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Cover Lettre International 44, Shirin Neshat
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Inhaltsverzeichnis

LI 44, Frühjahr 1999

Das Charisma des Erfolges

Aufstieg und Fall des Führers Adolf Hitler aus heutiger Sicht

(...)

Einen erstaunlich überzeugenden Kompromiß hat Ian Kershaw für den wohl hartnäckigsten Dissens der NS-Forscher seit Ende der sechziger Jahre gefunden. "Intentionalisten", die den Nationalsozialismus in letzter Instanz auf Hitlers Person - seine weltanschaulichen Pläne und seine zentrale Machtposition - zurückführen, stehen bis heute "Strukturalisten" oder "Funktionalisten" gegenüber, die diese Machtposition durch den Nachweis einer "polykratischen" Herrschaftsstruktur, "Ämteranarchie" und Konkurrenz zahlreicher paralleler Institutionen stark relativieren. Die Alternative lautet: starker oder schwacher Diktator. Wie aber konnte Hitler erreichen, daß seine Pläne trotz des Kompetenzchaos umgesetzt wurden? Eine 1934 gehaltene Rede des Staatssekretärs Willikens im Reichsernährungsministerium liefert Kershaw die Kompromißlösung und ein Leitmotiv für die gesamte Hitler-Biographie: "Jeder an seinem Platz im neuen Deutschland" habe die Pflicht zu versuchen, "im Sinne des Führers ihm entgegen zu arbeiten", aus eigenem Antrieb, ohne auf Befehle von oben zu warten. Für Kershaws analytische Zwecke ist dies ein bestens geeignetes Zitat, scheint es doch zu belegen, daß der Führerwille auch ohne strikte Befehlsstruktur zum Handeln motivierte, ja zur Überbietung anderer und zur "kumulativen Radikalisierung" (Hans Mommsen) der Politik antrieb.

Hitlers absolute Macht, die viel mehr von Popularität getragen als durch den - nach den "Wirren" der Weimarer Republik als Ordnungsfaktor weithin gebilligten - Terror erzwungen wurde, gab ihm die Möglichkeit, alle für ihn wesentlichen politischen Entscheidungen ohne Rücksicht auf andere treffen zu können. Trotzdem war Macht "um ihrer selbst willen" keineswegs, wie Alan Bullock und viele andere behauptet haben, "das einzige Dogma des Nationalsozialismus". Uneingeschränkte Macht bildete für Hitler allerdings die notwendige Voraussetzung, um seine welthistorischen Pläne zu realisieren. Dabei gebrauchte er die Partei, die NS-"Bewegung", die ihm persönlich bis in den Tod verpflichtete SS, aber auch den Staat oder das Militär als bloße Instrumente für seine Ziele. Auch wenn wichtige politische Entscheidungen getroffen wurden, ohne daß Hitler unmittelbar beteiligt war, konnte er meistens sicher sein, daß dies in seinem Sinne geschah. Als über allem schwebende Integrationsfigur des Regimes und der Nation mußte er Distanz halten zum Regierungsalltag und zum Regierungsapparat. Dies ging so weit, daß das Kabinett von Jahr zu Jahr immer seltener zusammentrat, bis nach dem 5. Februar 1938 überhaupt keine Kabinettssitzungen mehr stattfanden. Das dadurch erzeugte und für das Dritte Reich charakteristische Chaos in Entscheidungsprozessen und Verwaltungsangelegenheiten entsprach durchaus Hitlers Strategie des "Teile und herrsche". Viele neue Ämter und Apparate wuchsen wie Pilze aus dem Boden, und Sonderbevollmächtigte und persönliche Stäbe des Führers agierten abgekoppelt von der Reichsregierung. Zudem bestand ein "Dualismus von Partei und Staat", da es neben den Ministern noch Reichsleiter, neben den Reichsstatthaltern in den gleichgeschalteten Ländern Gauleiter und neben der Reichskanzlei eine Parteikanzlei gab. Seine Paladine, die meistens - wie Göring - mehrere wichtige Ämter innehatten, waren Hitler widerspruchslos und treu ergeben und buhlten in ständiger Konkurrenz um seine besondere Gunst.

Aus all dem resultierte ein unüberschaubares Kompetenzgerangel. Letzten Endes hing der reale Einfluß jeder Person im Dritten Reich, welche Position innerhalb der Hierarchie sie auch einnahm, davon ab, ob und wie oft sie Zugang zu Hitler hatte. Walther Darr, immerhin Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, "Reichsbauernführer", Reichsleiter, Leiter des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes und ein fanatischer Blut-und-Boden-Ideologe, bemühte sich Ende der dreißiger Jahre zwei Jahre lang erfolglos um einen Termin beim Führer, mit dem er über die schwierige Versorgungslage der Bevölkerung reden wollte.

So bleibt Hitler auch bei Kershaw der ausschlaggebende Faktor der nationalsozialistischen Politik. Ohne Hitler wäre es vielleicht zu einer deutschen Variante des in vielen europäischen Ländern attraktiven Faschismus gekommen, nicht aber zu einem terroristischen und totalitären "SS-Staat", zu einem allgemeinen europäischen Krieg und zur "Endlösung der Judenfrage". Sie ergaben sich nicht aus bestehenden Konstellationen oder zufälligen Situationen, sondern aus den fest fixierten Plänen Hitlers, aus dem, was er seine "Weltanschauung" nannte. Von keinem anderen Individuum der neueren Geschichte läßt sich behaupten, daß es seine eigenwilligen Überzeugungen so konsequent, kompromißlos und mit solcher Machtfülle in die Tat umsetzen konnte wie Hitler. Für die Millionen, die ihm folgten, war die Person des Führers unersetzlich, nicht aber deren einzelne Überzeugungen. Summarisch schienen diese jedoch für die erstaunlichen Erfolge verantwortlich und daher probat und adäquat zu sein.

Unabdingbare Voraussetzungen für den Hitler-Mythos waren nicht zu bestreitende Fähigkeiten. Ohne seine rhetorische und auch schauspielerische Begabung hätte Hitlers Karriere als Politiker gar nicht erst begonnen. Schon 1920 und 1921, als er noch in geräumigen Bierlokalen und im Zirkus Krone Reden schwang, galt er als Publikumsmagnet. Rhetorik hieß für ihn: inhaltlich sehr vereinfachte und an die Gefühle appellierende Botschaften, ständige Wiederholungen, effektvolle Pausen und eine furiose Steigerung zum Ende hin. Abgesehen von seinem Organisationstalent ergänzten weitere Fähigkeiten Hitlers affektive Wirkung auf die Massen: sein hervorragendes Gedächtnis, seine Kombinationsgabe, mit deren Hilfe er viele Sachverhalte blitzschnell miteinander verband, und sein Sinn für die einfache Lösung komplizierter Probleme. Zudem verfügte er über ein schier untrügliches Gespür für die Schwächen der jeweiligen Kontrahenten und für den "richtigen Augenblick" des Handelns und Zuschlagens. Die meisten seiner Gegner haben den anfangs groben, linkischen Mann, der oft unsicher und geradezu schüchtern auftrat, fahrlässig unterschätzt. Die Konservativen, die wähnten, den neuen Reichskanzler in die Kabinettsdisziplin einbinden und dadurch bremsen zu können, irrten sich gewaltig. So ging es vielen nach ihnen, auch auf der außenpolitischen Bühne.

In zahlreichen entscheidenden Momenten war Hitler ein bewußter Vabanquespieler, der auf "alles oder nichts" setzte, der aber die Nerven behielt und so einen Coup nach dem anderen landen konnte. Er legte größten Wert darauf, seine Gegner zu überraschen, sei es im Westfeldzug mit der Operation "Sichelschnitt" - starke Panzerverbände stießen durch die Ardennen und die schwache gegnerische Front Richtung Ärmelkanal vor und schnitten die alliierten Streitkräfte in Belgien ab -, sei es im Rußlandfeldzug mit dem Bruch des Hitler-Stalin-Paktes. Wieso konnte sich der Hasardeur seiner Sache so sicher sein? Weil er zahlreiche Krisen "gemeistert" und relativ schadlos überstanden hatte. "Krisen waren Hitlers Elixier", betont Ian Kershaw. Sie traten schon früh auf und bargen jedesmal ein extremes Risiko: der gescheiterte Putsch, die Strasser-Krise, die Röhm-Krise, die ôsterreich-Krise, die Sudetenland-Krise undsofort. Hitlers notorische Entscheidungsschwäche erregte immer wieder Erstaunen und Lähmung bei seinen engsten Gefolgsleuten. Waghalsige Entschlüsse zögerte er oft bis zum allerletzten Moment hinaus, nachdem er im innersten Kreis schon mit Rücktritt oder Selbstmord gedroht hatte. Häufig war er eher der Initiator als der Motor offensiven Vorpreschens. Doch mit jeder wiedergewonnenen Handlungsfreiheit und jedem Erfolg wuchs Hitlers unerschütterliches Vertrauen in sich selbst und den Beistand der "Vorsehung" und damit wiederum der "Führer-Mythos".

Bedeutende Erfolge verdankte Hitler einigen tüchtigen Fachleuten und Neuerern wie dem Präsidenten der Reichsbank Hjalmar Schacht, der einen erheblichen Anteil am - avant la lettre - "Wirtschaftswunder" des Regimes hatte, und Fritz Todt, dem Leiter des Autobahnbaus, oder Albert Speer, der Hitler zuerst als Architekt und später als Rüstungsminister unentbehrlich wurde. Deren Erfolge waren zum Teil aber auch Hitlers Erfolge, denn er hat ihr innovatives Potential erkannt und genutzt. Vergleichbares gilt auf militärischem Gebiet. Als Oberster Befehlshaber zeigte sich Hitler aufgeschlossen für neue Operationsweisen mit Hilfe modernster Waffensysteme wie Panzer, U-Boote, Düsenjäger und Raketen. In seinem anregenden Essay Anmerkungen zu Hitler (1978) schreibt Sebastian Haffner: "Er fällte, gegen die noch überwiegende Mehrheit der Fachmilitärs, die Entscheidung für die Schaffung integrierter, selbständig operierender Panzerdivisionen und Panzerarmeen", was in den ersten Kriegsjahren die Feldzüge zugunsten des Dritten Reiches entschied. Freilich war es Guderian, der die durchschlagende Offensivkraft der Panzerwaffe frühzeitig erkannt und propagiert hatte, doch ohne die Aufgeschlossenheit Hitlers wäre er in der aussichtslosen Position einer Minderheit geblieben.

Im Februar 1940 ließ sich Hitler von dem ihm bislang unbekannten Erich von Manstein, dem Stabschef einer Heeresgruppe, davon überzeugen, daß dessen neuer Plan für den Westfeldzug kühner und erfolgversprechender sei als Hitlers eigener Plan - der auf Schlieffens Konzept von 1905 beruhte, mit einem sehr starken rechten Flügel über Belgien das französische Heer halbseitig zu umfassen. Mansteins "Sichelschnitt" hingegen sah vor, mit der Masse der Panzer durch die Ardennen vorzustoßen, das schwache Zentrum der französischen Verteidigung zu überrennen, so schnell wie möglich die Kanalküste zu erreichen und so die alliierten Kräfte zu durchschneiden. Nachdem Hitler auf diese Weise Frankreich besiegt hatte, ließ er sein militärisches Genie feiern. Manstein wurde zum General befördert.

In vielen Bereichen begeisterte sich Hitler, der sich selbst als "Narr der Technik" bezeichnete, für modernste Technologien. Er wußte die neuesten Mittel der Massenkommunikation zu nutzen: das Radio, das seine Reden via "Volksempfänger" in 11 Millionen Wohnstuben trug - zusätzlich waren im Freien 6000 Lautsprechersäulen aufgestellt -, und die Wochenschauen in den Filmtheatern. Am 22. März 1935 wurde im Dritten Reich sogar schon ein regelmäßiger Fernsehbetrieb eröffnet, rechtzeitig für die Übertragung der Olympischen Spiele. Hitlers Aufgeschlossenheit für moderne Technik teilte sich den begeisterten Massen bereits 1932 mit, als er unter dem Motto "Hitler über Deutschland" von einer Wahlkampfetappe zur nächsten flog. An die Macht gelangt, trieb er den Bau von Flughäfen voran, beschleunigte die Elektrifizierung der Eisenbahn und befahl, München mit der ersten U-Bahn auszustatten. Als demonstrativer "Autonarr", der sich gerne am Design seiner Lieblingsmodelle beteiligte, unterstützte Hitler den Rennsport und förderte die Automobilindustrie und den Autobahnbau.

Die "Straßen Adolf Hitlers" galten als Ausdruck einer neuen, siegreichen Weltanschauung. Auch die mit viel Propaganda für den künftigen "KdF-Wagen" ("Kraft durch Freude"-Wagen) verbundene Gründung des späteren Volkswagenwerks sollte der räumlichen Mobilität der "Volksgenossen" dienen. "In zehn Jahren (wird) besonders der Kraftwagenverkehr ein ungeheurer sein", prophezeite Hitler 1938 in einer Rede und entschied noch 1942 für die Zeit nach dem Krieg: "Jede Wohnung soll auch ihre Garage haben." Sein Vorbild war der bekennende Antisemit Henry Ford, den er wegen der Effizienz seiner Automobilfabriken bewunderte. Was Amerika seinen Bürgern bot, sollten auch die Deutschen bekommen: den Massenkonsum erschwinglicher Markenartikel und den Komfort gesunder, geräumiger und funktional eingerichteter Mietwohnungen. Von der Technik im Haushalt erwartete Hitler, daß sie die Hausfrauen entlastet. Also gesellte sich zum "Volksempfänger" der "Volkskühlschrank". Um es Amerika gleichzutun, plante Hitler sogar - obwohl sie als undeutsch empfunden wurden - Wolkenkratzer, "von der gleichen Gewalt der größten amerikanischen".

Ende der achtziger Jahre begann eine Debatte um die gewagte Frage, ob Hitlers Zielsetzungen als historisch rückwärtsgewandt oder gar als "modern" zu betrachten seien. Mit dem Anspruch, den Nationalsozialismus zu "historisieren", publizierte der junge Historiker Rainer Zitelmann 1987 seine Dissertation unter dem Titel Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs. Mit einer Unmenge von Zitaten korrigierte er die auch unter Historikern weit verbreitete Auffassung, Hitler sei an wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen wenig interessiert gewesen, habe eine Utopie der "Reagrarisierung" befürwortet und die zwangsläufig modernisierenden Effekte seiner Politik nur widerwillig hingenommen. Das übliche Zerrbild vom "Reaktionär" Hitler ersetzt Zitelmann durch das des sozialen "Revolutionärs", der das Primat der Politik vor der ôkonomie verfocht, die privatwirtschaftlichen Interessen den staatlichen unterordnete und die konventionelle Hierarchie der Klassen und Stände mit all ihren Schranken zu beseitigen trachtete.

Innerhalb der deutschen "Volksgemeinschaft" sollten jedem Begabten "alle Pforten offenstehen" (Monologe, 27./28.9.1941) - auf der Grundlage prinzipieller Egalität und "Chancengleichheit". Dies galt nicht nur für das Offizierskorps, das sich im Laufe des Krieges verjüngte, seine Rekrutierungsbasis enorm verbreiterte und auf den althergebrachten Kodex der Standesehre verzichtete, weil er nicht mehr dem Zivilleben der neuen Offiziere entsprach. Auch dem tüchtigen deutschen Arbeiter winkte nach seiner "Entproletarisierung" die Aufnahme in die egalisierende "Leistungsgemeinschaft". Ausschlaggebend war aber nicht der propagierte "Adel der Arbeit", sondern der ökonomische Nutzen der individuellen Arbeitskraft, so daß durch die Hintertür wieder die liberalistische Konzeption des freien Individuums eingeführt wurde. Seinen Ausdruck fand dies in materiellen Anreizen, Akkordlöhnen und "Gesundheitsprämien", seit 1934 auch in "Reichsberufswettkämpfen".

Immerhin befürwortete Hitler "ein gewisses Existenzminimum für die Ärmsten" und ließ Robert Ley, den Führer der Deutschen Arbeitsfront - die die Nachfolge der verbotenen Gewerkschaften usurpierte -, ab 1940 eine reformfreudige und umfassende Sozialpolitik erarbeiten. Im Zuge dessen kam es zur Umgestaltung von Arbeitsstätten, zum Ausbau der betrieblichen Sozialleistungen und zu einem auch präventiven Gesundheitswesen. Als spektakulären Erfolg des Nationalsozialismus empfanden die deutschen Arbeiter, daß ihnen neue Möglichkeiten erschlossen wurden, ihre Freizeit zu kultivieren. So organisierte die NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude, die populärste Unterorganisation der Deutschen Arbeitsfront, neben Kulturprogrammen auch Urlaubsreisen: 10,3 Millionen im Jahre 1938. Durch den fortdauernden Krieg rückte die Vision eines "Wohlstands für alle" innerhalb des vom Großdeutschen Reich beherrschten europäischen Wirtschaftsraums in weite Ferne.

Selbstverständlich blieben diese Chancen und Gratifikationen allen identifizierten "Minderwertigen" und "Untermenschen" vorenthalten, die es zu vermindern oder zu vernichten galt. Nach Hitlers Willen sollte sich noch der letzte deutsche Pferdebursche jedem Slawen überlegen fühlen. Schließlich verfügte die deutsche Nation in seinen Augen über das stärkste "Kontingent germanischen Blutes". Daß sich das deutsche Volk dennoch aus verschiedenen Rassebestandteilen zusammensetzte, war Hitler klar. Um der Einheit der "Volksgemeinschaft" willen wandte er sich aber schärfstens gegen vorauseilende Diskussionen über Vor- und Nachteile dieser oder jener rassischen Komponente. Aus rein äußerlichen Rassemerkmalen bestimmte Begabungen abzuleiten, lehnte Hitler strikt ab: "Nicht nach dem Äußeren, sondern nach ihrer Bewährung" (Monologe, 27.1.1942) seien die Menschen für die Elite auszusuchen. Die höhere "geistige Rasse" offenbare sich durch bewiesene Fähigkeiten. Das ist zwar ein Zirkelschluß, doch im realen, unter Zeitdruck stattfindenden Rekrutierungsprozeß erwies sich die vermeintlich biologische Rassenlehre als untauglich.

In eingeschränktem Sinne war der Nationalsozialismus "revolutionär", indem er schon in der kurzen Zeit von zwölf Jahren eine soziale Mobilität ungeahnten Ausmaßes förderte. Davon profitierten vor allem der leistungsorientierte "neue Mittelstand" und die jüngeren Akademiker, die zur Zeit der Weltwirtschaftskrise um ihre Zukunft gebangt hatten. Viele verdankten dem NS-Regime ihre berufliche Laufbahn, nicht wenige ersetzten die emigrierten oder vernichteten "Feinde" des Dritten Reiches. Mehrere Biographien der letzten Jahre, darunter die richtungweisende Arbeit Ulrich Herberts über den SS-Obergruppenführer Werner Best - Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989 (1996) -, zeigen, welches dogmatische, arrogante, aber "kühle" Selbstverständnis die Intellektuellen der neuen Elite des Dritten Reichs kennzeichnete.

"Es war die jüngste und flexibelste akademische Elite, die in Deutschland je zur Herrschaft gelangte", resümieren Götz Aly und Susanne Heim in ihrer materialreichen Studie Vordenker der Vernichtung (1991): "Diese Akademiker fühlten sich frei, ihre Utopien zu verwirklichen. (...) Ihr Projekt war das einer deutschen Intelligenz, die sich für berufen hielt, Deutschland und Europa mit Gewalt und binnen weniger Jahre umzustrukturieren." Frei von moralischen Skrupeln und Rücksichten auf gewachsene Traditionen, entwickelten sie eine "Expertokratie", die durch eine Revolution von oben den europäischen Kontinent total und rücksichtslos neu gestalten sollte. Dabei beflügelten die politischen und militärischen Erfolge des Führers den "Machbarkeitswahn" dieser neuen Elite. Ihre Angehörigen, von denen viele kurz vor oder nach 1933 ihr Studium beendet hatten, begannen im NS-Regime eine steile berufliche Karriere. Aus professionellen Gründen stand für sie die technokratische Optimierung von Problemlösungen, egal ob es sich dabei um Landschaftsplanung oder die "Umsiedlung" und physische Vernichtung eines unproduktiven "Menschenüberschusses" handelte, im Vordergrund und nicht eine absolute ideologische Linientreue. Gerade deshalb waren diese Experten vielseitig verwendbar.

Für seine "Weltanschauung" beanspruchte Hitler eine rationale und empirische Basis. So mißbilligte er den mystischen Urgermanenkult eines Himmler oder Rosenberg als Nachäffung der christlichen Kulte: "Unser Kult heißt ausschließlich: Pflege des Natürlichen und damit auch des göttlich Gewollten." Ob man daraus aber wie Zitelmann den Schluß ziehen kann, Hitler habe sich mit seinem "Kultus der Vernunft" "ausdrücklich in die Tradition der französischen Aufklärung" gestellt, deren Humanismus er ja schärfstens bekämpfte, ist mehr als fraglich. Zwar profitierte Hitler persönlich vom Erbe der Französischen Revolution, ohne das es für ihn als einfachen Bürger überhaupt nicht möglich gewesen wäre, auf demokratischem und "legalem" Wege in die höchste Machtposition aufzusteigen, doch stehen die wesentlichen Elemente seiner Programmatik ganz konträr zu den Ideen von 1789: zu den allgemeinen Menschenrechten, der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung.

Schon Ende der zwanziger Jahre wurde Hitler von der Sorge getrieben, sein vorzeitiger Tod würde die Vollendung seiner Mission verhindern. Sich als Werkzeug und unverzichtbarer Vollstrecker der Geschichte betrachtend, setzte er die historische Weltzeit maßlos mit seiner persönlichen Lebenszeit gleich. Kein Wunder, daß er, der sich so gerne der Faulheit und Muße hingab, immer wieder in eine hypernervöse Unruhe verfiel. Dann beschleunigte er aufs neue die Dynamik "seiner" Revolution und die alle Bereiche umfassende Vorbereitung auf den "Schicksalskampf", in dem es auf sein Geheiß um Sein oder Nichtsein der Deutschen gehen sollte. Obwohl ihn hochrangige Militärs wiederholt - 1938, 1939 und 1941 - vor einem übereilten Krieg warnten, ließ sich Hitler nicht beirren.

Der Sieg über den "Erbfeind" Frankreich markierte den Höhepunkt seiner Karriere, die am 5.Dezember 1941 verlorene Schlacht um Moskau und die nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor (7.12.) nahezu zwangsläufige deutsche Kriegserklärung vom 11.12 an die USA bedeutete den Anfang vom Ende des Dritten Reiches. Hitler muß gewußt haben, daß er den Krieg nicht mehr gewinnen konnte, wenn die Alliierten bis zum Ende zusammenhielten. Nachdem er am 19.12.1941 den Oberbefehl über das Heer übernommen hatte, nahm er die Geschicke des deutschen Volkes von nun an in die eigene Hand, wurde in seinen Befehlen von Mal zu Mal starrsinniger und trat immer seltener in der Öffentlichkeit auf, als wolle er zur Einsamkeit seiner Jugend zurückkehren. Daß das Gros der Deutschen bis zuletzt an seinen Führer geglaubt hat, ist schwer nachvollziehbar. Doch die allgegenwärtige nationalsozialistische Propagandamaschinerie hatte dem Volk den Glauben an den "Endsieg" eingetrichtert, noch 1945 den Einsatz von "Wunderwaffen" versprochen und komplementär die Angst vor einer maximalen Vergeltung durch die vom "Weltjudentum" angeführten Alliierten verbreitet. Am Ende erlitt der erfolgreichste Emporkömmling der modernen Geschichte die totale Niederlage - bis auf eine Ausnahme aus seiner Sicht: die grauenhafte Ermordung von sechs Millionen Juden.

Ian Kershaw mutmaßt, kein anderes Individuum habe das 20.Jahrhundert so nachhaltig geprägt wie Adolf Hitler. Er hinterließ Millionen von Opfern, ein völlig besiegtes Deutsches Reich, ein zerstörtes Europa und eine mit ihm untergegangene Epoche, die nur von kurzer Dauer war. Doch auch ohne Hitler wäre die Sowjetunion zur Weltmacht aufgestiegen, wäre es zu einer polarisierenden Konfrontation zwischen ihr und den Vereinigten Staaten gekommen, hätte Großbritannien früher oder später sein Kolonialreich aufgeben müssen. Überdies erwies sich der individualistische American way of life als historisch so gut wie konkurrenzlos. Zu den mit Hitlers Wirkung relativ eng verknüpften historischen Konsequenzen zählen allenfalls die Existenz des Staates Israel und ein ewig gültiges Feindbild für eine internationale und universalistische Wertegemeinschaft. Ex negativo hat Hitler einem weltweiten moralischen Konsens den Weg bereitet. Ein Diktator wie er wird nicht wiederauferstehen.

Welche Fragen zu Hitler bleiben für den Historiker offen? "Hitler hatte kein Geheimnis, das über seine unmittelbare Gegenwart hinausreichte", schrieb Joachim Fest 1973. "Hitler war, ist und bleibt ein Problem", meint dagegen John Lukacs in seinem Buch The Hitler of History (1997): Man werde niemals genug, geschweige denn alles über ihn wissen. Die von ihm hinterlassenen schriftlichen Dokumente seien einfach zu spärlich. Das größte Hindernis besteht jedoch darin, daß die Persönlichkeit Hitlers hinter der Maske seiner Führerrolle verschwindet oder besser gesagt: sich entzieht. Statt auf einen eigentümlichen und konstanten Charakter trifft man auf Vorspiegelungen, auf ein propagandistisches Bilderalbum: auf den "Kunstkenner", den "Kinderfreund", den "Hundeliebhaber", den "Autonarr", den "Filmfan", den "Bergwanderer", den "Vegetarier". Hitlers intimste Bedürfnisse, sehnlichste Wünsche und geheimsten Ängste bleiben jedoch verborgen. Deren Kenntnis ist nicht unentbehrlich, um seine Taten oder die von ihm zielstrebig verfolgten politischen und welthistorischen Pläne nachzuzeichnen. Deren Unkenntnis läßt aber ein Gefühl der Leere zurück und provoziert die wildesten Spekulationen.

Auf biographischer Spurensuche konnten bis heute wichtige Details entdeckt werden. Endgültigen Aufschluß über die sich wandelnden Motive Hitlers vermögen sie nicht zu geben. Auch die erhaltenen Aufzeichnungen einiger später Monologe verraten nur so viel über die Privatperson, wie diese preisgeben wollte. Im übrigen wurde Hitler im Lauf der Jahre selbst immer mehr zum Opfer des Führer-Mythos und korrigierte in diesem Sinne eine Vielzahl seiner vergangenen Erlebnisse. Wenn aus all diesen Gründen der Psychologe im Historiker unbefriedigt bleibt, sei er getröstet: Entscheidend ist nicht die - sowieso niemals eindeutige - Antwort auf die Frage, ob jemand Haß nur rhetorisch inszeniert, er zum Haß aufgestachelt wurde oder sich dessen Wurzeln in der Kindheit finden. Ähnliche psychologisch-biographische "Ursachen" können diametral entgegengesetzte Wirkungen hervorrufen - und umgekehrt. Historisch entscheidend sind die Taten und ihre Konsequenzen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.