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Inhaltsverzeichnis

LI 148, Frühjahr 2025

Alexander der Große

 Drei Gespräche über den Mythos der Weltherrschaft

ICH, HERR DES WELTKREISES

Alexander Demandt: Der Historiker geht meistens von den Schriftquellen aus, im Unterschied zum Archäologen, der die Sachquellen in den Vordergrund stellt. Wir haben von den zeitgenössischen Historikern Alexanders nichts, und zwar deswegen, weil in der Kaiserzeit, also 400 Jahre später, Flavius Arrianus alles zusammengefaßt hat, was in älterer Literatur vorhanden war. Er hat den Klassiker geschrieben, seine große Alexanderbiographie, die allen späteren Beschäftigungen mit Alexander im wesentlichen zugrunde liegt.

Alexander Kluge: Was mag es zu seiner Zeit gegeben haben? Da gibt es doch die amtlichen Tagebücher wie bei Bonaparte.
Alexander Demandt: Alexander ist derjenige Staatsmann, der als erster systematisch versucht hat, seine Taten der Nachwelt zu überliefern, indem er ein Kriegstagebuch hat führen lassen, indem er Leute bezahlt hat, die alles aufgeschrieben, alles erforscht haben, was um ihn geschieht und mit ihm zu tun hat. Daraus ist eine große Alexander-Literatur geworden. Wir kennen die Namen von etwa 15 bis zwanzig Schriftstellern, die sich in seiner Zeit und kurz danach mit ihm beschäftigt haben, von denen aber nur Fragmente erhalten sind. Alexander hatte eine Abteilung für „Public Relations“. Er hat seinen eigenen Nachruhm organisiert. Sein großes Vorbild war Homer, der den Achill gefeiert hat. So wollte er auch gefeiert werden. Er hat zwar keinen Homer gefunden, aber es hat nichts daran geändert, daß er genauso berühmt oder noch berühmter geworden ist als Achill.

Alexander Kluge: Er ist noch berühmter geworden, obwohl die ursprünglichen Quellen alle verlorengingen.
Alexander Demandt: Er hat sich gegen die Ungunst der Überlie­ferung durchgesetzt. Das muß mit seinem Charakter, mit seinem Schicksal und mit seinem Glück zusammenhängen.

Alexander Kluge: Welche Ausdrücke für Glück hätten Sie in bezug auf Alexander?
Alexander Demandt: Das sind „Fortuna“ und „Tyche“, das Glück, das gleichzeitig auch das Schicksal impliziert. Die Antike hat sich schon Gedanken darüber gemacht, ob Alexander mehr durch seine Leistung oder eher durch Glück das geschafft hat, was er vollbracht hat. Die Gegner Alexanders behaupteten: „Das war alles nur Glück.“ Die Anhänger sagten: „Das war seine eigene Leistung.“

Alexander Kluge: Kairos ist zum Beispiel ein kleiner Glücksgott.
Alexander Demandt: Kairos ist der günstige Augenblick. Alexander hatte einen glücklichen Augenblick erwischt. Wenn sein Vater nicht mit vierzig Jahren ermordet worden wäre und er noch dreißig Jahre hätte warten müssen, bis er König wird, dann wäre aus seiner ganzen Laufbahn nichts geworden. Weil dieser Glücksfall, der Tod seines Vaters, ihm zustatten kam, hat man schon früh behauptet, er hätte seine Finger im Spiel gehabt und als Drahtzieher den Mord seines Vaters verschuldet. Aber das ist sicherlich unhistorisch.

Alexander Kluge: Aber wenn er bei Issos oder Gaugamela in kurzer Zeit, also binnen einer Stunde, vordringt in die Nähe des Dareios, dann packt er das Schicksal am Schopf.
Alexander Demandt: Alexander war von seinem eigenen Glück überzeugt. Er hat sich in einer unverantwortlichen Weise Gefahren ausgesetzt, die auch seine Generale schockiert haben. Wie kannst du dich so bloßstellen? Das darfst du nicht tun. Aber Alexander hat gesagt: „Mir kann nichts passieren. Die Götter sind auf meiner Seite.“ Als er aus Indien zurückkam und entdeckte, daß seine Satrapen in seiner Abwesenheit eine große Mißwirtschaft betrieben haben, hat er sie bestraft, weil sie an seiner Rückkehr zweifelten.

Alexander Kluge: Seit Max Weber nennt man das „Charisma“. Es heißt „Gnade“, aber auch „Glückshaut“.
Alexander Demandt: Auch „Reiz“ oder „Anmut“. Die Chariten sind Göttinnen der Anmut. Das ist ein ästhetisches Phänomen. Alexander war von einer Selbstsicherheit, die ihm auch gestattete, eine Toleranz auszuüben, die unverständlich war. Nach dem Sieg über Dareios gab es noch drei legitime achämenidische Thronfolger, die er alle geschont hat. Diese hat er in seinen eigenen Stab aufgenommen. Er hat nicht gefürchtet, daß einer von ihnen sich gegen ihn empören könnte. Tatsächlich hatte er auch Glück mit dieser Auffassung. Denn nach seinem Tode gab es in Persien keinen Aufstand gegen sein Vermächtnis. Im Gegenteil, die Perser haben ihn betrauert. Sie haben ihn höher geschätzt als ihren legitimen König.

Alexander Kluge: Insofern ist er doch kein Spieler; auch wenn er auf Glück vertraut und auf Unwahrscheinlichkeit setzt, scheint es doch so, daß er besonnen vorgeht. 
Alexander Demandt: Das hängt auch mit seinem Langzeitplan zusammen. Man hat ihm vorgeworfen, nach dem Sieg bei Issos hätte er sofort die Verfolgung aufnehmen müssen. Aber dann hätte er nach Osten ziehen müssen. Ägypten hätte er unerobert im Rücken gehabt. Dareios hatte auf diese Weise die Chance, ein neues Heer aufzubauen. Aber Alexander hat gesagt: „Es ist egal, wie viele Soldaten der Dareios hat. Wenn ich ihm begegne, schlage ich ihn.“ Er war ein Draufgänger, hat sich direkt auf den Perserkönig konzentriert und ihn persönlich angegriffen. Auf der anderen Seite hatte er nichts gegen ihn, hat ihn nie verteufelt. Er hat ihm gesagt: „Die Götter haben mir das Perserreich beschert. Wenn du anderer Meinung bist, müssen wir darüber streiten.“ Das war ein Zweikampf. Alexander hat sich geweigert, Dareios bei Nacht anzugreifen. Alle Welt sollte sehen, daß er der Stärkere war. Das kann nur bei Tage geschehen. Wenn Alexander bei Nacht Herr geworden wäre über die Perser, dann hätten die Leute gesagt: „Das war kein Kunststück, sondern Betrug. Den Mann erkennen wir nicht an.“ Aber auf diese Weise wurde klar, daß er der Stärkere und der von den Göttern Begünstigte war.

Alexander Kluge: Dieses Selbstbewußtsein ist das Gegenteil der depressiven Haltung, mit der die Führenden im Ersten Weltkrieg keinen Frieden zustande bringen. Sie wissen, daß Weihnachten 1914 eine Pattsituation entstanden ist. Auch Bonaparte kann keinen Frieden schließen mit Metternich in Dresden wegen dieser depressiven Haltung: Wenn ich einmal aufhöre zu siegen, bin ich erledigt. 
Alexander Demandt: Das unterscheidet Alexander auch von Napoleon und Hitler. Denn Alexander ist zurückgegangen. Er hat den Feldzug nicht endlos weiter fortgesetzt. Es war nicht freiwillig, wie man weiß. Die Soldaten haben gestreikt, aber immerhin hätte er die Möglichkeit gehabt, mit einer Kerntruppe weiterzuziehen. Er hätte sie zwingen können. Aber Ptolemaios hatte diese geniale Idee, nachdem Alexander sich eingeschlossen hat in seinem Zelt und in Hungerstreik getreten ist, die Götter zu befragen. Wenn die Soldaten protestieren, dann hat das für Alexander keine Bedeutung. Aber wenn die Götter gegen ihn sind, dann muß er zurück. Die Götter waren freundlicherweise auch vernünftig und haben den Rückzug angeordnet.

(…)

Alexander Kluge: Könnten Sie einem Außerirdischen erklären, wer Alexander der Große war?
Alexander Demandt: Alexander ist zunächst der Eroberer. Aber daneben ist er der Städtegründer. Er hat überall die Zivilisation gefördert, hat teilweise auch barbarische Riten zu verhindern versucht. Er hat die Religionen vor Ort gefördert und war nicht zuletzt ein Entdecker. Er hat einen Forscherstab gehabt, der nichts weiter zu tun hatte, als alle Pflanzen, alle Tiere, alle Gebräuche, alle Sprachen, alle Bodenschätze aufzuzeichnen, um diese in der Welt bekannt zu machen. Diese Verbindung von Orient und Okzident ist die eigentliche Leistung von ihm. Es gibt keine Kultur und keine politische Grenze mehr zwischen diesen beiden Bereichen, sondern das Ganze ist ein großer Kosmos. Es ist der erste große Versuch einer Globalisierung.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 149 erscheint Mitte Juni 2025.