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Cover Lettre International 64, Lila Polenaki
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Inhaltsverzeichnis

LI 64, Frühjahr 2004

Mutter mit Kind

Versuch über die Chora oder das dritte Geschlecht

Unter der Geburt sind es nicht nur Schmerzen, die die Frau erleidet. Die Wehen bewirken nicht nur die Austreibung des Kindes: Sie bewirken auch eine Geschlechtsumwandlung. Jede Kreißende kann das Reißen und Bersten fühlen, wenn sie nur will: das Zerbersten ihrer bisherigen Identität und des soliden kulturellen Schichtwerks, das sie faßte.

Nichts in ihrem bisherigen Leben konnte sie auf dieses Ereignis vorbereiten. Es gibt in der ganzen Kultur keine vernünftigen Worte, die dies beschreiben könnten: die Verschiebung der Kontinente, die Verflüssigung allen Gesteins; nicht bloß ein Trieb, kein Hormon, vielmehr ein Geist ist hier am Werk und läßt eine dritte Geschlechtsidentität entstehen: neben dem Mann und der Frau die Mutter.

Der Gedanke ist nicht neu. Im Timaios des Platon geht es, etwa in der Mitte des Buches, um die chora: Es heißt dort, sie sei zugleich eine "Mutter" und ein "drittes Geschlecht" (triton genos). Eine Art "Zwischen"-Geschlecht, weder "sinnlich" noch "intelligibel", nicht "Urbild" und nicht "Abbild", sondern das, worin das Werdende wird. Jacques Derrida, der über die chora einen Essay schrieb, sagt, daß sie weder dem Diskurs des Mythos noch dem des Logos angehört. Dies kommt uns sehr gelegen. Denn was das Kind (der anfängliche Mensch) von der Mutter vernimmt, ist weder metaphorisch noch folgt es irgendeiner expliziten Logik. Es ist auch kein Signifikat oder sonst ein Ding an sich. Es ist exakt der Laut – der, genau genommen, ein Klang ist –, der es dem Kind ermöglicht, anzufangen, mitzumachen.

Das Kind ist geboren, der Schmerz hat aufgehört zu wühlen in der Mutter; aber es wird noch eine kleine Weile dauern, bis ihre neue Identität wirklich Besitz von ihr ergreift. Sie sieht auf das Kind hinunter und kann den Blick nicht abwenden: stunden- und tagelang. Sie sieht in ihm das absolut Besondere, Einzigartige, in einer synästhetischen Vielstimmigkeit, die jeder Beschreibung spottet. Die absolute Besonderheit des Kindes erfüllt sie mit einem Drang, einem Glück und einer Art Begehren, von deren Existenz sie bisher nichts ahnte: als sei ein bisher unbekanntes Organ in ihr zur Aktivität erwacht.

Es ist gewiß ein normaler, sinnvoller Zustand, der sie erfaßt hat, denn ohne diese synästhetische Wahrnehmung der Einzigartigkeit wäre sie dem, was auf sie zukommt, nicht gewachsen. Nur ist es zugleich ein Zustand des normalen Wahnsinns. Paradoxerweise vermag sie wegen der absoluten Besonderheit, die sie in dem Kind sieht, das konkrete Kind nicht zu erkennen. Ebenso könnte sie ein Antilopenbaby in ihren Armen halten, wie eine Artemis (oder, wie unlängst eine wilde Löwin, die ein neugeborenes Antilopenjunges als ihr Kind betrachtete: als ihr eigentliches Produkt. Antilopen sind bekanntlich der begehrteste Fraß des Löwengeschlechts. Die Löwin verhungerte fast während der Wochen, in denen sie das Antilopenkind schützte und nährte. Als sie schon sterbensschwach war, wurde das Kitz von einer anderen Löwin gefressen).

Was dem normalen Wahnsinn der Mutter ein Ende setzt, ist nicht der Vater oder die wiederkehrende Vernunft oder ein sonstiges kulturelles Prinzip. Ihr mystisches mütterliches Begehren (eine Mystik freilich ohne Religion) zerschellt am Kind selbst. Dieses zwingt ihr sein Gesetz auf. Im Untergang ihrer Mystik wird die Mutter zum Subjekt (eine Unterworfene), erhält sie ihr Ich, das weder ein männliches noch ein weibliches Ich ist, sondern das eines dritten Geschlechts.

Was fordert dieses Gesetz von ihr? Die Tatsache, daß sie jetzt ein Kind hat, kostet sie nicht nur einen Großteil ihrer Zeit, sie verliert nicht nur ihre Freiheit, weil das Kind so viel von ihrer Aufmerksamkeit verlangt. Sie muß vor allem hinnehmen, daß von ihrem gesamten Handeln, Tun und Sein nicht der damit verbundene Wille gefragt ist, nicht die Vorstellung, nicht die Bedeutung, nicht die Intention, nicht der Zweck, nicht die Funktion und auch nicht der Wunsch; sondern nur das Implizite, von dem sie selbst meist nichts weiß: nur dieses einzige, das einem anfänglichen Wesen zur Anknüpfung, zur Wahrnehmung taugt.

Weshalb aber bedarf es dazu eines dritten Geschlechts? Oder anders gefragt: Warum ordnet Platon der chora eine Mutter und im gleichen Atemzug ein drittes Geschlecht zu? Die Interpreten haben sich im Laufe der Jahrhunderte darauf geeinigt, darin eine Metapher, einen Vergleich zu sehen, und lasen: Chora sei wie eine Mutter, wie ein drittes Geschlecht. Doch damit ist hinsichtlich des dritten Geschlechts keine Erkenntnis gewonnen: Es ist nur wiederum wie eine Mutter. Zudem stellen wir fest, daß wir keine Ahnung davon haben, wie oder was eine Mutter sei. Wir kennen ihre kulturellen Rollen ein wenig, aus einer Reihe von Doppelikonen: Instinktwesen/Heilige (die nach getaner Arbeit gen Himmel fährt), Lustobjekt/Erzieherin (die den Vater auf der Zunge hat, sagt Lacan), Gebärmaschine/ Karrierefrau (die den Vater ausgespien hat), und so weiter. Diese Bestimmungen haben ihren jeweiligen Kulturrahmen und sind insofern schon in Ordnung. (Das heißt, sie entsprechen der kulturellen Ordnung.) Aber reicht diese Ordnung aus für eine Mutter?

Eine kurze Weile, und das Kind in ihren Armen beginnt sich zu regen. Es soll losgehen, das Kind will anfangen. Aber wo und wie bitte fängt so ein neugeborener Mensch an? Von kultureller Ordnung weiß er nichts; sie aber kennt bisher keine andere als diese. Sie geht ordnungsgemäß vor, nach Vorschrift: Als erstes kommt die Liebe, viel Liebe, das ist wichtig, außerdem gibt sie ihm Milch, Wärme, Pflege, Sorge, ihren ganzen Opfermut und noch vieles mehr. Über all das wird das Kind sein Leben lang kein Wort verlieren; und sollte es dies, später einmal, dennoch versuchen, so wird ihm, bei aller Liebe, die Zunge schwer, der Kopf dumpf: Was war es, was damals ablief? Kein Bild und kein Vers vermag es angemessen zu erfassen, geschweige denn ein Dank; die richtige Form ist nicht zu finden.

Die Natur der Mutter, heißt es bei Platon, sei es, "aller Form ledig" zu sein, und "möglichst geruchlos". Ein "gestaltloses Gebilde, das in einer ganz absonderlichen Weise an dem nur Denkbaren teilnimmt und nur sehr schwer begreifbar ist." Dies ist exakt die Position, in der sie vor dem Kind steht: Eine Gestalt kann es in ihr nicht erkennen. Daß sie etwas ist (ein "Gebilde"?), das "teilnimmt", ist möglicherweise das erste, was es dumpf empfindet. Daß sie "in einer ganz absonderlichen Weise" am Denkbaren teilnimmt, liegt gewiß daran, daß sie einen Anfang machen soll, wo kein Anfang ist. Denn es ist nichts an ihr, das nicht seit Menschengedenken immer schon dagewesen wäre. Um wahrlich einen Anfang zu erzeugen, bedürfte es eines Gottes, einer Idee, eines Ursprungs. Sie aber ist kein solch erzeugendes Prinzip, sie besteht aus lückenloser Tradition, durch und durch eine Trägerin, ganz und gar diesseitig. Wo sollte hier, in diesem reibungslos laufenden Diesseits, Platz für einen Anfang sein, gar den trivialsten, den nacktesten aller Anfänge? Daß die Mutter dennoch dem Anfang "Statt" gibt (chora, die Stätte, der Ort), ist das, was sie so "schwer begreifbar" macht.

Doch was die Runde der Philosophen an den Rand ihrer Kräfte bringt, schafft der Säugling mühelos. Noch während sie ihn badet, bettet, wickelt, füttert, legt er los. Ihr primäres Geschlechtsmerkmal ist jetzt ihr Gesicht; das weiß nur er, und daran hält er sich. Er sieht keine Liebe, keine Hingabe, keine Sorge, keine Erschöpfung; vorbei an allen denkbaren diskreten Affekten, die dieses Gesicht widerzuspiegeln vermag, sucht er beharrlich nach jenem "Dritten", das am Denkbaren nur "teilnimmt", auf absonderliche Weise: weil es nur das Implizite ist, das selbst nicht gedacht wird.

Daß das Implizite, dem Wortsinn nach, eingewickelt, eingefaltet ist, hat seine Berechtigung darin, daß es irgendwo in der Tiefe der Gehirnwindungen stecken muß. Stets geht es mit etwas anderem einher, das gewissermaßen das Eigentliche ist, jenes, worüber wir uns verständigen. Es scheint, als könne das Implizite ohne einen Träger, in den es eingebettet ist, niemals erscheinen; für sich, isoliert, hat es keine Beschaffenheit. Und doch muß der Säugling geradewegs dort eindringen, à tout prix, es geht ums Überleben. Gebrauchen kann er es nur ohne das, womit es einhergeht: Denn das Verständige sagt ihm nichts. Er braucht es nackt, seiner eigenen Natur entsprechend. Und: Er braucht es nicht als Zuwendung, nicht als Gabe, er braucht es als Element, wie die Luft, die er atmet.

(…)

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