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Lettre 142 / Kunst Erich Fischl
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LI 142, Herbst 2023

Die Kunst des Romans

Pariser Unterhaltungen, vom 1. April 2001 bis zum 1. April 2013

Massimo Rizzante: Der Scherz wurde im Westen ohne Umschweife als ein Musterbeispiel für antikommunistische bzw. (wie es damals hieß) „regimekritische“ Literatur rezipiert. Dabei wurde der Roman in der kommunistischen Tschechoslowakei im Frühjahr 1967, also genau ein Jahr vor dem berühmten Prager Frühling, völlig problemlos veröffentlicht ...

ÜBER DEN SCHERZ

Milan Kundera: Als ich 1961 mit der Arbeit am Scherz begann, war ich mir praktisch sicher, daß dieses Buch veröffentlicht werden würde. In den 1960er Jahren, lange vor dem Prager Frühling, waren der Sozialistische Realismus und alle offiziellen Ideologien bereits tot. Sie hatten nur noch eine Fassadenfunktion, die niemand mehr ernst nahm. Das im Dezember 1965 fertiggestellte Manuskript lag etwa ein Jahr lang in den Büros der Zensur, die schließlich keine Änderungen verlangte. Der Roman wurde im Frühjahr 1967 veröffentlicht, erreichte rasch hintereinander drei Auflagen und eine Auflagenhöhe von insgesamt 117 000 Exemplaren. Im Frühjahr 1968 wurde das Buch mit dem Preis des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands ausgezeichnet. Später habe ich den Roman für meinen Freund Jaromil Jireš zu einem Drehbuch umgeschrieben: Er hat daraus einen Film gemacht, den ich bis heute liebe. Die Literaturkritiker schenkten dem politischen Aspekt des Buches wenig Beachtung und hoben statt dessen seine existentiellen Themen hervor („Ein Daseinsroman“ lautete der Titel einer Besprechung von Zdeněk Kožmín). Wie du siehst, fühlte ich mich am Anfang meines Weges als Schriftsteller voll und ganz zu Hause. Aber das war nur von kurzer Dauer. Ein Jahr später, 1968, wurde mit der russischen Invasion wieder ein vorsintflutlicher und intellektuell unterdrückerischer Stalinismus etabliert. Daraufhin verschwand Der Scherz aus den Buchhandlungen und Bibliotheken.

Massimo Rizzante: Und das war der Punkt, an dem das internationale Abenteuer deines Romans begann ...
Milan Kundera: Im Jahr 1967, kurz nach der Veröffentlichung, schickte mein Prager Verlag – vom Erfolg beflügelt – das Buch an das Pariser Verlagshaus Gallimard. Dort wurde das Manuskript wie üblich einem Lektor vorgelegt, in diesem Fall einem in Paris lebenden Tschechen. Der fand den Roman uninteressant, und damit war die Sache erledigt. Wie es der Zufall wollte, erwähnte ein Prager Intellektueller, Antonín Liehm – eine Art Botschafter der inoffiziellen tschechischen Kunst im Ausland – den Roman gegenüber Louis Aragon, der damals große Solidarität mit den regimekritischen Intellektuellen aus den kommunistischen Ländern zeigte (diese Rolle Aragons ist in Vergessenheit geraten, und ich werde nicht müde, daran zu erinnern). Ohne das tschechische Original gelesen zu haben, empfahl er das Buch Claude Gallimard, der beschloß, es zu veröffentlichen. Und wieder spielte der Zufall hinein: Die französische Ausgabe erschien Anfang September 1968, also genau drei Wochen nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei! Unter dem Schock, den dieses Ereignis auslöste, schrieb Aragon – vermutlich spontan und in letzter Minute – sein später berühmt gewordenes Vorwort zu La Plaisanterie.

Massimo Rizzante: In Frankreich wurde der Roman begeistert aufgenommen. Der große Zuspruch, den du im Jahr zuvor in Prag erlebt hattest, wiederholte sich also in Paris? 
Milan Kundera: Meine Frau hat mich oft geneckt: „Du bist als Sieger über die russischen Panzer in Paris angekommen.“ In jenen Septemberwochen 1968 war in den Zeitungen tatsächlich von nichts anderem die Rede als von den russischen Panzern in Prag, und der Roman eines Tschechen zog automatisch die Sympathie der Leser und der großen Kritiker auf sich. Für alle war ich vor allem ein Soldat, der in einem Panzer eingetroffen war, und alle lobten den Mut, mit dem ich gegen den Totalitarismus gekämpft hatte. Aber als ich den Scherz schrieb, hatte ich nie das Gefühl, besonders mutig zu sein. Für mich war es keine politische Herausforderung, sondern eine rein ästhetische.

Massimo Rizzante: Worin bestand diese Herausforderung?
Milan Kundera: Das unbekannte existentielle Wesen einer nie dagewesenen historischen Situation zu erfassen. 

(…)

Massimo Rizzante: Wir haben über deinen Ruf als Feind der Poesie gesprochen ...
Milan Kundera: Zunächst einmal möchte ich deine Wortwahl korrigieren. Wir müssen zwischen Poesie und Lyrismus unterscheiden, denn das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Lyrismus bedeutet, von der Sehnsucht der eigenen Seele fasziniert zu sein. Für Hegel ist die lyrischste Kunst nicht die Poesie, sondern die Musik, weil sie ein noch intimeres und geheimeres Bekenntnis ist. Der Begriff „Lyrik“ (bzw. „Lyrismus“) bezeichnet also nicht in erster Linie eine literarische Gattung, die Versdichtung, sondern eine Lebenseinstellung. Daher meine Definition des Jugendalters als „lyrisches Zeitalter“. Wie du weißt, war das der Arbeitstitel von Das Leben ist anderswo.

Massimo Rizzante: Die Kunst des Romans ist für dich im wesentlichen antilyrisch. Du hast auch gesagt, der Romanschriftsteller entspringe den Ruinen seiner lyrischen Welt. Im Vorhang bezeichnest du den Roman außerdem als „antilyrische Poesie“. Wieso bestehst du in Anbetracht dieser Definition eigentlich auf dem Begriff „Poesie“?
Milan Kundera: Flaubert war ein zutiefst antilyrischer Romanschriftsteller: Objektivität, Ironie, die Abwendung vom auktorialen „Ich“; aber gleichzeitig war er es, der den Roman durch seine Absicht, „vor allem das Schöne zu suchen“, zu den höchsten Höhen der Poesie erhob. André Breton zufolge bestand die große Errungenschaft der modernen Poesie in der „Verschmelzung von Traum und Wirklichkeit“. Aber dieses poetische Ideal war bereits einige Jahrzehnte zuvor in den Romanen Kafkas verwirklicht worden! Obwohl ihm jeglicher Lyrismus fernlag, war Kafka ein großer Poet des Romans! Musil war ein äußerst ironischer und daher antilyrischer Romancier. Aber er war der große Meister der Metapher. Die Metapher diente in seinem Fall nicht dem Verzaubern oder Verschönern, sondern der Erkenntnis: der Definition dessen, was ohne sie undefinierbar gewesen wäre. In diesem Sinn sehe ich im Roman, insbesondere im modernen Roman, eine antilyrische Poesie

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.