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Cover Lettre International, Jakob Roepke
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Inhaltsverzeichnis

LI 107, Winter 2014

Ein bulgarischer Mord

Georgi Markows Weg vom Vorzeigeautor zum Verkünder der Wahrheit

Luben Markow lebt in einem Haus voller Erinnerungen. Der Couchtisch des obengelegenen Wohnzimmers ist übersät mit Briefen, Zeitungsausschnitten, Typoskripten, Gerichtsurteilen; in den Fächern eines antiken Sideboards stehen Video- und Audioaufzeichnungen; dicke Aktenordner säumen, nach Jahrgängen geordnet, eine ganze Wand im Raum nebenan; die Treppe entlang biegen sich Hängeregale unter der Last von Büchern über Kommunismus, Totalitarismus, die Geheimdienste der Sowjetzeit.

Siebzig Jahre alt, ein hochgewachsener Rentner mit ergrautem Haar und großer Brille, lebt Luben alleine mit einem zotteligen Schäferhund auf dem angestammten Anwesen der Familie in Knjaschewo, einem ländlich anmutenden Vorort von Bulgariens Hauptstadt Sofia. Hier, am Fuße des Witoschagebirges, wuchs Lubens Cousin, der Schriftsteller Georgi Markow, auf; hier verabschiedete sich Georgi 1969 von seinen Verwandten, bevor er über die Grenze nach Jugoslawien fuhr. „Er holte ein paar Scheine aus der Tasche und sagte: ‘Hier, Luben, trinkt einen auf mich, du und deine Freunde. Trinkt auf mein Wohl. Ich gehe für eine Weile ins Ausland.’ Das war alles. Er stieg in seinen Wagen und fuhr davon.“

Neun Jahre später war Georgi tot. Ein oppositioneller Autor und Radiojournalist, der sich mit seiner wöchentlichen Sendung In Absentia: Reports About Bulgaria in seiner Heimat ein treues Publikum erarbeitet hatte, wurde ermordet, in London, am helllichten Tag – von einem Agenten der bulgarischen Staatssicherheit (DS), der ihm eine stecknadelkopfgroße Giftkugel in den Oberschenkel schoß. Damals ging man davon aus, daß es sich bei der Mordwaffe um einen umgebauten Regenschirm gehandelt habe, so daß in der Presse bald weltweit vom „Regenschirmmord“ die Rede war. Es war eines der unheimlichsten und rätselhaftesten Attentate des Kalten Krieges.

Auf dem letzten Photo von Markow – bei Luben hängt eine Vergrößerung davon im Flur – blickt der Autor hinter einer Hornbrille hervor direkt in die Kamera. Daß er die Beine lässig übereinandergeschlagen hat, ändert nichts an dem Ausdruck in seinen Augen, der verängstigt, fast flehentlich wirkt. Keine Spur von dem Lächeln auf früheren Photos von ihm, keine Spur von dem alten Funkeln in seinem Blick; nervös sind seine Hände mit einem kleinen Notizbuch befaßt.

Seit 1989, seit dem Kollaps des kommunistischen Regimes in Bulgarien, hat Luben nur noch ein Ziel im Leben: bei den Ermittlungen um den Mord an seinem Cousin behilflich zu sein; darüber hinaus kümmert er sich um dessen literarischen Nachlaß. Er hilft bei Erstveröffentlichungen und Neuauflagen von Markows Essays, Romanen, Stücken; er organisiert Gedenkveranstaltungen und Lesungen; er trägt Markows persönliche Briefe und Dokumente zusammen; und er hat für den Kontakt zwischen Ermittlern und wichtigen Zeugen gesorgt. So voll ist sein Kopf von „Markowia“, daß er gelegentlich die Orientierung verliert, was ihn vom Hundertsten ins Tausendste kommen läßt. In gewissem Sinne ist Luben zum Doppelgänger seines Cousins geworden. „Ich habe mir viele von Georgis Gedanken und Anschauungen zu eigen gemacht“, sagt er. „Mir geht es um die Wahrheit. Das ist alles, was ich will. Wie Georgi in einem seiner Essays schreibt, ist sie das Thema unserer Zeit, ja aller Zeiten – die Wahrheit!“

(…)

Daß Markow in Ungnade fiel, hatte weniger mit historischen Ereignissen und dem Wechsel im ideologischen Klima zu tun als mit seiner wachsenden künstlerischen Unabhängigkeit. Die reaktionär-konservative Politik Leonid Breschnews, der Nikita Chruschtschow 1964 als Führer der Sowjetunion abgelöst hatte, wirkte sich allmählich auch auf Bulgarien, den engsten Satelliten des Kremls, aus. Überhaupt begann man im Ostblock die ideologischen Zügel der Intelligenzija wieder straffer zu ziehen, kehrte man viele der liberalen Ansätze der jüngeren Vergangenheit um. Und mit Breschnews Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 kam denn auch das Ende der Toleranz gegenüber allem, was hinter dem Eisernen Vorhang auch nur nach Kritik aussah. In der Tschechoslowakei hatten Schriftsteller wie Václav Havel, Pavel Kohout und Ludvík Vaculík das Gespräch über eine Reformation des sozialistischen Systems geschürt. (Das „sozialistische Programm“, schrieb Vaculík in seinem berühmten Manifest der  2 000 Worte von 1968, sei „in die Hände der falschen Leute gefallen“.) Das bulgarische Regime war – wie die in Polen, Ostdeutschland und Ungarn – bereit, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um zu verhindern, daß ein derartiger Revisionismus in seinem Hoheitsbereich Wurzeln schlug.

Markow schrieb weiter, jedes neue Werk anspruchsvoller als das zuvor, sah sich aber vor immer größeren politischen Hindernissen. Sein Stück Kommunisten von 1969, eine Auftragsarbeit zum 25. Jahrestag der kommunistischen Machtübernahme in Bulgarien, kam nie offiziell zur Aufführung – die Darstellung der Partisanen sei allzusehr aufs allgemein Menschliche reduziert, so die Kritik. Im Verlauf seiner Recherchen dazu hatte man Markow begrenzten Zugang zu den Archiven der DS gewährt, und er setzte die so gewonnenen Erkenntnisse effektvoll ein: Einer der Partisanen bat vor seiner Exekution um ein Glas Wasser; ein anderer gestand, der Partei aus Einsamkeit beigetreten zu sein. Kommunisten entmythologisierte die heroische Rhetorik der offiziellen Parteigeschichtsschreibung. Ein anderes von Markows Stücken, Ich war er, eine Komödie der Irrungen nach Art von Gogols Revisor, basierte auf der wahren Geschichte eines Fabrikarbeiters, der plötzlich Karriere macht, nachdem ihn ein Minister auf Visite versehentlich für einen Verwandten gehalten hat. Die Produktion wurde – nach der Generalprobe – vorläufig gestoppt und nicht wiederaufgenommen. Während der Pause sah der Dramatiker sich von einem Offizier der Staatssicherheit angesprochen: „Was haben Sie denn da für ein tschechisches Stück geschrieben?“ Markow bewegte sich auf den Abgrund zu.

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Die totalitäre Ära aus Markows Chronik unterschied sich jedoch von der Solschenizyns. Obwohl Markow einige Essays der grausamen stalinistischen Periode Bulgariens von 1944 bis 1956 widmete, einer Zeit der Zwangskollektivierung und Massenexekutionen, einer Zeit willkürlicher Gewalt und der damit einhergehenden Angst (die er als Teenager und Student erlebt hatte), richtete er sein Hauptaugenmerk auf die ihr folgende Periode liberalisierter Politik von 1956 bis 1968, in der die Macht des Regimes nicht länger auf entfesselten physischen Terror baute, sondern subtiler funktionierte – nämlich durch eine alles durchdringende, allgegenwärtige Form gesellschaftlicher und materieller Korruption. Bulgariens Totalitarismus war prosaisch, eintönig, zu keinem Zeitpunkt von großen traumatischen Ereignissen oder Umbrüchen unterbrochen: Es gab keine gesellschaftlichen Unruhen, die mit denen in Ungarn 1956, der Tschechoslowakei 1968 oder Polen 1968 und 1980 zu vergleichen gewesen wären. Wenn überhaupt, so war gerade das Fehlen von Umbrüchen und organisierten Dissidentenbewegungen ein Symptom gesellschaftlicher Korrosion.

Korruption und Vetternwirtschaft, die alle Bereiche des Lebens durchzogen, sowie die Kontrolle von Intellektuellen und der Bevölkerung allgemein durch ein Feudalsystem von Privilegien, das den gesellschaftlichen Erfolg des einzelnen nicht von Wert oder Talent, sondern ideologischem Gehorsam abhängig machte, sorgten für das womöglich größte Verbrechen des Regimes: Es produzierte Mittelmaß. Es war dies ein wiederkehrendes Thema in den Reports: „Das markanteste Merkmal des sozialistischen Karrieristen, sei es in Industrie, Kultur oder in der Verwaltung, ist sein Mittelmaß.“ An anderer Stelle bezeichnet Markow Funktionäre der KP als „feiste Männer mit schwerfälligem Gehirn und schlechten Manieren, die das Leben obskurer russischer Provinzgouverneure geradewegs aus den Seiten Gogols führen“. Bulgariens Staatsoberhaupt Todor Schiwkow sei die Quintessenz des Funktionärs: ein Mann mit der „Frechheit eines nicht sonderlich intelligenten, kleinen Diktators, den ihm unverständlichen und unzugänglichen intellektuellen Geistern zu diktieren … alles entsprechend den ästhetischen Kategorien eines ausgedienten Feldwebels“.1 Wenn auch zuweilen ätzend, gerät Markows Porträt von Schiwkow erstaunlich objektiv. Er erkannte dessen Stärken und bescheinigte ihm einen „unbezweifelbaren natürlichen Intellekt, eine rasche Auffassungsgabe und ein überragendes Gedächtnis“, aber letztlich sah er ihn eben als mittelmäßigen Menschen, als „typische Figur aus einem gegenwärtigen bulgarischen Dorf oder Vorstädtchen … vielleicht der Postvorsteher, der Grundschullehrer, ein Verwaltungsbeamter oder der örtliche Agronom“,2 den man versehentlich mit der Führung eines ganzen Landes betraut hatte.

Mittelmaß war nicht nur ein Merkmal der Parteibürokraten. Angesichts der herrschenden Willkür, der künstlichen Produktionsnormen einer Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild, zu schweigen von dem allgemein niedrigen Lohnniveau und dem schlechten Vorbild einer inkompetenten Parteielite, die sich ungeniert beim Staat bediente, hatte der Mann von der Straße seine Lektion schnell gelernt. „Die Korruption der Arbeiterschaft war eine Folge der moralischen Korruption, wie sie von der Spitze der Staatsführung begünstigt wurde“, schloß Markow. Arbeit galt als Plackerei, sie war ein Zeichen von niedrigem Status; Qualität und Effizienz hatten da wenig Platz. Ein Resultat war, daß die Zahlung von Schmiergeldern weite Verbreitung fand – schließlich gehörte öffentliches Eigentum niemandem, und fast jeder – vom höchsten Funktionär bis zum letzten Handlanger – versuchte, privaten Nutzen aus seiner jeweiligen Stellung zu ziehen, nicht selten unter dem Deckmantel der Ideologie. Läßt man die sozialistische Rhetorik außer acht, war Bulgariens Gesellschaft eine zutiefst materialistische, in der Konsum und der Kult des Konsumguts – vor allem der raren Ware aus dem Westen – überragende Bedeutung hatten. „Ich wüßte“, so schrieb Markow, „keine Gesellschaft mit prononcierterem kleinbürgerlichen Charakter als die der herrschenden Kommunistischen Partei.

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1973 gab ein geheimes Memo des Politbüros der BKP der Staatssicherheit grünes Licht für die „Planung, Vorbereitung und Ausführung ernster Agenten- und aktiver Operationen auf dem Hoheitsgebiet der kapitalistischen und Entwicklungsländer gegen feindliche Ziele, die in aktive feindselige Aktivitäten verwickelt oder die Verbrechen gegen die Volksrepublik Bulgarien schuldig geworden sind“. „Ernste Operationen“ oder auch „scharfe Operationen“ waren beim bulgarischen Geheimdienst Euphemismen für Entführungen und Liquidierungen. Erst ein Jahr zuvor hatte die DS ein Abkommen zur gegenseitigen Unterstützung mit dem KGB unterzeichnet, der seinem bulgarischen Gegenstück die Lieferung diverser Mordwerkzeuge zusicherte, darunter funkgesteuerte Minen, Instrumente für „das lautlose mechanische Abfeuern spezieller Nadeln“ sowie „starke … schnell wirkende Gifte“. 1971 versuchte der KGB, Solschenizyn zu ermorden, indem man ihm unbemerkt ein giftiges Gel auf den Körper strich; der Schriftsteller erkrankte ernsthaft, überlebte den Anschlag jedoch.

Es ist kaum wahrscheinlich, daß die bulgarische Staatssicherheit Markows Ermordung bereits damals plante; über andere Bulgaren jedoch war der Stab bereits gebrochen. So sind in den Geheimarchiven der DS detaillierte Pläne für die Ermordung von Boris Arsow erhalten, einem bulgarischen Emigranten, der sich in Dänemark niedergelassen hatte, wo er kritische Rundbriefe über das Schiwkow-Regime herausgab. Arsow war ein eher kleines Licht innerhalb der Emigrantengemeinschaft, für die Obrigkeit in Sofia aber offenbar gefährlich genug, um seine Liquidierung anzuordnen. Man zog diverse Mordwaffen in Erwägung, darunter Messer, harte Gegenstände und Gift. Obwohl die Mordversuche fehlschlugen, sah Arsow sich schließlich von DS-Agenten gekidnappt und nach Bulgarien verschleppt, wo ihm 1974 der Prozeß gemacht werden sollte. Man fand ihn einige Monate später erhängt in seiner Zelle.

Bereits 1975 hatte die DS Pläne, Markow zu „kompromittieren und neutralisieren“; die Entscheidung, ihn zu ermorden, fiel jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach 1977, als sich abzuzeichnen begann, daß er seine Sendetätigkeit nicht einstellen würde. Gerade mit dem jüngsten Beitrag, in dem es um Schiwkow persönlich gegangen war, hatte er sich auf gefährliches Terrain begeben. In seinem Buch The First Directorate: My 32 Years in Intelligence and Espionage Against the West (1994) schildert der ehemalige KGB-General und Chef der für die Gegenspionage zuständigen Ersten Hauptverwaltung Oleg Kalugin detailliert und aus erster Hand die Pläne für Markows Ermordung. Laut Kalugin wandte sich – auf Schiwkows Befehl – Anfang 1978 das bulgarische Innenministerium mit der Bitte an die Sowjets, dem DS „bei der physischen Entfernung Markows behilflich zu sein“.

Auch Oleg Gordijewski, designierter Resident des KGB und Londoner Bürochef Ende der siebziger Jahre, bestätigt in seinem Buch KGB die Unterstützung seiner Organisation im Fall Markow. Obwohl Juri Andropow – damals Chef des KGB, danach Staatsoberhaupt der Sowjetunion – sich zunächst aus einer persönlichen Abneigung gegen den politischen Mord heraus gegen das Ansinnen sträubte, bewilligte seine Organisation schließlich die technische Hilfestellung unter der Voraussetzung, nicht in den eigentlichen Mord verwickelt zu werden.

Die Sowjets gaben den Bulgaren drei Optionen für Markows Liquidierung: ein Giftgel, das bei Hautkontakt einen Herzanfall auslöste, ein Gift, das sich Speisen oder Getränken beimengen, und eine winzige Giftkugel, die sich direkt in den Körper schießen ließ.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.