LI 99, Winter 2012
Goethes Bildungsmärchen
Dichtung und Wahrheit als Lehrbuch der politischen KulturElementardaten
Textauszug
Dichtung und Wahrheit läßt mehrere Lesarten zu. Zwar ist der Titel den meisten Lesern bekannt, ja, Dichtung und Wahrheit hat sprichwörtlichen Gebrauchswert – aber zur Gänze wird diese Großerzählung von fast 850 einschüchternden, mit Kommentaren, Paralipomena und Register fast 1.400 Seiten nur von den wenigsten gelesen. Dabei kann die Lektüre trotz oder wegen des unaufgeregt fließenden Sprachduktus und der leichten Hand, mit der eine literarisch-geistige Bilanz des 18. Jahrhunderts gezogen wird, zu einem unschätzbaren Gewinn an Bildung, Menschenkenntnis und zivilbürgerlicher, im besten Sinne demokratischer Haltung führen.
Dichtung und Wahrheit liest sich, wie man so sagt, „leicht“, weil das Buch aus einer erzählerischen Haltung geschrieben wurde, als eine Art Bildungsmärchen: Das Märchenerzählen war ohnehin eine besondere Stärke Goethescher Prosa, die er bei Kindern gerne und mit Erfolg erprobt hatte. Und es ist eine der ältesten volkstümlichen Erzählweisen, die der Autobiograph hier als Mittel zum unauffälligen Zweck – dem der exemplarischen Bildung – gewählt hat. „Das leerste Märchen hat für die Einbildungskraft schon einen hohen Reiz, und der geringste Gehalt wird vom Verstande dankbar aufgenommen.“ Leichter und gefälliger, so wäre hinzuzufügen, als ein lehrhafter, gar noch chronologischer Lebensbericht. Und dann dieses auf den ersten Blick erstaunliche Bekenntnis eines erfolgreichen Dichters und Schriftstellers: „Sollte jemand künftig dieses Märchen gedruckt lesen und zweifeln, ob es eine solche Wirkung habe hervorbringen können, so bedenke derselbe, daß der Mensch eigentlich nur berufen ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede. Der Mensch wirkt alles, was er vermag, auf den Menschen durch seine Persönlichkeit, die Jugend am stärksten auf die Jugend, und hier entspringen auch die reinsten Wirkungen. Diese sind es, welche die Welt beleben und weder moralisch noch physisch aussterben lassen.“ Goethe will mit dieser exemplarischen Biographie auf die Öffentlichkeit bildend wirken: Dichtung und Wahrheit ist, so seltsam es klingen mag, ein Vorlesebuch. Wie die alten Märchen braucht es die Öffentlichkeit als Resonanzraum, um seine, wie er es bildlich ausdrückte, an der Oberfläche verborgene gesellschaftsbildende ethische Kraft zu entfalten.
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Der Knabe Goethe – so seine autobiographische Rekonstruktion – war von früher Kindheit an ein genauer Beobachter der politischen Welt, wie sie im gesellschaftlichen Leben der Freien Reichsstadt Frankfurt wahrgenommen, diskutiert und erlebt wurde. 15 Jahre später resümierte er im Gespräch mit Eckermann den großen Vorteil, „daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergang des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen.“ Was auf den ersten Blick wie ein altersresignatives Sichabfinden mit einem immer gleichen Lauf der Welt klingen könnte, enthält Goethes Maximen einer ethischen Haltung im Gesellschaftlichen und Politischen für ein gedeihliches, friedliches Zusammenleben: Keine „Theorie“, kein soziopolitischer Katechismus, kein abstraktes Programm politischer Bildung. Vielmehr formuliert Goethe den Geist und die politische Haltung, aus der heraus Dichtung und Wahrheit als Vermächtnis eines exemplarischen gesellschaftlichen Lebens geschrieben wurde. (…) Goethe wächst auf in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, deren Bürgerinnen und Bürger schon bei der Erziehung ihrer Kinder auf den Respekt ihrer Privilegien, Rechte und Eigenständigkeiten im Heiligen Römischen Reich nicht nur äußerlich und öffentlich großen Wert legten, sondern sich auch durch stolzes Selbstbewußtsein auszeichneten. Goethe erwähnt beispielsweise die kurzzeitige Arretierung des vom Hofe Friedrichs II. von Preußen fluchtartig abgereisten Staatsgasts Voltaire bei dessen Durchreise in Frankfurt (im Auftrage des Preußenkönigs): „Es mangelte bei solchen Gelegenheiten nicht an Betrachtungen und Beispielen, um vor Höfen und Herrendienst zu warnen, wovon sich überhaupt ein geborener Frankfurter kaum einen Begriff machen konnte.“ Auch registriert er die sukzessive Abschaffung der bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts üblichen Prunkbegräbnisse der vornehmen Patrizier, die von den einfachen Bürgern zunehmend als diskriminierend, protzig und als dem Anstand bürgerlicher Tugend widersprechende „Ochsenleichen“ verspottet wurden. Durch diese Jugendgeschichte und ihre Erinnerungen zieht sich wie ein roter Faden Goethes Sensibilität für Unrecht und Ungleichheit.
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Die aufgeklärte Zivilgesellschaft, an deren Gewebe Goethe sich mitzuwirken anschickt, entsteht seiner Wahrnehmung und Hoffnung nach aus Literatur und gelehrten Diskursen; die Frankfurter gelehrten Anzeigen, an denen er mitarbeitet, werden exemplarisch für eine frische, eine „interdisziplinäre“ Sprache. Und es ist die deutsche Sprache, die hier langfristig als Vorbild zur kulturellen Identitätsbildung beitragen sollte. Kritisch beobachtet Goethe darum die oft lächerlichen Übertragungen italienischer, vor allem aber französischer Idiome ins Deutsche, die „Halbverdeutschung“, eine „durch fremde Worte, Wortbildungen und Wendungen verunzierte Sprache“ – wenn exzessiv betrieben, eine Unsitte, die fatal erinnert an unsere in den letzten Jahrzehnten modisch gewordenen Anglizismen in der gegenwärtigen Wissenschafts- und behördlichen Umgangssprache. Die Leiden des jungen Werther und der Götz von Berlichingen enthalten so gesehen auch sprachlich eine politische Botschaft auf dem Wege zur kulturellen Identität der sich bildenden deutschen Gesellschaft über kleinstaatliche Grenzen hinweg.
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Einen exemplarischen Vorgeschmack des zerstörerischen Eindringens ideologisch-politischer Parteilichkeit in die friedfertige Bürgerwelt lieferte der Meinungsstreit über die kontroverse Einstellung der Frankfurter gegenüber Preußen und Friedrich II. Der Riß ging mitten durch die Familien, im Falle Goethes angeführt von den antagonistischen Positionen der großväterlichen Familien der Textors und der Goethes, die so unvereinbar waren (oder schienen), daß der gesellschaftliche Verkehr abgebrochen wurde – für den Knaben Johann Wolfgang eine Lehre fürs Leben: daß politische Meinungs- und Urteilsbildung Unbeteiligter, weil ohne praktische Konsequenzen, nichts als leeres und sinnloses Räsonieren sei. Nicht sinnlos, vielmehr verantwortungsvoll und praktisch hingegen die kritische Arbeit an Sprache und Literatur: Der Meinungs- und Urteilsstreit auf diesem Felde war entscheidend für eine zu gewinnende geistig-kulturelle Identität. Goethes eigene jugendlichen Arbeiten, vor allem seine frühen, nur noch selten gespielten Dramen – Erwin und Elmire, Die Mitschuldigen, Die Laune des Verliebten, Stella, Claudina von Villa Bella – haben bei allem leichtfüßigen Schein einen tragischen Subtext, der sich speist aus einem mehr gefühlten als verstandenen kritischen Blick „in die seltsamen Irrgänge, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins.“ Goethes soziologischer Blick in die problematischen Tiefen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft unterscheidet sich von dem professioneller Soziologen dadurch, daß es ein ärztlicher Blick ist, der diagnostiziert, aber die Therapie zugleich in seiner Person mitliefert – indem er nämlich gesellschaftlich handelt, solidarische Hilfe leistet für Menschen in Not, sittliche Überzeugungen und Haltungen durch Praxis beglaubigt.