LI 144, Frühjahr 2024
Eyeless in Gaza
Ein Gefängnis für Anders Breivik. Partita in a-MollElementardaten
Textauszug
Mein Lieber, „Eyeless in Gaza“, so heißt der Titel eines von Aldous Huxley verfaßten Romans, entnommen John Miltons Verstragödie Samson Agonistes: „Eyeless in Gaza at the Mill with slaves …“ Die Stelle in der Bibel, auf die sich Milton bezieht: „Die Philister ergriffen ihn, stachen ihm die Augen aus und brachten ihn nach Gasa hinab. Sie fesselten ihn mit einer doppelten ehernen Kette, und er mußte im Gefängnis die Mühle drehen.“ Neben anderen bemühte auch Franz Werfel den geblendeten Sklaven: „Hinter Meschullams Herrenhaus dehnte sich ein weiter verbrannter Anger, und in diesen Anger waren zwölf Deichselmühlen eingelassen, wie sie seit Urzeiten im Lande Jehuda in Gebrauch standen. Ein fest gemauerter, unbeweglicher Mühlstein unten und darüber, nicht minder wuchtig, ein beweglicher oberer Mühlstein, der um eine Nabe läuft und von einer langen Deichsel in Betrieb gesetzt wird. Zumeist wurden an diese Mühldeichseln Rinder gespannt, die den ganzen Tag im Kreis trotteten. Jirmijah und Baruch aber sahen an den zwölf Deichseln keine Rinder, sondern Männer, nackte, schweißglänzende Riesengestalten, zwölfmal das Bild Simsons ...“
Wohl um etwas Abstand zu gewinnen, seit dem 7. Oktober sind nun einige Monate vergangen, hat sich mir das Bild des geblendeten und sich im Kreis drehenden Simson aufgedrängt. Was ließe sich nicht alles sagen über Nährböden, auf denen Haß gedeiht, über Wiederholungen, die sich nur in der Steigerung der Gewalt unterscheiden. Scheinen nicht alle an Mühlsteine gekettet zu sein, sich ständig im Kreis zu drehen, Blender wie Geblendete. Und erheben nicht alle ihre Klagen?
„Eyeless in Gaza“, auf jeden Fall ein guter Titel für einen Roman, mag dieser auch nicht das geringste mit Gaza zu tun haben. Dabei hat Huxley, wenn auch erst 1954, also gut zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Romans, den Nahen Osten bereist. Rückblickend schrieb er: „Es war eine wunderbare Reise durch Raum und Zeit – wunderbar, aber sehr deprimierend; denn noch niemals hatte ich ein solch deutliches Gefühl vom Tragischen des menschlichen Daseins, dem Schrecken einer Geschichte, in der die großen Kunstwerke, die Philosophien und Religionen nichts weiter sind als Inseln in einem endlosen Strom von Krieg, Armut, Scheitern, Elend und Krankheit.“
Huxley ließ sich von einem jungen christlichen Palästinenser, der von der anderen Seite der Stadt vertrieben worden war, durch den damals noch von den Arabern kontrollierten Teil Jerusalems führen. Der Führer soll in nahezu jeden Satz das Wort „usually“ eingestreut und es scheint in seiner Führung nicht ein Bauwerk gegeben zu haben, das nicht „usually zerstört und dann usually wiederaufgebaut“ wird, um natürlich erneut zerstört und erneut aufgebaut zu werden: „Hier war die Klagemauer, mit niemandem, der daran klagte; denn Israel liegt auf der anderen Seite einer Grenzbarriere, über die hinweg es keine Kommunikation gibt, es sei denn gelegentliche Salven von Gewehrfeuer und gelegentlichen Austausch von Handgranaten. Hier stand, mit stählernem Stützwerk eingerüstet, die Kirche des Heiligen Grabes … Und hier war das Dorf Siloah, hier die St.-Anna-Kirche, hier der Felsendom und die Tempelstätte; hier war, ominöser noch als Pompeji, das Judenviertel, 1948 usually eingeebnet und noch nicht usually wiederaufgebaut …“
Im Zeitraffer führt Huxley durch die Gewaltgeschichte Jerusalems, erwähnt auch den Bar-Kochba-Aufstand unter Hadrian. Die Juden, so liest es sich bei Cassius Dio, „besetzten geeignete Punkte, wo sie sich durch unterirdische Gänge und Verschanzungen zu sichern suchten, um, wenn sie gedrängt würden, darin eine Zuflucht zu finden und unbemerkt miteinander verkehren zu können.“
Die Römer schnitten ihnen die Lebensmittelzufuhr ab, und so gelang es ihnen schließlich, sie aufzureiben und zu vernichten, so daß am Ende „beinahe ganz Judaea zur Einöde wurde“. Warum sich nicht etwa mit dem Bar-Kochba-Aufstand beschäftigen, in dem sich die aktuelle Geschichte spiegelverkehrt abgespielt hat, mit dem einen Unterschied, daß Hadrian in seine Unterworfenen investiert hat, was man vom Staat Israel, die Palästinenser betreffend, nicht gerade sagen kann. Hadrian machte die damaligen Judäer zu römischen Bürgern, und natürlich lag ihm das Denken in ethnischen Kategorien fern.
Die Spirale der Gewalt wird sich weiterdrehen. Es ist und bleibt eine Wahnwelt, und man fühlt sich in alttestamentarische Wirklichkeiten versetzt. Vor mir eine verblaßte Aufnahme, sie dürfte in den 1980er Jahren entstanden sein, die einen alten Palästinenser zeigt, der einen von jüdischen Siedlern verstümmelten Ölbaum beweint. Die Vernichtung von Bäumen wie das Niederbrennen des reifen Korns, wie es sich etwa bei Thukydides nachlesen läßt, hat sich als archaische Praxis bis heute erhalten, nur erfährt diese dank neuer Technologien heute ihre Verfeinerung. Hätten die Spartaner über Drohnen verfügt, es hätte wohl nur eines Knaben bedurft, um Schafe und Ziegen der Athener in alle Winde zu vertreiben … Oder soll ich doch etwas über den vielgeschmähten Herodes schreiben, den Erfinder der shopping mall, der einer in hasmonäischer Zeit zwangsassimilierten idumäischen Familie entstammte, der eine Nabatäerin zur Mutter hatte und sein Herrschaftsgebiet, um es dem heutigen Sprachgebrauch entsprechend zu formulieren, multiethnisch, auf jeden Fall multikonfessionell zu organisieren suchte?
*
Dies war ein Briefentwurf, der mir nicht recht gelingen wollte, nicht gelingen konnte. Wie wäre es auch möglich, die vielen Ebenen auseinanderzuhalten, gar zu gewichten. Um Abstand zu gewinnen, setzte ich mich in ein Lokal und versuchte den einen oder anderen Gedanken etwas klarer zu formulieren. Solches wie anderes ging mir durch den Kopf, aber einen klaren Gedanken vermochte ich nicht zu fassen, was mir allein die wirren Notizen deutlich machten, die vor mir auf dem Tisch lagen.
(…)
Ich lehnte mich zurück, schloß meine Augen.
(…)
In solche Betrachtungen versunken, wandte sich ein am Nebentisch sitzender älterer Herr mit weißen Haaren, dem ich bislang keine Beachtung geschenkt hatte, an mich und meinte: „Ihnen scheint nichts einzufallen. Ich kenne das. Aber mögen die Gedanken noch so unausgegoren sein, lange genug nachgedacht, irgendwann bildet sich dann doch ein Bodensatz. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Der ältere Herr verriet mir zwar nichts über seine berufliche Tätigkeit, wie sich dann aber im Verlaufe unseres Gespräches herausstellte, muß er sich über lange Zeit mit Gefängnisarchitekturen im weitesten Sinn beschäftigt haben, mit räumlichen Anordnungen, die der Überwachung und Kontrolle von Menschen oder auch Tieren dienen. Lange habe er sich, so meinte er, mit der Frage beschäftigt, wie ein Gefängnis beschaffen sein müßte, damit es einem Täter wie Anders Breivik gerecht werde. Ich wurde hellhörig, konnte ich mich doch sehr gut an den 22. Juli 2011, also an jenen Tag erinnern, an dem Breivik wahllos auf Jugendliche eines sozialistischen Feriencamps geschossen hatte.
(…)
Wenn ich mich recht erinnere, dann dachte der ältere Herr an ein Dreikammersystem, an drei miteinander verbundene und in Silobauweise errichtete, also runde Räume, an Räume ohne alle Ecken und Kanten. Die kleinste der Kammern solle als Rückzugs- und Schlafraum dienen, so meinte er. Dieser Raum sei einfach möbliert. Es gäbe da ein Bett, einen Tisch mit Sitzgelegenheit nebst einer Toilettenmuschel, ein Waschbecken und eine Dusche. Natürlich bedürfe es eines klugen und guten, optisch ansprechenden Designs. Es ginge nicht nur darum, Zerstörungsakte, die unter Gefangenen verständlicherweise immer wieder zu beobachten seien, möglichst zu verhindern. Füge man ein Waschbecken klug in eine Wand, dann sei es vor jeder Zerstörung sicher. Gutes Design diene auch dem Wohlbefinden des Internierten. Selbst wenn jemand sehr viel Schuld auf sich geladen und viele ins Unglück gestürzt habe, sei nichts gewonnen, quäle man ihn mit häßlichen Betten oder Eimern, die zur Verrichtung der Notdurft dienten. Wenn er an Möbelstücke von IKEA denke, dann müsse er sagen, solche seien einem zu lebenslanger Haft verurteilten Menschen, möchten sie in heutigen Wohnungen noch so omnipräsent sein, nicht zuzumuten. Vermeintliche Freiheit bedeute noch lange nicht, in Freiheit zu leben, wie ihm auch scheine, daß sich die meisten Menschen mit Möbelstücken umgäben, die ihn an schlecht geführte Gefängnisse denken ließen. Ein Rechtssystem, das etwas von sich halte, müsse diesbezüglich genau sein.
Zerstöre der Gefangene das, was man ihm zugestanden habe, so liege das in seiner Verantwortung und müsse nicht ersetzt werden, wobei man ihm weiterhin, so als sei nichts geschehen, wie festgelegt, das ihm täglich, wöchentlich, monatlich oder jährlich Zugestandene mit äußerster Pünktlichkeit zukommen ließe, ganz gleichgültig, ob es sich dabei um Nahrung und Getränke, saubere Wäsche, Schreib- oder Zeichenmaterialien, Medikamente oder Zigaretten, um größere Wünsche handle. Das System lasse nicht mit sich spielen, es sei genau, niemals aber unberechenbar oder ungerecht. Solchen Gefangenen stünde eine Leibrente zu, also Mittel, über die sie frei verfügen könnten. Von dieser Zuwendung würde freilich ein Teil für die Unterbringung abgezogen. Dennoch bliebe dem Gefangenen genügend frei verfügbares Geld, so daß er sich, so er es nicht für Kindereien verschwende, in wenigen Jahren beispielsweise ein Piano anschaffen könne. So ein Piano käme in den gedachten Räumen sicherlich gut zur Geltung, auch was seine Klangwirkung betreffe, seien in die Planung doch Raumakustiker, erfahren in der Gestaltung von Konzertsälen oder Opernhäuser, eingebunden. Die dem Gefangenen zugestandene Leibrente entbehre nicht einer gewissen Ironie, müsse er doch an überzählige Töchter aus dem höheren Adel denken, die man auf ähnliche Weise ausgestattet in Klöstern bei lebendigem Leibe in ein Ausgedinge gesteckt habe.
(…)
Der ältere Herr war wieder einmal aufgestanden, sei es, um die Toilette aufzusuchen oder im Freien eine Zigarette zu rauchen. Am Nebentisch unterhielten sich einige Gäste über den Gaza-Konflikt. Einer der Männer hatte seinen rechten Arm behutsam um eine links neben ihm auf der Bank sitzende zahnlose, fast auf Kindesgröße geschrumpfte Alte gelegt, die mit großen Augen dem Gespräch folgte. Hin und wieder strich ihr ein anderer neben ihr sitzender Herr zärtlich über Haare und Wangen oder küßte sie auf die Stirn, erklärte ihr, worüber gerade gesprochen wurde, obwohl sie gewiß nicht das geringste davon verstehen konnte. Immer noch habe sie einen ganz schwarzen Humor, hörte ich ihn sagen. Und drohte sie wieder einmal von der Bank zu rutschen, so faßte sie einer der Männer unter den Armen und positionierte sie gehörig. Es gibt also noch Hoffnung in dieser Welt, dachte ich mir. Was für ein Gegensatz zu all den jungen Leuten, die an der Bar oder an den Tischen saßen, denen die Vorstellung eigener Verletzlichkeit oder eigenen Alterns noch fremd sein mußte. Zutiefst berührt, bat ich, eine Aufnahme machen zu dürfen. Durfte ich. Kaum hatte ich mich vor der Gruppe positioniert, nahmen alle eine andere Haltung ein. Als ich mir am nächsten Tag die Aufnahme anschaute, war ich enttäuscht. Von all dem, was mich berührt hatte, war nichts zu sehen. Der rechts von der Frau sitzende Mann hatte seinen schützenden Arm zurückgezogen, der links von ihr sitzende wirkte abgewandt. Nur die alte Dame blickte mit großen Augen in die Kamera, schien geradezu für eine Aufnahme zu posieren und schien sich, obwohl zahnlos, ein Lächeln abzuringen. Sie war also noch nicht ganz aus der Welt gefallen.
Plötzlich sah ich mich allein. Dabei war ich alles andere als allein, drängten sich nun doch sehr viele Gäste im Lokal. Aber der ältere Herr, mit dem ich mich einige Stunden unterhalten hatte, war verschwunden. Blieb verschwunden. Als ich mir dessen sicher war, griff ich nach einem Umschlag, den er auf dem Tisch hatte liegenlassen. Darin fand sich ein längeres Manuskript einer Rede, eines höchst langweiligen Vortrags zu all den ethischen Problemen der Unterbringung gefährlicher Rechtsbrecher. Klug formuliert, aber doch langweilig. Bemerkenswert fand ich einzig die Schlußbemerkung: „Jetzt habe ich lange zu Ihnen gesprochen. Denke ich an meine Vorredner, dann läßt sich sagen, in nahezu allen Fragen sind wir uns einig, und wenn ich es mir recht überlege, viel zu einig. Wir drehen uns, gefangen in unserem Denken, im Kreis. Wir sollten andere zu Rate ziehen, Eremiten, Architektinnen, warum nicht Galina Balaschowa, Schriftsteller, die sich mit solchen Fragen beschäftigt haben, Agrotechniker, warum nicht Tiere, die sich in Freiheit oder in Gefangenschaft befinden. Ich fürchte, daß ich mit solchen Bemerkungen hier nur mißverstanden werden kann, gar wenn ich mich zu den aktuellen Ereignissen, die mich sehr bedrücken, äußerte. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit …“
*
Leider hat er sein Skizzenheft nicht liegengelassen. Auch wenn es das erwähnte Gefängnis nie geben wird, eines habe ich, so dachte ich mir auf meinem Nachhauseweg, gelernt: Man sollte Antworten, denen keine wirklichen Fragen vorausgegangen sind, mißtrauen. Warum nicht zu Zeichenstift und Pinsel greifen? Unter den politischen Akteuren fällt mir niemand ein, der zu solchem fähig wäre.
Und dann drängte sich mir noch ein Bild auf, mit welchem Huxley die erwähnte Stadtführung enden läßt. Aus einem offenstehenden Fenster eines dritten Stockwerks, „über den unvordenklich alten Schmutz der Stadt hingweg“, war ein Klavier zu hören. Jemand spielte die einleitende Fantasie aus Bachs Partita in a-Moll, „überdies bemerkenswert gut“. Nicht nur ein Gegenbild zu all der Gewalt, sondern auch eine Relativierung des aktuellen Geschehens: „Der Komponist wählt ein Stück roher, undifferenzierter Dauer und löst daraus, wie der Bildhauer die Statue aus seinem Marmor herauslöst, ein komplexes Schema von Tönen und Pausen, von harmonischen Sequenzen und kontrapunktischen Verflechtungen. Für die bestimmte Zahl von Minuten, deren es bedarf, die Komposition zu hören und zu spielen, wird die Dauer in etwas von sich aus Signifikantes verwandelt, in etwas, das von der inneren Logik von Stil und Temperament zusammengehalten wird, von persönlichen Gefühlen, die mit einer künstlerischen Tradition in Wechselwirkung stehen, von kreativen Einsichten, die sich innerhalb und jenseits einer technischen Konvention zum Ausdruck bringen.“ 23 Als Bach im Weggehen verhallte, war das Iahen eines Esels zu hören, „in der Luft der Geruch von unbeseitigtem Abfall“.