LI 80, Frühjahr 2008
Zucker aus dem Kreml
Der russische Geheimdienst FSB und der Zweite TschetschenienkriegElementardaten
Textauszug
Die Provokation von Dagestan und die Kriegshandlungen im Kaukasus zeigten in Zentralrußland nicht die gewünschte, starke Wirkung und gaben Putin keine Gelegenheit zu brillieren. Um seine Position zu stärken, bedurfte es einer härteren Aktion. Eines Schocks für die ganze Nation.
Und es kommt zu einem Wendepunkt in der Geschichte Rußlands. Etwas Schreckliches geschieht. So schrecklich, daß Präsidenten und Premierminister, Journalisten und Politiker es bis heute nicht zur Kenntnis nehmen. Sie verdrängen es, stoßen es in den Abgrund des Vergessens, belügen sich selbst. Sollte es denn möglich sein, die Ermordung unschuldiger Bürger ganz bewußt zu planen? Normaler Menschen, die ruhig in ihren eigenen Betten schlafen? Der eigenen Landsleute? Unmöglich. Niemand wird das glauben. Das ist zu schrecklich, um wahr zu sein. Nein, nein, zeigt uns keine Beweise! Wozu? Wie lebt man mit so einer Wahrheit? Was fängt man in der Politik damit an?
So eine Wahrheit darf nicht wahr sein, selbst wenn sie es ist.
Im September 1999 beginnen in Rußland, Wohnhäuser in die Luft zu fliegen. In Buinaksk (Dagestan), dann – zweimal – in Moskau, anschließend in Wolgodonsk (Bezirk Rostow am Don). Auch ein Haus in Rjazan sollte noch einstürzen, doch diese Provokation wurde von den Bewohnern vereitelt.
Ich hatte mehr als einmal Anlaß, darüber zu schreiben und zu sprechen. Und jedesmal erstarrte ich wie Beton. Nicht nur vor Entsetzen darüber, was dort passiert ist, sondern auch, weil es bis heute andauert: Die Leute, die sich den größten Horror der letzten Jahrzehnte ausgedacht haben, stehen nach wie vor an der Spitze einer Weltmacht. Und niemand der Großen wagt es auch nur, ihnen ein paar sachliche Fragen zu diesem Thema zu stellen.
Die Kleineren aber, die allzu hartnäckig an der Aufklärung dieses Verbrechens arbeiteten, wie Sergei Juschenkow, Juri Schtschekotschichin, Anna Politkowskaja und Alexander Litwinenko – sind ermordet worden oder – wie Otto Latsis – schwer geprügelt (was seinen Tod beschleunigt hat), oder aber sie wurden – wie der Anwalt Michail Trepaschkin, der in dieser Sache ermittelte – in ein Lager gebracht, wo er dahinsiechte. So sieht Mitte 2007 die (unvollständige) Bilanz der Ermittlungen über die Wahrheit der Terrorakte im September 1999 in Rußland aus. Dabei war der Sachverhalt längst bekannt. Ich habe schon 2002 darüber geschrieben.
Jenen September wird Rußland lange nicht vergessen. Einen Tag nach dem anderen flogen Häuser in die Luft. 300 Särge füllten sich schnell. Viele Menschen blieben für immer irgendwo unter den Trümmern. Schwerverkrüppelte kämpften in den Krankenhäusern um ihr Leben.
Wer hat diese Häuser in die Luft gesprengt? Wer hat die Menschen dort ermordet? Die einen sagen, es waren die Tschetschenen. Die anderen – die russischen Geheimdienste.
Die tschetschenische Version der Anschläge sollte durch Gerichtsprozesse erhärtet werden. Doch der Berg gebar eine Maus: Im Juni 2001 wurde das Gerichtsverfahren nach Stawropol in eine Strafkolonie hinter Stacheldraht verlegt, wo nicht nur den Journalisten, sondern auch den Angehörigen der Angeklagten der Zutritt verwehrt blieb. Die Angeklagten widerriefen ihre Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren und behaupteten, diese seien unter Folter erpreßt worden. Die Anwälte legten reihenweise Beweise vor. Das sollten weder die Angehörigen noch die Medien zu hören bekommen. Die Kamerateams durften einige Minuten vom Anfang und vom Ende des Prozesses filmen. Den fünf Angeklagten konnte die direkte Beteiligung an der Sprengung der Häuser nicht nachgewiesen werden. Tschetschenen waren nicht darunter.
Auf der zweiten Version beharren eine recht große Gruppe von Journalisten und Politikern, ein paar französische Filmemacher, die einen Film zu dem Thema gedreht haben, und ein Abtrünniger des FSB, der Emigrant Alexander Litwinenko, der seine eigenen Ermittlungen durchführte; außerdem ein weiterer Deserteur des FSB, der spätere Anwalt Michail Trepaschkin, der mit ihnen kooperierende Historiker und Emigrant Juri Felschtinski sowie – ebenfalls im Exil – Boris Berezowski.
Am 4. September erschüttert eine Detonation ein fünfstöckiges Haus in der Stadt Buinaksk. Resultat: 62 Tote. Am Morgen des 9. September fliegt ein Haus an der Gurjanowastraße in Moskau in die Luft: 94 Tote, 164 Schwerverletzte. Am 13. September, ebenfalls in Moskau, auch am Morgen, wiederholt sich der Alptraum an der Kaschirskoje Chaussee in Moskau. 119 Menschen kommen ums Leben. Drei Tage später finden im Süden Rußlands, in Wolgodonsk, 17 Menschen unter den einstürzenden Mauern ihres Hauses den Tod.
„Hexogen“ wird zum häufigsten Wort im Äther und in der Presse. Spuren dieses Sprengstoffs sind in den Überresten der Säcke gefunden worden, die in den Kellern der ausgewählten Wohngebäude abgelegt worden waren.
Rußland steht unter Schock. Zivile und Uniformierte durchsuchen Dachböden und Keller. An den Häusern tun Wachleute Dienst. Autos werden kontrolliert, besonders solche, die in die Stadt hineinfahren. Obwohl sich niemand zu den Terrorakten bekannt hat und niemand festgenommen worden ist, zeigen die Geheimdienste auf die Schuldigen: die Tschetschenen.
Am 22. September geschieht in Rjazan etwas, das bis zum heutigen Tage das bestgehütete Geheimnis des Kreml geblieben ist. Um 21 Uhr zehn bemerkt ein Busfahrer, der zu seinem Haus in der Nowosjelowastraße zurückkehrt, zwei Männer und eine Frau, die Säcke aus einem Auto in den Keller tragen. Er bemerkt auch, daß die Rjazaner Nummernschilder aus Papier und nur aufgeklebt worden sind. Die alarmierte Miliz trifft die geheimnisvollen Personen nicht mehr an, findet aber im Keller drei Säcke mit Hexogen und einem darin angebrachten Zeitzünder, der auf fünf Uhr dreißig eingestellt ist.
Das Gebäude ähnelt den bereits zuvor gesprengten. Es ist von normalen Menschen bewohnt, liegt weit entfernt von den Nobelvierteln, ist mehrstöckig (zwölf Etagen) und besitzt einen Treppenaufgang. Im Parterre befindet sich – so wie in den anderen Häusern – ein Ladengeschäft (hier: ein 24?Stunden geöffneter Lebensmittelladen), so daß die Auffüllung des Lagers (das Hereintragen von Säcken) keinen Verdacht erwecken sollte. Die Säcke wurden (wie in den anderen Fällen) an den Fundamenten des Gebäudes abgelegt, damit dieses bei der Detonation sofort in sich zusammenfällt.
Daß sich in den Säcken Hexogen befindet und der Zünder – wenn auch unfachmännisch hergestellt – echt ist, bestätigen sowohl der Pionier, der den Zünder entschärft, als auch der Leiter der Zweigstelle Rjazan des FSB, Alexander Sergejew. 1?200 Milizionäre, Soldaten und Funktionäre des FSB von Rjazan, ausgestattet mit Phantombildern der Männer und der Frau, gehen auf die Jagd.
Am 23. September erklärt Wladimir Putin auf einem diplomatischen Empfang: „Ich glaube nicht, daß das ein Fehlschlag war. Wenn diese Säcke mit Sprengstoff entdeckt wurden, so spricht das immerhin dafür, daß die Bevölkerung korrekt auf die Ereignisse im Land reagiert.“
Am 24. September bemerkt eine Telefonistin der Ortsvermittlung in Rjazan, daß jemand die Nummer der Hauptverwaltung des FSB in Moskau anruft. Aus dem Gebäude an der Lubjanka kommt die Frage, ob alle drei zusammen seien. Die Antwort aus Rjazan lautet, nein, die Frau fahre getrennt. Es dauert mehrere Minuten zu ermitteln, woher der Anruf kam. Eine Antiterroreinheit der Miliz von Rjazan eilt zum vermutlichen Aufenthaltsort der Attentäter. Gleich sollten sie festgenommen werden. Sie sollten, aber …
Eine halbe Stunde vorher, auf einer Beratung über die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, erklärt Innenminister Wladimir Ruschailo, daß die Tätigkeit der Miliz Fortschritte mache, denn „in Rjazan ist ein terroristischer Anschlag verhindert worden“. Keine zwanzig Minuten später jedoch stellt FSB-Chef Nikolai Patruschew in demselben Gebäude und auf derselben Konferenz fest, daß von Terror keine Rede sein kann: „Es geht hier nicht um einen Anschlag, hier wurde keine Explosion verhindert, denn in Rjazan wurde eine Übung abgehalten, und dort war Zucker.“ Diese Erklärung kommt zu dem Zeitpunkt, als die Rjazaner Milizionäre sich der Wohnung mit den vermeintlichen Terroristen nähern. Stop! Es war kein Terroranschlag, niemand braucht verhaftet zu werden.
Diese Tatsachen würden besagen, daß in einem Land, in dem gerade vier Wohnhäuser, eins nach dem anderen, in die Luft gesprengt worden sind, Übungen abgehalten werden, die die Wiederholung einer solchen Situation simulieren sollen, und zwar ohne daß die örtliche Miliz und die Bevölkerung informiert wurden (ein Verstoß gegen das Gesetz über den Zivilschutz), ja sogar ohne daß der Innenminister Wladimir Ruschailo darüber informiert worden wäre. (Einige Monate später wird ein Vertreter des FSB im Fernsehen den Befehl für diese Übungen vorzeigen, unterzeichnet von eben diesem Minister und von FSB-Chef Patruschew.) Von Übungen spricht nicht einmal Alexander Sdanowitsch, der Pressesprecher des FSB, der die ganze Zeit in Nachrichtensendungen und anderen Programmen aufgetreten ist.
(...)