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Lettre 144, Kunst Mathias Deutsch
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LI 144, Frühjahr 2024

Kiew im Kampf

Aus der Geschichte einer Festung über Abgründen von Barbarei

(...)

Der wichtigste Aspekt des seit dem 24. Februar 2022 herrschenden Krieges ist die unerbittliche Manipulation von Worten. Niemand in Rußland darf den Krieg „Krieg“ nennen, nur „militärische Spezialoperation“. Die Armee ist keine „Armee“, sondern ein „begrenztes Kontingent einer militärischen Spezialoperation“ oder die „Gesamtheit von privaten Militärkompanien“, die aus Einheiten bestehen, die von zu diesem Zweck begnadigten Sträflingen gebildet worden sind, wie die private „Gruppe Wagner“, die nach ihrer offiziellen Schließung bestehenblieb, indem sie einfach ihren Namen in „Redoute“ änderte. Auch die Ukraine sollte nicht mehr „Ukraine“ heißen, sondern „neue russische Gebiete“. Auch die Ukrainer sollten nicht als „Ukrainer“, sondern als „falsche Russen“ bezeichnet werden.
     Um eine so große Zahl demotivierter Menschen zusammenzuzwingen und in den Kampf zu schicken, gab es in den 1940er Jahren die SMERSch. Heute machen Kadyrows Tschetschenen dasselbe: Sie verfolgen diejenigen, die sich verweigern, die nicht kämpfen wollen, und foltern oder erschießen sie gar. Noch heute gibt es Gulags für Unentschlossene: ein spezielles Lager in Brjanka (Region Luhansk), andere Lager in Perewalsk und das berüchtigte Oleniwka in der Region Donezk.
     Eine der Lieblingsbeschäftigungen der Russen scheinen die „Reenactments“ und „Cosplays“ zu sein, das Nachspielen historischer Momente, die vom Putin-Regime als „ideologisch valide“ angesehen werden. Die Methoden, die Putins Rußland heute anwendet, sind propagandistisch gesehen eine Nachinszenierung von Szenen und Episoden aus dem Krieg von 1941 bis 45 in einer Art makabrem „Remake“. Putin hat schon seit langem in seinen Reden angedeutet, daß er gern als der wiederauferstandene Heilige Wladimir, der neue Iwan der Schreckliche, der neue Peter der Große oder der neue Stalin auftreten würde. Rußland inszeniert einen Krieg, der zum großen Teil phantasiert, theatralisch, nicht auf strategischem Kalkül fundiert ist. Man könnte meinen, sein Hauptmotiv sei die emotionale Wirkung. Es werden sogenannte Retro-Einheiten gebildet, die nicht adäquat ausgerüstet sind und keine modernen Waffen haben, aber „so haben unsere Großväter gekämpft“.
     So grotesk und tragikomisch es auch erscheinen mag, man sollte dieses Verhalten nicht auf die leichte Schulter nehmen. Diktatorische Regime haben sich schon immer des Spiels mit historischen Kostümen („Cosplay“) bedient. Für die Diktatur im heutigen Rußland drückt sich in dieser Spielerei etwas Fundamentales aus. Überall werden Schlachten des Zweiten Weltkriegs nachgestellt und Märsche zu Ehren der im Krieg gefallenen Ahnen veranstaltet, deren Porträts wie Ikonen in einer Prozession getragen werden. Daher mag die Invasion der Ukraine den Russen nicht nur gerechtfertigt erscheinen, sondern eher wie eine nostalgische Nachstellung als wie ein echter Krieg. Eine quasitheatralische, fast unterhaltsame Inszenierung. Dies ist das große Geheimnis historischer Nachstellungen: Selbst wenn man sich in der Haut eines bösen Herodes wiederfindet, hat man letztendlich keinerlei Gewissensbisse …
     Die Gewohnheit, in Begriffen der „Rekonstruktion“ zu denken, hilft der Führung, sich von der Schuld an Niederlagen zu entlasten. Die Propagandisten des Kremls verweisen die Unzufriedenen auf Napoleons Rußlandfeldzug 1812, auf die Kapitulation Moskaus vor den Franzosen oder auf den peinlichen Beginn des Kriegs gegen Hitler. Am 21. Dezember 2022 sagte Putin vor dem erweiterten Kollegium des russischen Verteidigungsministeriums: „Ihr kämpft – ich zögere nicht, diese Vergleiche anzustellen, es sind keine hochtrabenden Worte – genauso wie die Helden des Krieges von 1812, des Ersten Weltkriegs oder des Großen Vaterländischen Krieges.“ Ähnliche Anregungen werden unter den russischen Parlamentariern verbreitet – wir kennen sie, weil sie im Internet aufgetaucht sind: „Die Partei Einiges Rußland empfiehlt den Abgeordneten der Duma, in der Öffentlichkeit zu sagen: ‘Wie in der Schlacht von Stalingrad: Dies ist die Grenze, hinter die man nicht zurückweichen kann.’ Wir müssen sagen: ‘Stalingrad wurde acht Monate lang verteidigt, der Donbass wird es acht Jahre lang sein.’ Wie problematisch unsere Position an der Front auch sein mag, wir müssen darauf bestehen, daß es genauso enden wird wie im Großen Vaterländischen Krieg: Der Feind wird aufgeben, und wir werden unseren Weg zum Sieg fortsetzen.“ Sätze wie diese nähren den Mythos von der Unschlagbarkeit Rußlands. Dabei entbehrt dieser Mythos jeder historischen Grundlage, Rußland hat mitnichten immer gewonnen. Das Russische Reich verlor den Krimkrieg 1856 und den Krieg mit Japan 1905. Die UdSSR verlor 1940 den Finnischen Krieg, in dem sie 130 000 Soldaten gegen 25 000 Finnen opferte, und sie verlor auch den Krieg in Afghanistan (1979–1989).
     Als Rußland unbestreitbar dabei war, auch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verlieren, und sich im Herbst 2022 aus Charkiw und Isjum zurückzog, wurde die Bevölkerung eindringlich daran erinnert, was am 7. November 1941 auf dem Roten Platz geschah: Zur Feier des Jahrestags der Revolution 1917 fand dort die traurige Militärparade statt, nach der die Freiwilligen direkt an die Front zogen. Deshalb zeigte sich Putin am Abend des 7. November 2022 allein auf dem Roten Platz und fuhr in seinem gepanzerten Aurus die hundert Meter, die ihn vom Kremlturm trennten. Am Rand des Platzes standen Hunderte von Leibwächtern. Hinter allen Zinnen der Kremlmauern standen Scharfschützen. Auf dem Platz waren (unbewaffnete) Panzer und anderes militärisches Gerät aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs verteilt. Über (leeren) Granatenkisten stehend, sang ein Chor von Männern in Uniformen der 1930er Jahre den „Heiligen Krieg“ für einen einzigen Zuhörer. Die Anwesenheit von Olga Rodionowa, Repräsentantin der Filmgesellschaft VoenFilm, unterstrich den fiktiven Charakter der Veranstaltung. „Damit habe ich schießen gelernt“, erklärte Putin und deutete auf eine Panzerabwehrkanone von anno dazumal. Das Publikum interpretierte das alles als einen surrealistischen Versuch Putins, auf seine ideelle Teilnahme an den Schlachten des Zweiten Weltkriegs anzuspielen …

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.