierköpfige Familie) uns bis dahin in einer winzigen Küche zusammendrängen mußten, mitten in den Ruinen, auf dem Gelände der Lagerhäuser für Betonziegel in der Ulic? Srebrn?, in der Nähe des Eisenbahnknotens, den man Sibirien nannte (von hier wurden in früheren Zeiten die Menschen nach Sibirien verschickt).

Neben unserem Häuschen (die Adresse lautete: III. Kolonie, 6. Haus) gab es einen Sandhügel, von dem die Kinder im Winter mit dem Schlitten fuhren. Auf dem Hügel stand im Jahre 1935 die Lafette mit dem Sarg von Pilsudski. Von hier nahm der Marschall sein letztes Defilee ab, ehe sich der Trauerkondukt in Richtung Krakau, zum Wawel, in Bewegung setzte.

Ich schlage einen durch die Wiese führenden Pfad ein, den hohe Pappeln säumen. Die Gräser glänzen am Morgen silbrig vom Tau. Ich weiß noch, wie die Pappeln kurz nach dem Krieg gesetzt wurden, schwache, dünne Bäumchen, die jetzt zu dicken, hoch ragenden Stämmen herangewachsen sind. Dann kommt plötzlich eine Gruppe von Obstbäumen, Äpfel, Pflaumen und Birnen, die gerade in Blüte stehen und einen süßlichen, kräftigen Duft verströmen. Ein Obstgarten in einem öffentlichen Park? Ja, denn es sind die Bäume, die Herr Stelmach rings um sein Haus setzte, er war bei der Tramway beschäftigt und erwies sich daneben, wie sich zeigte, auch als begnadeter Gärtner und Obstzüchter. Herr Stelmach lebt nicht mehr, doch seine Bäume stehen, und die Äpfel, Birnen und Pflaumen werden im Sommer von den in der Umgebung wohnenden Kindern oder auch von zufällig vorbeikommenden Säufern gepflückt, die hier zusammenkommen, um im wohltuenden Schatten eine Flasche billigen Obstweins zu leeren.

Leider führt mein Weg auch an einem sehr traurigen Ort vorbei. Heute ist hier eine schöne Wiese, doch damals, nach dem Krieg, gab es an dieser Stelle bloß Lehmfurchen, und aus den Furchen ragten vier Bretter, verbunden mit einem Stück Draht. Das bedeutete, daß hier im Boden eine Mine steckte. Ich erinnere mich, wie ich einmal verschlafen und verfroren zur Schule ging und sah, daß ein Kind, ein kleiner Junge, innerhalb der Bretter hockte, und ehe ich das noch richtig begriffen hatte und einen Gedanken fassen konnte, nahm ich schon einen hellen Blitz und einen trockenen, scharfen Knall wahr, und dann sah ich, wie der Junge vornüber sank und erstarrte.

Sofort gab es ein Geschrei und Gerenne, Menschen stürzten aus den umliegenden Häusern, doch als wir den Ort der Explosion erreichten, saß das Kind schon tot da, in einer Blutlache. Das muß hier gewesen sein, neben dieser Pappel. Aber wo genau? Überall ist Wiese, allen Orts gleich üppig.

(...)

Text aus dem Nachlaß des Autors

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.