LI 71, Winter 2005
Das arabische Unglück
Von historischer Größe, Selbstverlust und kultureller WiedergeburtElementardaten
Textauszug
Araber zu sein ist heute keine Freude. Manche fühlen sich verfolgt, andere hassen sich selbst. Darum ist das existentielle Unbehagen die in der arabischen Welt am weitesten verbreitete Erscheinung. Selbst die, die sich lange in Sicherheit gewiegt hatten, die dominanten Saudis und die wohlhabenden Kuwaiter, können sich diesem Gefühl seit dem verhängnisvollen 11. September nicht mehr entziehen.
Aus welcher Perspektive man das Problem auch betrachtet, das Bild ist düster, und das noch mehr, wenn man es mit anderen Weltregionen vergleicht. Abgesehen vom subsaharischen Afrika, doch mit allen Widersprüchen, die sich aus dem Abstand zwischen Möglichkeiten und Wirklichkeit, Erwartungen und Erreichtem, Angst und Frustration, Vergangenheit und Gegenwart ergeben, ist die arabische Welt jene Region, die einem Mann gegenwärtig die geringsten Entwicklungschancen bietet. Und einer Frau noch weniger.
Vor allem interpretiert man den Begriff „Araber“ hier wie anderswo einseitig und reduziert ihn auf eine von vornherein stigmatisierte ethnische Identität oder bestenfalls auf eine Kultur der Negation.
Doch dieses „Unglück“ war nicht von jeher vorhanden. Wenn man das angebliche Goldene Zeitalter der arabisch-mohammedanischen Kultur einmal außer acht läßt, gab es eine gar nicht so ferne Zeit, in der die Araber optimistisch in die Zukunft blikken konnten. Die kulturelle Wiedergeburt im 19. Jahrhundert, die berühmte nahda, brachte viele arabische Gesellschaften in Einklang mit der Moderne, wobei die verwestlichten oder sich verwestlichenden Eliten oft überflügelt wurden. Im 20. Jahrhundert schuf eine dieser Gesellschaften, die ägyptische, die drittgrößte Filmindustrie der Welt, während Maler, Lyriker, Musiker, Dramatiker und Romanautoren von Kairo bis Bagdad und von Beirut bis Casablanca dazu beitrugen, eine lebendige arabische Kultur zu gestalten. Parallel dazu kam es in den damaligen Gesellschaften zu Wandlungsprozessen. Das größte Aufsehen erregte die Revolution, die im Ablegen des Schleiers bestand und die heute wieder in Frage gestellt wird. Die Gesellschaften entwickelten sich ebenfalls auf politischem Gebiet weiter und ermöglichten es den Arabern, als Akteure in der Arena der internationalen Beziehungen aufzutreten. Das galt für das Ägypten Nassers, das einen Schwerpunkt der afro-asiatischen Bewegung und dann der Blockfreien bildete, wie für das unabhängige Algerien, den „Schrittmacher“ des afrikanischen Kontinents, oder für die palästinensische Widerstandsbewegung, die sich notgedrungen für eine weitere Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechts der Völker einsetzte, ohne der heute so verbreiteten Opferideologie zu verfallen.
Warum ist diese Periode zu Ende gegangen, die keine Erfolge hinterließ und sich statt dessen auf eine bessere Zukunft berief, von der man glaubte, sie sei zum Greifen nahe? Warum ist man zur Stagnation gelangt – einer eher geistigen und ideologischen als materiellen Stagnation, die jedoch bewirkt, daß sich die Araber einreden, ihre einzige Zukunft bestehe in der, die ihnen ein morbider Chiliasmus vorbehält? Warum diskreditiert man eine lebendige Kultur, um sich gemeinsam dem Unglücks- und Todeskult zu ergeben?
Einige Zahlen würden genügen, um zu veranschaulichen, wie ausweglos die Sackgasse ist, in der die arabischen Gesellschaften blockiert sind: Analphabetenrate, Unterschiede zwischen den Reichsten, die unermeßlich reich sind, und den Ärmsten, die verzweifelt arm sind, Überbevölkerung der Städte, Verödung der Provinzen … Aber man wird einwenden, dies sei das gemeinsame Schicksal eines großen Teils der Regionen, die man noch vor kurzem als Dritte Welt bezeichnet hat. Überdies gibt es auf den Straßen Kalkuttas schlimmere Armut und in Rio de Janeiro größere Ungleichheit. Das trifft gewiß zu. Nur daß das Unglück in diesem Fall nicht eine fehlgeleitete Entwicklung und auch keine Klassenfrage, ja nicht einmal ein Problem von Bildungsdefiziten ist.
Die Besonderheit des arabischen Unglücks besteht darin, daß es von denen empfunden wird, die man anderswo für nicht betroffen halten würde. Und daß es eher von Wahrnehmungen und Gefühlen als von Zahlenangaben ausgeht. Das beginnt mit dem tiefverwurzelten Gefühl, daß die Zukunft versperrt ist. Angesichts des vielgestaltigen und unheilbaren Übels, das diese Welt angeblich untergräbt, soll das einzige Heil in einer individuellen Flucht bestehen. Soweit eine Flucht möglich ist. Nun besteht das arabische Unglück auch im Blick der Anderen. Ein Blick, der argwöhnisch oder herablassend wirkt und uns auf unseren als unüberwindlich angesehenen Zustand festlegt, der unsere Ohnmacht lächerlich macht und unsere Hoffnungen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und der uns an den Grenzübergängen oft zurückhält. Man muß einmal den Paß eines verfemten Staates vorzeigen, damit man begreift, wie endgültig ein solcher Blick wirken kann. Man muß einmal seine Ängste den Gewißheiten des Anderen – seinen Gewißheiten über uns – gegenüberstellen, damit man beurteilen kann, wie lähmend ein solcher Blick wirkt.
Notfalls könnte man sich über den Blick des Anderen hinwegsetzen, ja ihn einfach ignorieren. Doch wie soll man den Blick auf den Anderen unterlassen? Wie soll man es vermeiden, sich mit dem zu vergleichen, was er verrät? Man braucht nicht so weit zu gehen, daß man nach Analogien mit einem Abendland sucht, das stets als Herr auftritt und in dem der Habeas-corpus-Grundsatz sowie die Menschenrechte dennoch zu einer Zivilgesellschaft geführt haben, die offen genug ist, um die wiederholten Versuche abzuwehren, deren Gültigkeit einzuschränken. Man muß auch nicht über die Unterschiede nachgrübeln, die sich aus derartigen Analogien zwischen einer Zivilisation, die unaufhörlich neue technologische Revolutionen hervorbringt, und einer Welt ergeben würden, deren Bestandteile noch zum großen Teil dem vorindustriellen Zeitalter angehören, während sich die übrigen damit zufriedengeben, die von außerhalb gekommenen Neuerungen zu konsumieren. Schon bescheidenere Vergleiche müßten beschämend wirken.
So etwa mit Asien, wo das Wirtschaftswachstum eine Vielzahl von „Tigern“ und „Drachen“ hervorgebracht hat. Oder mit Lateinamerika, wo der demokratische Übergang unumkehrbar geworden ist. Selbst mit dem subsaharischen Afrika, wo traumatische Bürgerkriege trotz alledem mit demokratischen Erfahrungen koexistieren. Diese Weltregionen, die noch vor kurzem, so schien es, mit den Arabern das Schicksal der Fehlentwicklung und der politischen Willkür teilten, haben bei weitem keinen Gleichstand mit dem industriellen und demokratischen Norden erreicht. Doch man findet dort wenigstens ausgleichende Elemente, mit denen sich begründen läßt, daß man nicht verzweifeln muß. Hier gibt es unbestreitbare demokratische Fortschritte, dort ein Wirtschaftswachstum und ein meisterhaftes technologisches Können, die den Neid Europas erregen, anderswo eine Fähigkeit zu Initiativen in den internationalen Beziehungen – und manchmal all das auf einmal, während die arabische Welt unter einem grausamen Mangel in allen Bereichen leidet.
(...)