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Lettre 144, Kunst Mathias Deutsch
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Inhaltsverzeichnis

LI 144, Frühjahr 2024

Der Kerker der Welt

Das Zeitalter der Aufklärung als offene Baustelle

(…)

Alexander Kluge: Die artes liberales sind ursprünglich die dienenden Wissenschaften. 
Steffen Martus: In der Universitätsrangordnung waren sie die Propädeutik, also das, was man heute Grundstudium nennen würde. Es gab im 18. Jahrhundert den Versuch, eine große Umwertung vorzunehmen. Was früher das Niedrige war und damit das Minderwertige, sollte das Grundlegende und Fundamentale sein. Aber es war auch eine Infragestellung der Ordnung insgesamt, weil man den Hierarchien nicht mehr getraut hat. Insofern handelt es sich tatsächlich um eine philosophische Machtergreifung durch Kant, mit einem diktatorischen Anspruch. In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bringt er die Metapher, daß er eine kopernikanische Revolution angezettelt habe, also eine Wende um 180 Grad. Wer einen Richtungswechsel um 180 Grad vornimmt, wendet sich von seiner Gegenwart ab, dreht den Kopf in eine andere Richtung. Er fragt sich nicht mehr, wie man mit dem, was zuvor da war an Popularphilosophie oder was in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht wird, etwas anfangen, kreativ arbeiten kann. Es war ein großes Abräumunternehmen. Moses Mendelssohn nannte ihn deswegen auch den „alles zermalmenden Kant“.

(…)

Alexander Kluge: Wo sind die Auswege aus dem Kerker der Welt?
Steffen Martus: Das ist nicht der große Ausbruch, der inszeniert wird, sondern ein langsames Graben und Kratzen an den Mauern, bis sie dünn und porös werden und schließlich so etwas wie Auswege ermöglichen.

Alexander Kluge: „Hans Affe ist des Nachruhms werth. Er hat die Gegend aufgeklärt.“ Das geschieht durch Abbrennen.
Steffen Martus: Das macht auch Kant. Er klärt die Gegend aus seiner Perspektive auf durch einen philosophischen Brand, den er inszeniert. Das ist ein philosophisches Abräumunternehmen, das sich auch gegen die Philosophie richtet, die den Menschen nahekommen wollte, die sozialverträglich sein wollte und die sich vor allem an die Neigungen der Menschen anschließen wollte. Kants Philosophie wurde hingegen als eine intellektuelle, aber auch als eine emotionale Zumutung wahrgenommen. Deswegen beginnt die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? nach diesem großartigen Passus damit, daß Kant sein Publikum beschimpft als eine faule Bagage, die nicht dazu bereit ist, genügend Anstrengung und Energie in die Lektüre von philosophischen Schriften zu investieren. Das Gedicht von Johann Friedrich Zöllner handelt von einem Affen, der einen Urwald in Brand setzt und dafür gefeiert wird, er habe die Welt aufgeklärt durch diesen Urwaldbrand, durch dieses Inferno, das er entfacht hat. Dieser Text rahmt die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Und zwar ist es nicht nur dieses Gedicht, das den Rahmen bildet, sondern das Heft, in dem Kants Aufsatz steht, wird zugleich abgeschlossen mit einem Text vom Hofmedicus des preußischen Königs, Selle, der Kants gesamte Philosophie radikal in Frage stellt. Innerhalb dieses Rahmens, eines Gedichts, mit dem man sich über die Aufklärung als ein äffisches, infernalisches Unternehmen lustig macht, einerseits und der philosophischen Infragestellung von oben herab andererseits, wird Kant zunächst plaziert. Wenn am Ende der Aufklärung die Frage gestellt wird, was die Aufklärung ist, dann ist das auch eine Art Einsammeln der Epochenangebote, welche die Aufklärung unterbreitet hat. Die Aufklärung begreift sich als ein epochales Unternehmen und damit als etwas, was von keinem einzelnen jemals intendiert, was von keinem einzelnen eingesetzt wurde. Es hat sich vielmehr in einer seltsamen Gemengelage immer deutlicher ergeben. Am Ende hat es sich so deutlich ergeben, daß man die Frage nach dieser Epoche hat stellen können, aber zu einem Zeitpunkt, als die Aufklärung sich selbst radikal schon wieder in Frage gestellt hat. Die Epochalität der Aufklärung ist etwas, was eminent dazugehört. Verschiedene Personen, Institutionen, gesellschaftliche Bereiche erzeugen auf einmal Wechselwirkungen und eine Dynamik, die zumindest im Rückblick eine Zeitalterzäsur hervorgebracht hat.

(…)

Alexander Kluge: Die Universität ist ein akademisches Bergwerk, das Geld ins Land bringt, weil es Freiheit signalisiert.
Steffen Martus: Es soll vor allem im Bereich Göttingens auch Staatsbürger und Beamtennachwuchs hervorbringen. Das sollen Beamte sein, denen man nicht sagen muß, daß sie dieses und jenes machen sollen, sondern von denen man die Selbstverpflichtung auf die Sache des Staates erwartet, vor allem im philologischen Bereich. Die Philologie war damals eine Modernisierungsdisziplin. In diesem Bereich wird immer auch Staatsbürgerkunde, Staatsbürgerausbildung betrieben, dergestalt, daß man Menschen braucht, die aus sich selbst heraus das wollen, was Ziel des Unternehmens ist. Das wird an der Universität Göttingen vor allem in Seminaren gemacht. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Geschichte des Seminars.

Alexander Kluge: „Seminar“ heißt „Pflanzstätte“ oder „Baumschule“.
Steffen Martus: Das ist der Ort, wo die erwachsenen Pflanzen, die Dozenten, mit dem fruchtbaren Material, den Studierenden, zusammenkommen und in dieser Gemeinschaft etwas erzeugen, was so nie anders hätte erzeugt werden können. Mit diesem Seminar, das eingerichtet wird im Bereich der Altertumswissenschaften, ist der Erfolgsschlager des deutschen Universitätssystems begründet worden, der im 19. Jahrhundert in die Welt exportiert wird und für das gesorgt hat, was man heute unter dem Schlagwort der „Humboldt-Universität“ versteht. Einige Mitglieder des Göttinger Hains, also eines Dichterbundes, der sich rund um Klopstock herum entwickelt, waren Besucher dieses Seminars. Man kann auf der einen Seite sehen, wie diese Seminartätigkeit viel mit dem zu tun hat, was diese Göttinger Hainbrüder wollen: Zusammenarbeit, kollektive Kreativität, eine bestimmte Form von Eigenständigkeit. Sie wollen geistige Aktivität im Leben mit Geselligkeit verbinden. Weil beides viel miteinander zu tun hat, muß beides auch miteinander konkurrieren. Es gibt diese Übertragungsmöglichkeiten, aber der Göttinger Hain geht nicht mit der Universität zusammen. Entweder man ist Göttinger-Hain-Mitglied oder Universitätsmitglied. Diejenigen, die Teil dieser Veranstaltungen des Dichterbunds waren, wurden aus dem universitären Seminar rausgeschmissen, weil sie eine Form von Eigenständigkeit entwickelt haben, die zumindest innerhalb des akademischen Systems nicht mehr zu gebrauchen war.

Alexander Kluge: Jakob Michael Lenz versucht zeitweise bei Goethe unterzukommen, aber er ist zu wild, zu rebellisch.
Steffen Martus: Der Göttinger Hain wird teilweise dem Sturm und Drang zugeordnet und ist eine rebellische Formation. Hier treffen seltsame Personen zusammen, die zuvor im 18. Jahrhundert wenig Begegnungschancen hatten. Da ist der Sohn eines ehemaligen Leibeigenen, da sind hochadlige Menschen, die zusammenarbeiten. Das ist schon eine ungeheure Ballung von sozialen Herkünften. Lenz ist einerseits dieser Rebell gewesen. Wenn man sich aber seine Dramen anschaut, dann hat er diese Rebellion in den Dramen in Form von Tragikomödien durchgeführt. Wenn man sich seine Dramentheorie anschaut, sind die Komödien diejenige Dramenform, die er reserviert für Gesellschaftszusammenhänge, für eine Darstellung, wie einzelne einregistriert werden in ihre sozialen Bedingungen. Die Tragödie ist als Charaktertragödie die Dramenform, die der Darstellung des großen einzelnen dient. Wenn er nun vor allem Tragikomödien macht, also solche Dramen, wo es schwer zu entscheiden ist, ob es die Bedingungen sind oder das Individuum ist, dann kommen die Komponenten Individualisierung, neue Formen der Vergesellschaftung, der Einbindung des einzelnen in die Gesellschaft zusammen. Es zeigt sich eine Spannung, die das 18. Jahrhundert insgesamt ausmacht und die im Sturm und Drang explodiert, weil bei Goethe, bei Lenz, bei Herder unendlich darüber geklagt wird, daß der einzelne keine Möglichkeit hätte, sich frei und ungehemmt seinen Neigungen nach zu bewegen. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.