LI 91, Winter 2010
Der Wahlmonarch
Frankreichs labile Demokratie zwischen Republik und PräsidialsystemElementardaten
Textauszug
(Auszug/LI 91)
Die französische Geschichte ist reich an politischen Erdbeben und blutigen Revolutionen; Könige stürzten, der Klerus wurde entmachtet, die Aristokratie aus dem Sattel geworfen; die Bourgeoisie eroberte die Macht und schlug ihrerseits den rebellierenden Proletariern die Köpfe ein; nichts blieb an Ort und Stelle – nichts außer dem sturmfesten Sockel des Zentralismus. Zur Zeit Ludwigs XIV. war es der absolutistische Staat, der alle Konkurrenten um die Macht an den Hof band, um sie dort hautnah zu überwachen. In der Revolution war es der Wohlfahrtsausschuß, der die lokalen Autonomiebestrebungen brutal unterdrückte. Heute wird Frankreich von einem Präsidenten regiert, der über eine in der westlichen Welt einmalige Machtfülle verfügt. Kein Watergate könnte ihn stürzen. Kaum an der Macht, kontrolliert, nominiert, eliminiert, zentralisiert er. Er beherrscht Frankreich mit Hilfe einer Schar von Präfekten, die, wie einst die Intendanten der Könige, seine Entscheidungen in die fernsten Regionen und Landkreise tragen, den Bau von Hochspannungsleitungen verfügen, für die Bekämpfung von Hochwasser verantwortlich sind und die seit kurzem in Frankreich Mode gewordene Jagd auf illegale Ausländer koordinieren. Seine Minister befinden sich auf Schleudersitzen und stehen, wie am Hofe Ludwigs, unter ständiger Beobachtung der Beraterclique des Staatschefs. Alle Initiativen verdanken sich „der Anregung“, „dem Einvernehmen“, „der Absprache“ mit dem Präsidenten. Wehe dem Minister, der es in einem Interview zu sagen vergißt! Der Präsident entscheidet, die Regierung nickt, das Parlament stempelt ab.
Man kann in Frankreich über die Existenz Gottes streiten, über die Macht der Sekten, über Gewalt im Fernsehen und Sex im Internet – nur über ein Thema nicht: das notwendige Ende der Fünften Republik. Es ist mir ein Rätsel, warum im Land der Revolution die Franzosen ihren Präsidenten seit Jahren als „Wahlkönig“ denunzieren, aber nichts unternehmen, um das Amt abzuschaffen. Ob sie den Präsidenten hassen oder lieben – sie können ohne ihn nicht leben. Und doch kenne ich in Westeuropa kein Land, in dem der Staatschef so mächtig und das Parlament so ohnmächtig ist. Ich rede nicht nur von den sattsam bekannten royalistischen „Prärogativen“ des „Wahlmonarchen“, die seit de Gaulle darin bestehen, daß er jederzeit die Regierung vor die Tür setzen oder das Parlament auflösen kann, indes er unantastbar über den Gesetzen schwebt – ich rede von Nicolas Sarkozy, der seinen Premierminister bezahlt, aber nicht beschäftigt, da er selbst den Ministern befiehlt; der die Intendanten der öffentlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten höchstpersönlich ernennt, also staatliche Zensur ausübt, und der der Staatsanwaltschaft, die unter der Kuratel des Justizministers steht, diktiert, wen sie anzuklagen und wen sie laufen zu lassen hat – kurz, der die Zentralisierung der Macht auf eine bisher nie bekannte Spitze getrieben hat. Er kontrolliert die Legislative, die Exekutive und die Judikative. Gewaltenteilung zum Zwecke demokratischer Machtbegrenzung? Nicht in Frankreich! Einmal gewählt, ist der Präsident, ein Wiedergänger der absolutistischen Tyrannen, sakrosankt. Frankreich, das Land der Revolution, hat seinen König geköpft, aber seinen Präsidenten himmelt es an. Ich rede vom Amt, nicht vom Mann.
Erfunden hat es General de Gaulle. „Was mir vorschwebte, war eine Synthese zwischen Monarchie und Republik“, sagte er seinem Minister Alain Peyrefitte. „Eine monarchistische Republik?“ fragte dieser verblüfft. „Sagen wir lieber: eine republikanische Monarchie.“ Hauptwort: „Monarchie“, Beiwort: „Republik“. Die Präsidialherrschaft, die das französische Volk 1958 durch Volksabstimmung akzeptierte, ist, historisch betrachtet, ein Sieg der Konterrevolution über die Revolution in jenem erbitterten Kampf, der seit 1789 die französische Geschichte antreibt. Es ist nicht das erste Mal, daß das Volk, um einer Krise zu entkommen, einem General alle Macht in die Hände gab: erst Napoleon I., dann Pétain, zuletzt de Gaulle, damit er mit dem politischen Chaos, den Kolonialkriegen und den Bombenattentaten in Paris endlich Schluß mache. Gelungen ist ihm beides: die Dekolonisierung Algeriens und die Liquidierung der parlamentarischen Demokratie.
Dieser illustre Feind aller Parteien und Kryptomonarchist, der die Franzosen „Kälber“ nannte, ein Bewunderer Francos, präzisierte am 31. Januar 1964 auf einer denkwürdigen Pressekonferenz, „daß die unteilbare Autorität des Staates dem Präsidenten vom Volk anvertraut wurde und daß keine andere existiert, weder eine zivile noch eine militärische noch eine juristische“. Die französische Nationalversammlung ist seither die Parodie eines Parlaments mit wandelnden Schatten, die Kommissionen ernennen, abstimmen, disputieren, den Saal aus Protest verlassen, schlafen oder kindische Zwischenrufe erfinden und dabei immer nur die Entscheidungen des Präsidenten absegnen. Des Präsidenten Macht ist grenzenlos, nicht erst seit Sarkozy. Er schmeißt den Premierminister hinaus, zwingt den Intendanten eines öffentlichen Radios, zwei ihm unliebsame Komiker zu entlassen, ersetzt den Direktor der Villa Medici in Rom, fordert die Société Générale auf, ihren Bankdirektor auf die Straße zu setzen, drängt dem Ersten Fernsehen seinen Wahlkampfmanager auf, rettet mit Hilfe der französischen Armee einen afrikanischen Tyrannen, schickt seine Sportministerin nach Südafrika, um die Nationalmannschaft aufzumöbeln, und wird am Ende seiner Amtszeit automatisch Verfassungsrichter. Er kann auch, wenn er will, auf den Atomknopf drücken. Er jongliert mit den Institutionen. Er schuldet keinem Rechenschaft, duldet keinen Widerspruch. Macht ist eine Droge, sie berauscht. Man erinnere sich nur an das übertriebene Pathos de Gaulles, an die hochnäsige Arroganz von Giscard D’Estaing, die mumienhafte Selbstzufriedenheit Mitterrands. Hatte der nicht, als er noch in der Opposition war, die Präsidialherrschaft einen „permanenten Staatsstreich“ genannt? Einmal im Amt, kitzelt die Machtfülle die miesesten Eigenschaften aus den Menschen heraus. Wovon andere nur träumen: ihre Feinde zu vernichten, ihre Gegner zu entwaffnen, ihre Freunde zu befördern, ihre Familie zu erhöhen, wird für sie real. Nur daß es jetzt Tyrannei, Clanwirtschaft, Nepotismus heißt. Nepotismus ist ein Sonderfall des Zentralismus. Nichts ist zentraler als die eigene Familie. Mitterrand traute seinem Außenminister nicht und schickte seinen Sohn Jean-Christophe als Sonderbotschafter nach Afrika, wo er einen streng geheimen Verkehr mit den afrikanischen Diktatoren unterhielt. (Papamadit – „Papahatmirgesagt“ war hier sein Spitzname.) Die Tochter Chiracs, Claude, seine engste Mitarbeiterin, filterte alle Besucher, die ihren Vater sprechen wollten, war seine einflußreichste Beraterin, wählte seine Anzüge und Krawatten aus und beeinflußte seine politischen Entscheidungen. Bezahlt wurde sie aus der Kasse des Elysée-Palastes.
Nicolas Sarkozy ist nicht anders als seine Vorgänger. Autokraten, Verächter des Parlaments waren sie alle. Es ist wahr: Er liebt das Rampenlicht, sie liebten den Halbschatten; er hat es eilig, sie nahmen sich Zeit; er belagert die Medien, sie hielten Distanz zu ihnen. Aber er „mißbraucht“ keinen „Geist der Fünften Republik“, wie einige Kommentatoren behaupten. Ihr sogenannter „Geist“ ist die absolutistische Herrschaft eines Mannes, dessen einziger Gegner das Volk ist, das alle fünf Jahre den Sack seiner Frustrationen und Forderungen auf der Straße ausschüttet. Er mag ein Flegel sein, ein eitler Fatzke, eine machthungrige Person; aber undemokratisch ist nicht der Präsident, undemokratisch ist das Amt. Sarkozy genießt es freilich.
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