LI 106, Herbst 2014
Trümmer der weissen Gesellschaft
Elementardaten
Genre: Briefe und Kommentare
Übersetzung: Aus dem Englischen von Anne Middelhoek und Karin Sakowski
Textauszug: 1.940 von 14.370 Zeichen
Textauszug
(…)
Auf der Fahrt vom Flughafen über die hochgelegene Straße stürzen meine Augen sich wie besessene Liebhaber auf die Landschaft meiner Kindheit. Die Welt ist erfüllt von Winterlüften und Gras. Das Lenkrad des Leihwagens fest umklammert, taste ich nach den Farben dieses unverwechselbaren Wintergrases und schmiege mich zärtlich mit all meinen Sinnen in die leuchtend blonde Endlosigkeit der Ebenen und die weichsamigen, vom Frost geblichenen Grasfedern. Ich halte an. Ich steige aus und atme den klaren Luftstrom ein und die gesegnete Weite des veld.
Dieser Landschaft entstammen meine Knochen. Ich bin aus dieser Weite des Himmels entstanden, aus diesem wogenden Horizont aus Grashalmen. Ich bin ein Teil davon.
Nördlich von Bloemfontein führt die N1 nach Kroonstad, dem Ort im Norden der Provinz Freistaat im Landesinnern, wo ich aufgewachsen bin. Meine Schwester und zwei meiner Brüder leben immer noch dort. Und meine neunundachtzigjährige Mutter. Zwar haben wir uns im vergangenen Jahr ganz normale, altmodische Briefe geschrieben, doch habe ich sie lange nicht mehr gesehen.
Die zweistündige Fahrt nach Kroonstad führt an meinen Lieblingsorten vorbei. Ich begrüße sie wie längst verloren geglaubte Verwandte. Ah, dort ist die Gruppe von Kameldornbäumen, wo ich einmal den bernsteinfarbigen Umriß eines Schakals erblickte; und hier erstreckt sich die Ebene, ohne irgendeine Spur menschlicher Einwirkung: nirgends ein Drahtzaun, eine Begrenzung oder ein Telefonmast, nicht einmal Bäume, nur eine Woge aus raschelndem Gras; und jenseits der Farm inmitten des Eukalyptuswäldchens werde ich in der Ferne die durchscheinenden rauchblauen Spitzen des Malutigebirges sehen, dessen Blau wie Luft entweicht.
Und plötzlich durchströmt es meinen Nacken, lösen sich die Nähte meiner Körperhülle, und meine Handgelenke werden leicht wie Spucke; hier habe ich zu meiner Zunge gefunden, hier, wo mein Mark entstand, wo das Ich, die Dichterin, geformt wurde.
(…)