LI 103, Winter 2013
Ortstermin Oradour
Ein ungesühntes Kriegsverbrechen, das nicht aufhört nachzuwirkenElementardaten
Genre: Essay, Historische Betrachtung, Recherche
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Textauszug
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit war in Deutschland und in Frankreich kürzlich von einem Ereignis die Rede, das auf geheimnisvolle Weise unsichtbare Fäden bis heute zieht. Es handelt sich um das Massaker von Oradour-sur-Glane.
In meiner Erinnerung waren die Ereignisse von Oradour bis vor kurzem im mythischen Nebel des Zweiten Weltkriegs versunken; der Ortsname klang schaurig wie die Namen Coventry, Lidice, Guernica, bis ich am 29. Januar 2013, über 68 Jahre nach dem Verbrechen, im Fernsehen zu meiner Verblüffung deutsche Fahnder sah, die, von französischen Gendarmen begleitet, die seit Kriegsende unberührte Ruinenstadt betraten und einen Ortstermin organisierten, um sich an Ort und Stelle den Ablauf des Massakers erklären zu lassen – genauer formuliert, um die Schuld von sechs ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS der Panzer-Division Das Reich zu klären, gegen die der für nationalsozialistische Massenverbrechen zuständige Staatsanwalt Andreas Brendel aus Dortmund Ende 2011 ein Ermittlungsverfahren wegen Beteiligung an Mord eingeleitet hatte.
Man muß es ein historisches Datum nennen, denn der deutsche Justizbeamte, der es wagte, seine Füße an jenen Ort zu setzen, war der erste überhaupt, der das Dorf seit seiner totalen Zerstörung durch die Waffen-SS in offiziellem Auftrag betrat. Die Einwohner des neuen Oradour, das unmittelbar neben dem alten erbaut worden war, trauten ihren Augen nicht. Seit Kriegsende hatte die westdeutsche Justiz die Aufklärung des Blutbads systematisch verhindert, die Mörder geschützt, die französischen Auslieferungsanträge abgewiesen und die Verantwortlichen bis zu ihrem Tod frei herumlaufen lassen.
Was hatte Andreas Brendel vor? Handelte es sich um einen ehrlich gemeinten Versuch, die Schlächter endlich zur Rechenschaft zu ziehen, oder war es nur der zynische Epilog einer fünfzig Jahre währenden Obstruktionsstrategie einer deutschen Justiz, welche sich nun, kurz vor dem Ableben der letzten Beteiligten, den Luxus erlaubte, so zu tun, als könne noch irgend etwas repariert werden? Die Chancen dafür wären verschwindend gering. Drei der noch lebenden ehemaligen Mitglieder der SS-Division Das Reich sind „verhandlungsunfähig“, die anderen leugnen jede Beteiligung am Blutbad: Sie hätten die Straßen zum Dorf abgesichert, nichts gehört und nichts gesehen. Einer der Männer behauptete sogar, dem Befehl zu schießen nicht gehorcht zu haben – schwer zu glauben, schwer zu widerlegen.
In der Hoffnung, ein paar letzte Beweismittel zu finden und die Aussagen der alten Soldaten mit dem Ablauf des Massenmords zu konfrontieren, ließ sich der Stellvertreter Brendels alles haarklein erklären. Wie die Deutschen am 10. Juni 1944, kurz vor 14 Uhr, das Dorf umzingelt hatten und mit Panzerfahrzeugen ins Zentrum gefahren waren. Wie sie die Bevölkerung unter dem Vorwand einer Identitätskontrolle auf dem Dorfplatz versammelt und wie sie die Alten und Kranken, die außerstande waren, das Haus zu verlassen, in den Häusern und Betten erschossen hatten. Wie sie die Männer von Frauen und Kindern getrennt, diese dann in die Dorfkirche gezwängt und jene in sechs Scheunen untergebracht hatten. Wie sie eine Brandbombe in der Kirche gezündet, den Kirchturm gesprengt, Handgranaten geschmissen und die Frauen und Kinder, die aus den Fenstern flüchten wollten, mit Maschinengewehren niedergemäht hatten. Wie sie dann das Feuer auf die Scheunen eröffneten, die verletzten Männer mit Nackenschüssen töteten, sie mit Stroh bedeckten und anzündeten, so daß die noch Lebenden bei lebendigem Leibe verbrannten. Wie fünf Männer aus einer dieser brennenden Scheunen durch Hintertüren und Hinterhöfe haben flüchten können und sie zusammen mit einer Frau, der schwerverletzt die Flucht aus der Kirche gelungen war, die einzigen Überlebenden des Massakers waren. Wie die Deutschen dann alle Häuser des Dorfes in Brand steckten, nicht ohne sie vorher gründlich geplündert zu haben, aber eines davon, das Haus Lepic, verschonten, weil es einen großen Weinkeller besaß. Wie sie ihre Taten in diesem Keller ertränkten, bevor sie das Haus am nächsten Morgen bis auf die Grundmauern niederbrannten. Bilanz: 642 Tote. Außer den Einwohnern und den Kindern der Nachbardörfer, die in Oradour zur Schule gingen, handelte es sich um von Franco verjagte spanische Republikaner, vertriebene Lothringer, jüdische Familien, die aus der besetzten Zone geflohen waren, Polen, Ungarn, Flüchtlinge aus Nordafrika: ein wahrer Mikrokosmos der verfolgten Menschheit. Die älteste der Ermordeten war neunzig Jahre, die jüngste acht Tage alt.
Von den Schülern Oradours überlebte nur der knapp achtjährige Roger Godfrin aus Lothringen, der sich durchs Maschinengewehrfeuer hakenschlagend über die Glane rettete. Retten konnten sich auch die drei jüdischen Geschwister Pinède, die, aus ihrem brennenden Haus flüchtend, auf einen deutschen Soldaten trafen, der sie mit heftigem Winken zur Flucht antrieb: die einzige überlieferte Geste des Erbarmens an jenem Tag, an dem man Menschen in Brunnen warf, in den Rücken schoß, bei lebendigem Leib verbrannte.
(…)
Oradour kommt in Mode. Oradour erhält Besuch. Deutsche Kriminalbeamte treten in Kontakt mit französischen Gendarmen, ein Dortmunder Staatsanwalt wird vom französischen Fernsehen interviewt, Zeugen werden vernommen, das Verbrechen wird rekonstruiert. Sogar Bundespräsident Gauck betrat am 4. September 2013 als erstes deutsches Staatsoberhaupt, in Begleitung des französischen, den verwunschenen Ort, um im Namen Deutschlands Vergebung zu erlangen – derselbe Gauck, der den Deutschen die beunruhigenden Worte gesagt hatte, „die Angst vor dem Fremden“ sei „tief in uns verwurzelt. Wir würden wohl irren, wenn wir davon ausgingen, daß sie sich gänzlich überwinden ließe … Fremdheit zu leugnen“ sei „genauso gefährlich“, wie „Feindschaft“ zu leugnen. Fallen „Fremdheit“ und „Feindschaft“ hierzulande ineinander? Erzeugt das Fremde automatisch feindliche Gefühle? Es soll doch Gegenden in der Welt geben, wo man den Fremden mit offenen Armen empfängt und zu sich ins Haus einlädt.
Oder spielt er auf eine in der deutschen Nation tief verwurzelte Xenophobie an? Ich frage mich gelegentlich, was aus dem Trümmerhaufen des nationalsozialistischen Denkens geworden ist, das von der Niederlage angeblich weggespült wurde, aber doch weiter in den Köpfen herumspukte: der Glaube an die eigene zivilisatorische Überlegenheit, die Idee von der Ungleichheit der Rassen, der eingefleischte Fremdenhaß. Wo sind sie hin, jene von Millionen verkörperten gewaltigen Energien, die den Nationalsozialismus und Hitler trugen?
(…)