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Cover Lettre International 83, Dieter Appelt
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Inhaltsverzeichnis

LI 83, Winter 2008

Krankes Geld

Das Finanzsystem als Kassenpatient. Eine unbequeme zweite Meinung

Die aktuelle Finanzkrise wird gerne in Begriffen der Medizin beschrieben: Der Patient ist dabei das Finanzwesen, der Arzt der Staat und die Therapie des Tages eine beherzte Dosis Infusion …

Ohne Frage zeigt das Finanzsystem zumindest metaphorisch alle Symptome einer akuten Krankheit: Investmentbanken kollabieren, der Kreislauf des Geldes ist gestört, sogar ein Zusammenbruch des internationalen Finanzwesens wird befürchtet. Die Kassenärzte der Gesellschaft – Politiker, ihre Experten und Medien – beugen sich mit einer Mischung aus Ekel und Sorge über den Kranken und konstatieren ebenso schnell wie einhellig: „Marktversagen!“

Wie alle Krankheiten hat jedoch auch diese eine Vorgeschichte. Die akuten Symptome werden erst verständlich, wenn wir uns die Genese des Problems und die Umstände der Erkrankung, das „Milieu“ des Patienten, genauer ansehen.

Das heutige Finanzsystem ist spätestens seit der Übernahme des englischen Zentralbanksystems durch fast alle Nationen ab Anfang des 20. Jahrhunderts kein freies Marktsystem mehr, sondern ein staatlich gelenktes, im Kern planwirtschaftliches System. Es folgt einer Lehre, die von den Neoklassikern der Ökonomie im 19. Jahrhundert verbreitet und über die Keynesianer bis zu den Neoliberalen ausgebaut wurde: Nach ihr ist der Staat nicht Teilsystem des sozioökonomischen Gesamtsystems Gesellschaft, das sich also selbst an die ökonomischen Gesetzlichkeiten des Gesamtsystems halten muß, sondern er steht über der Gesellschaft und damit auch der Ökonomie und kann, ja muß durch politisch definierte „Rahmenbedingungen“ neue wirtschaftliche Gesetzlichkeiten schaffen. Dieser politökonomische Positivismus korrespondierte mit dem juristischen und wissenschaftlichen Positivismus der postliberalen Moderne und führte in das verhängnisvolle nationalistische Autarkiedenken des 19. und 20. Jahrhunderts.

Unser heutiges Finanzsystem steht auf vier recht wackligen Beinen, die in allen seinen Operationen entweder direkt beteiligt oder betroffen sind. Alle diese Faktoren tragen wechselwirksam und auf jeweils eigene Weise zum Verlauf einer Störung bei.

Das erste Bein ist der Anspruch des Staates auf Setzung überökonomischer „Rahmenbedingungen“ als politischer Basis, das zweite besteht aus den Paradigmen der vorherrschenden Volkswirtschaftstheorien als ideologischer Basis, das dritte bildet das deckungslose Währungssystem als finanzielle Basis, und das vierte ist das Bankensystem mit nur teilweiser Kreditdeckung als operative Basis.

Der Hoheitsanspruch des Staates über die Ökonomie zieht sich als roter Faden durch alle ökonomischen Staatstheorien von Marx über Keynes bis zu den Neoliberalen (die heute oft zu Unrecht den Laisser-faire-Libertären zugeordnet werden).

Die Vorstellung, der Staat könne durch Gesetze, Regulierungen und Vorschriften allgemeingültige Marktgesetze außer Kraft setzen, ist zwar ein fundamentaler Irrtum, der zu Verwerfungen, Konflikten und massiven Einbrüchen führt; dennoch ist er Grundbestandteil der herrschenden Staats- und Volkswirtschaftslehre. In einer Wirtschaftskrise versagt aber nicht etwa der Markt, sondern er setzt sich vielmehr gegen die Verzerrungen als Resultat von Manipulationen und externen Interventionen durch. Auch das „System“ versagt nicht im eigentlichen Sinne, es bringt nur das hervor, was darin „systemisch“ angelegt ist.

Die Unabhängigkeit des Marktes vom politischen System ist notwendig, weil wir prinzipiell im Zustand der Unsicherheit leben: Die Zukunft bleibt uns verschlossen, weder Politiker, Wissenschaftler, Computermodelle noch Astrologen können sie vorhersehen. In dieser Welt des permanenten Wandels und der Unvorhersehbarkeit geht es nicht primär um korrekte Prognosen, sondern um schnelle Anpassung an Folgen überwiegender Irrtümer. Und hier bringt nicht die Zentralisierung von Entscheidungen, sondern ihre größtmögliche Dezentralisierung die besten Ergebnisse. Die Stärke des Marktes liegt nicht darin, daß er „immer recht“ hätte (im Sinne eines statischen Gleichgewichts), sondern daß er niemals recht hat – und auch nicht haben will oder haben muß. Wie ein Radfahrer seine Balance nur in der Bewegung hält, niemals im statischen Gleichgewicht ist und schon gar nicht durch einen Schienenstrang stabilisiert werden kann, korrigiert der Markt fortlaufend, zeitnah und dezentral die vielen kleinen individuellen Irrtümer seiner Teilnehmer. Eben darum und weil die Korrekturen in der Regel freiwillig und eigenverantwortlich erfolgen, sind sie insgesamt relativ gering, schmerzarm und unübertroffen wirkungsvoll.

Durch die Einführung von Zwang gepaart mit Zentralisierung werden die Fehler dagegen massiv, ihre Korrektur erfolgt langsam und schmerzhafter. Persönliche Verantwortung wandert von unten nach oben und verschwindet dort letztlich vollständig. Eigenverantwortung als universaler Freiheitswert wird entwertet. Statt dessen erscheint zunehmend Zwang als notwendiger Ersatz zur Stabilisierung der Gesellschaft, die dadurch immer gewaltsamer und gewaltbereiter wird. Das staatliche Bein erscheint nach außen zwar mächtig und stark, aber es ist in Wirklichkeit eine starre Schiene, die den Patienten am selbständigen Gehen hindert …

Das wichtigste Kennzeichen der modernen Ökonomie besteht in ihrem Streben nach Quantifizierung. Ökonomie ist eine soziologische und historische Erklärungswissenschaft, sie beschäftigt sich mit der Beschreibung, Erklärung und dem Verständnis menschlicher Praxis. Was den Menschen fundamental von Tieren unterscheidet, ist seine Sprachfähigkeit und damit verbunden seine Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur bewußten Zielsetzung und zur kreativen Innovation bei der Erreichung seiner Ziele. Diese triadische Beziehung kann auch als freier Wille oder Handlungsfreiheit beschrieben werden. Durch sie wird jedoch der Mensch selbst prinzipiell unvorhersehbar und unberechenbar: Seine Werte und Ziele sind individuell unterschiedlich und nur als wechselnde Rangfolgen von Prioritäten beschreibbar. Seine Kreativität macht seine Handlungen zur Erreichung von Zielen extrem variabel. Wir können die Welt in fünfzig Jahren schon deshalb nicht beschreiben, weil wir nicht wissen können, wie sie sich allein durch menschliche Innovationen und Erfindungen (disruptive technologies) verändert. Jeder Blick in vergangene Zukunftsvisionen bestätigt das.

Im Zeitalter der Physik als Leitwissenschaft muß jede wirkliche Wissenschaft jedoch auf meßbare, im Laborexperiment wiederholbare und damit prognostizierbare Daten aufbauen. Historische und beschreibende Daten, die „nur“ ein qualitatives Verständnis von Zusammenhängen hervorbringen können, werden in diesem Wissenschaftsbegriff nicht ernst genommen. Bereits die neoklassische Ökonomie versuchte deshalb durch Mathematisierung eines statischen Modells des Homo oeconomicus eine quasiphysikalische Konstanz herzustellen. Jedoch gibt es schlicht keine erkennbaren Konstanten des menschlichen Verhaltens.

Ein Höhepunkt der Mathematisierung wurde erreicht, als mit Harry Markowitz 1990 sowie mit Robert Merton und Myron Scholes 1997 führende Finanzmathematiker den Nobelpreis für Ökonomie der schwedischen Zentralbank erhielten. Unter Beifall der Zunft wurde der Welt erklärt, man könne nun ökonomisches Risiko, etwa bei Börsenspekulationen und Versicherungen, mit Hilfe von moderner Mathematik substantiell vermindern, wenn nicht gar beherrschen. Auch in Europa fand diese Lehre breite Unterstützung. 1998 etwa ging die höchste wissenschaftliche Auszeichnung Österreichs, der höher als der Nobelpreis dotierte Wittgenstein-Preis, an den Finanzmathematiker Walter Schachermayer, der auf dem Berliner Weltkongreß der Mathematik im August 1998 verkündete: „Keine Bank, die auf dem wachsenden Markt der Derivate aktiv ist, kann mehr auf die neuen mathematischen Methoden verzichten, wenn sie konkurrenzfähig sein will.“

Die Verwechslung von qualitativen Modellen zur besseren Verständlichkeit eines komplexen Systems mit quantitativen Modellen zur Vorhersage ist kein auf die Ökonomie beschränkter Denkfehler. Er zieht sich durch fast die gesamte moderne mathematisierte Wissenschaft – mit verheerenden Folgen, da sich vor allem die Politik immer mehr auf scheinbar „objektive“ Computermodelle verläßt. Solche Modelle verleihen der mathematischen Ökonomie den trügerischen Schein der Verläßlichkeit und führen zu einer zunehmenden Abhängigkeit von Computermodellen nicht nur an den Börsen und in den Risikoabteilungen von Banken und Versicherungen, sondern auch in der Politik, die ja beansprucht, das Ganze zu steuern und zu kontrollieren. Auch dieses Bein ist also wenig tragfähig.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.