LI 109, Sommer 2015
Der menschliche Faktor
Warum AF 447 vom Himmel stürzteElementardaten
Genre: Reportage
Übersetzung: Aus dem Englischen von Bernhard Schmid
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Textauszug
Es war der letzte Maitag des Jahres 2009; der Abend begann den Airport von Rio de Janeiro ins Dunkel zu hüllen. Die 216 Passagiere, die des Boardings ihres Flugs nach Paris harrten, konnten nicht ahnen, daß sie das Tageslicht nie wieder sehen würden; so wenig wie sie ahnen konnten, daß viele von ihnen zwei Jahre tot in ihre Sitze geschnallt bleiben sollten, bevor man sie schließlich in der Finsternis des Atlantiks finden würde, fast 4 000 Meter unter den Wellen. Aber genau so sollte es kommen. Air France Flug 447 hatte eine Crew aus neun Flugbegleitern und drei Piloten an Bord – mehr als üblich wegen der Dienstzeitregelungen auf einer Route von fast 9 000 Kilometern, für die in etwa elf Stunden angesetzt sind. Es war eine hochqualifizierte Besatzung, die in einem tadellosen Großraumjet vom Typ Airbus A330 für eine der ersten Airlines der Welt, eine Traditionsfirma, auf die ganz Frankreich stolz ist, unterwegs war.
Selbst heute – nach Bergung der Flugschreiber vom Grund des Atlantiks, trotz technischer Gutachten und eingehender Untersuchungen französischer Gerichte – bleibt es schier unvorstellbar, daß Flug 447 abgestürzt ist. Eine minimale Fehlfunktion leitete die Katastrophe ein, ein momentaner Ausfall des Fluggeschwindigkeitsmessers – ein Informationsproblem von der Dauer eines Wimpernschlags während eines unbeschleunigten horizontalen Geradeausflugs. Die Piloten waren überfordert; es scheint absurd.
Bei der Frage nach dem Warum hat man die vorschnelle Antwort – die außerordentliche Inkompetenz gleich dreier Piloten – weitgehend verworfen. Andere Antworten müssen eher spekulativer Art bleiben, da die Männer sich nicht mehr rechtfertigen können und kurz vor ihrem Tod in eine kopflose Hektik verfielen. Wobei allerdings gerade diese Kopflosigkeit an sich aufschlußreich ist, scheint sie doch ihre Ursachen in eben den Fortschritten beim Bau von Flugzeugen und deren Führung zu haben, die für die Verbesserung der Flugsicherheit während der letzten vierzig Jahre verantwortlich waren. Kurz gesagt, durch die Automatisierung ist es zunehmend unwahrscheinlich geworden, daß Verkehrspiloten sich im Alltagseinsatz in einer akuten Krisensituation sehen; auf der anderen Seite ist es auch zunehmend unwahrscheinlich geworden, daß sie einer solchen Krise, sollte sie denn doch eintreten, auch tatsächlich gewachsen sind. Und eine Auflösung dieses Paradoxons scheint nicht in Sicht. Deshalb sehen viele Fachleute im Absturz von Air France 447 sowohl das rätselhafteste als auch bedeutendste Flugzeugunglück unserer Zeit.
(…)
In der Nacht des 31. Mai 2009 wurden die Piloten von Flug 447 ihren Pflichten gegenüber ihren Passagieren nun gewiß nicht gerecht. Nachdem Kapitän Dubois das Cockpit verlassen hatte, um sich etwas hinzulegen, saß Robert, der dienstältere der beiden Copiloten, als Pilot Not Flying links. Bonin kümmerte sich um den Flug. Auf Autopilot geschaltet, schob sich die Maschine in 35 000 Fuß Höhe mit einer Geschwindigkeit von Mach 0,82 Richtung Paris; immer knapp über dem kritischen Punkt, die Nase um zwei Grad gehoben, betrug der Anstellwinkel, der für das Fliegen zentrale, da für dynamischen Auftrieb sorgende Winkel, in dem die Tragflächen der anströmenden Luft begegnen, etwa drei Grad.
Mit der Vergrößerung des Anstellwinkels nimmt auch der Auftrieb zu – allerdings nur bis zu dem Punkt, an dem der Winkel zu steil wird und die anströmende Luft nicht länger glatt über die Oberseite der Flügel zu strömen vermag. An diesem Punkt kommt es zum Strömungsabriß oder Stall. Dieses Phänomen ist bei allen Flugzeugen zu beobachten und hat nichts mit den Triebwerken zu tun. Gerät ein Flugzeug in den Stall, verliert es an Auftrieb, seine Tragflächen durchpflügen den Himmel mit mehr Luftwiderstand, als der von den Triebwerken gelieferte Schub zu überwinden vermag. Die Maschine geht mit gehobener Nase in einen steilen, trägen Sinkflug, nicht selten in Verbindung mit einer unwirksamen Quersteuerung. Abhilfe schafft hier allein ein Verringern des Anstellwinkels durch das Senken der Nase, um dann im steilen Winkel nach unten zu gehen. Das ist zwar wider die Intuition, gehört aber zum fliegerischen Einmaleins. Ein solches Abfangmanöver bedarf natürlich der Höhe, woran bei Reiseflughöhe aber kein Mangel besteht.
Wie bei Passagiergroßflugzeugen üblich, flog Air France 447 knapp unter dem kritischen Anstellwinkel. Drei Grad höher, bei fünf Grad, wäre im Cockpit ein Warnsignal zu hören gewesen; weitere fünf Grad, bei einem Anstellwinkel von etwa zehn Grad, wäre es theoretisch zum Strömungsabriß gekommen. Letzteres ist reine Theorie, da im A330 unter einem allumfassenden – als Normal Law bezeichneten – automatischen Modus der automatische Flugregler interveniert, um die Maschine vor einem solchen Strömungsabriß zu schützen – ohne daß der Pilot dazwischengehen könnte, drückt dieser von sich aus die Nase nach unten und sorgt für zusätzlichen Schub. Derlei Eingriffe sind extrem selten; Piloten erleben sie in ihrer ganzen Laufbahn nicht – es sei denn, ihr Urteilsvermögen setzt völlig aus.
Bei AF447 sollte es tatsächlich noch dazu kommen, aber für den Augenblick lag noch alles im normalen Bereich. Jeder der beiden Piloten, Bonin wie Robert, saß vor einem aus unterschiedlichen Quellen gespeisten flatscreen display. Für den Laien am ehesten verständlich sind die Navigationsdisplays – bewegliche Karten, auf denen sich Kurs, Steuerkurs, Wegpunkte und groundspeed ablesen lassen, dazu das durch Radar ständig aktualisierte Wetter. Wichtiger jedoch für den Flieger ist die primäre Fluganzeige, das Primary Flight Display (PFD); es ist um eine symbolische Darstellung des Flugzeugs im Verhältnis zu einer horizontalen Linie angeordnet; abzulesen sind pitch (Nase oben oder unten) und bank (Tragflächen horizontal oder nicht), dazu Steuerkurs, Höhe, airspeed sowie Sink- und Steiggeschwindigkeit. Neben den beiden Displays der Piloten gibt es ein drittes, das Stand-by-Display; es zeigt das Ganze, wenn auch kleiner, noch mal. Mit Hilfe dieser Wunderwerke der Informationspräsentation behalten die Piloten auch dann die Kontrolle, wenn sie nachts oder in den Wolken per Hand fliegen und sie den wirklichen Horizont draußen nicht sehen.
Da Dubois die Cockpitbeleuchtung hochgedreht hatte, war es vor den Fenstern rabenschwarz. Das Flugzeug flog in eine weitere Wolkenschicht ein und wurde von leichten Turbulenzen geschüttelt. In der Kabine hielt ein Hinweislicht die Passagiere zum Anlegen der Gurte an. Bonin rief in der vorderen Flugbegleiterstation an und sagte: „Ja, Maryline, Pierre in der Kanzel. Hör mal, in zwei Minuten dürften wir in eine Zone geraten, in der es ein wenig turbulenter zugehen wird als im Moment.“ Er riet der Kabinencrew, sich zu setzen und anzuschnallen, und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich ruf dich zurück, sobald wir wieder draußen sind.“ Er sollte sich nicht wieder melden.
Die Turbulenzen nahmen etwas zu. Bonin lamentierte noch immer darüber, nicht höher gehen zu dürfen. Noch einmal sprach er die ungewöhnlich hohe Außentemperatur an: „Standard plus 13.“ Dann begann er zu fluchen: „Putain la vache! Oh Putain!“ – „Verdammter Mist! Verdammt aber auch!“ Nicht daß es einen speziellen Anlaß für seinen Ausbruch gegeben hätte. Er war nur einfach nervös. Er sagte: „Wir sind wirklich an der obersten Grenze der Wolkenschicht. Zu dumm. Ich bin sicher, bei 3-6 [36 000 Fuß] non-standard, also wenn wir da raufgingen, das wär’ nicht schlecht, was?“
Robert antwortete nicht. Er hatte das Navigationsdisplay im Auge, das ein Gewitter direkt vor ihnen anzeigte. Er sagte: „Willst du nicht vielleicht etwas nach links?“ Die Anregung war als Frage gestellt. Bonin sagte: „Wie bitte?“ Robert sagte: „Du kannst eventuell etwas nach links.“ Was sich eher nach einem Kommando anhörte. Bonin wählte einen Kurs um zwanzig Grad nach links und das Flugzeug ging brav in die Kurve. Der Wortwechsel war der erste Schritt einer merkwürdigen Wandlung in Bonin, als er sich Roberts Autorität zu fügen begann, ohne sich ihr völlig zu unterstellen.
Sie kamen in eine Schlechtwetterzone. Das Cockpit füllte sich mit dem gedämpften Prasseln von Eiskristallen auf der Windschutzscheibe. Bonin nahm die Geschwindigkeit der Maschine auf Mach 0,80 zurück. Roberts Reaktion kam einem verbalen Achselzucken gleich: „Kostet ja nichts“, sagte er. Die automatische Schubsteuerung reagierte mit einer Rücknahme der Leistung; der Anstellwinkel vergrößerte sich geringfügig; die Turbulenz war leicht bis gelegentlich mäßig. Das Prasseln der Eiskristalle auf den Scheiben setzte sich fort.
Ohne daß die Piloten es ahnen konnten, sammelten sich Eiskristalle in den Staudrucksonden – den sogenannten Pitotrohren – an der Unterseite des Bugs. Daß dieses spezielle Sondenmodell zum Verstopfen neigte, war ein bekanntes Konstruktionsproblem bei bestimmten Airbus-Mustern, und obwohl das nur unter sehr seltenen Bedingungen in großen Höhen auftrat und noch nie zu einem Unglück geführt hatte, hielt man bei Air France das Problem für gravierend genug, um die Sonden durch ein verbessertes Modell zu ersetzen. Man hatte die Piloten durch ein entsprechendes Rundschreiben in Kenntnis gesetzt. Die ersten dieser neuen Sonden waren eben in Paris eingetroffen und warteten auf ihren Einbau.
Für den Flug 447 kamen sie zu spät; dessen Sonden waren im Nu verstopft. Kurz nach 23:10 Uhr versagten infolge dieser Verstopfung alle drei Fluggeschwindigkeitsmesser den Dienst und fielen auf unmöglich niedrige Werte. Ebenfalls aufgrund der vereisten Sonden fielen die Höhenanzeigen plötzlich um – zu vernachlässigende – 360 Fuß. Keiner der beiden Piloten hatte die Zeit, diese Anzeigen zur Kenntnis zu nehmen, bevor der Autopilot in Reaktion auf den Verlust gültiger Airspeed-Daten sich aus dem Regelungssystem ausklinkte; ein als cavalry charge bezeichneter elektronischer Warnton wurde ausgelöst – der erste von vielen. Gleichzeitig schaltete sich Autothrust ab und stellte auf gegenwärtigen Schub. Das Fly-by-Wire-Regelungssystem schließlich, das Airspeed-Daten benötigt, um korrekt zu arbeiten, rekonfigurierte sich von Normal Law auf einen – als Alternate Law bezeichnetem – reduzierten Modus, bei dem unter anderem die Anstellwinkel-Schutzsysteme nicht mehr verfügbar sind und die Quersteuerung so verändert wird, daß der A330 in dieser einen Hinsicht wie ein konventionelles Flugzeug zu fliegen ist. All das war eine so notwendige wie minimale logische Reaktion des Systems.
Nun stellen wir uns die Situation in dem Augenblick vor: das Flugzeug im unbeschleunigten horizontalen Geradeausflug, weder kopf- noch schwanzlastig, die Triebwerke lieferten gleichmäßig gemächliche Mach 0,8. Die Turbulenzen sind so leicht, daß man in der Kabine, wenn auch vielleicht etwas unsicher, hätte auf und ab gehen können. Abgesehen von der kleinen Fehlfunktion der Höhenanzeige war der einzige gravierende Fehler der Ausfall des Fahrtmessers – von dem die airspeed selbst jedoch unberührt blieb. Es gab keine Krise. Das Ganze hätte eine bedeutungslose Episode bleiben sollen, eine von kurzer Dauer obendrein. Die beiden Piloten hatten das Flugzeug unter Kontrolle, und hätten sie nichts getan, sie hätten alles getan, was nötig gewesen wäre.
Natürlich waren die Piloten überrascht. Im ersten Augenblick merkten sie nur, daß sich der Autopilot ausgeklinkt hatte. Geringfügige Turbulenzen hatten das Flugzeug in eine leichte Querlage gebracht. Bonin griff nach dem Sidestick, dem Steuerknüppel, der optisch dem Joystick eines Computerspiels gleicht. Er sagte: „Ich habe die Steuerung übernommen!“ und Robert antwortete ihm: „Alles klar.“ Die als C-Chord bezeichnete Flughöhenwarnung meldete sich, da die Höhenanzeige sich nicht mehr mit den eingestellten 35 000 Fuß deckte.
Wahrscheinlich hielt Bonin den Sidestick viel zu verkrampft; laut Flugdatenschreiber, der auch die Stickbewegungen aufzeichnet, erfolgten seine Steuereingaben beim Versuch, die Tragflächen horizontal zu halten, vom ersten Augenblick an mit hohen Bewegungsamplituden – er übersteuerte, mit anderen Worten, wie ein Autofahrer, der beim Schleudern in Panik gerät. Das brachte die Maschine ins Rollen. Bonins Reaktion kam womöglich daher, daß er mit dem Umgang des Airbus im Alternate Law Regime nicht vertraut genug war, zumal bei hoher Flughöhe, wo die Maschine eine andere Rollcharakteristik aufweist. Hätte er mehr Erfahrung gehabt, er hätte womöglich den Griff gelockert, den Stick nur mit den Fingerspitzen geführt und die Maschine wieder in eine stabile Lage gebracht. Wie die Aufzeichnungen belegen, hat er das nicht gemacht.
Aber schlimmer – weit schlimmer – noch war Bonins Einflußnahme auf die Flughöhe: Er zog den Stick zurück. Im ersten Augenblick mochte dies eine Panikreaktion auf die falsche Anzeige eines geringfügigen Höhenverlusts gewesen sein. Nur daß Bonin den Stick nicht sachte zurücknahm – er riß ihn nach hinten, drei Viertel des Wegs zum Anschlag und hörte nicht auf zu ziehen. Alain Bouillard, der mit der Untersuchung betraute französische Unfallermittler, setzte die Reaktion mit dem instinktiven Einrollen in eine Embryonalhaltung gleich. Das Flugzeug reagierte, indem es mit der Nase hochging und zu einem nicht zu haltenden Steigflug ansetzte, dessen Folgen ein Verlust an Geschwindigkeit und eine weitere Zunahme des Anstellwinkels waren.
Sechs Sekunden nachdem Bonin die manuelle Kontrolle übernommen hatte, mischte sich eine kurze Überziehwarnung in den Klang des Höhenalarms. Eine laute synthetische Männerstimme sagte „STALL“. Nur ein einziges Mal. Dann schlug der Höhenwarnalarm wieder an. Robert sagte: „Was war das denn?“ Das Flugzeug antwortete mit STALL. STALL. Und wieder schlug der C-Chord an. Keiner der beiden Piloten begriff, was es damit auf sich hatte. Der Anstellwinkel hatte sich auf etwa fünf Grad vergrößert und die Tragflächen verrichteten nach wie vor ihren Dienst, aber es war höchste Zeit, etwas bezüglich der Warnung zu tun. Bonin sagte: „Wir haben keine korrekte Anzeige für … die Geschwindigkeit!“ Robert schloß sich seiner Meinung an: „Wir haben die Geschwindigkeiten verloren!“, sagte er.
(…)
Die A330 ist ein Meisterwerk modernen Flugzeugdesigns und eines der narrensichersten Flugzeuge, die je gebaut wurden. Wie konnte die Reaktion dieser Air-France-Piloten auf einen vorübergehenden Ausfall der Geschwindigkeitsanzeigen, zumal in einer unkritischen Flugphase, derart kopflos ausfallen? Und wie in aller Welt konnten sie nicht begriffen haben, daß die Maschine in den Stall geraten war? Die Ursachen des Problems scheinen paradoxerweise in eben den Cockpit-Designs zu liegen, die dazu beigetragen haben, die Linienflugzeuge der letzten Generationen so außerordentlich sicher zu machen – und leicht zu fliegen.
Das gilt sowohl für Boeing als auch für Airbus, da beide Hersteller bei allen Rivalitäten und Differenzen hinsichtlich des Cockpits auf ähnliche Lösungen gekommen waren. Die erste dieser Lösungen bestand darin, den Flugingenieur abzuschaffen, und das trotz lautstarker Proteste seitens der Pilotengewerkschaften, die behaupteten, der Schritt würde zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Sicherheit führen. Wir sprechen hier vom Ende der 1970er Jahre, der Zeit, mit anderen Worten, in der John Lauber und die Forscher bei NASA im Zuge ihrer systematischen Forschungsarbeiten über die Leistung von Flugbesatzungen auf die Idee des Crew Resource Management kamen. Zu dem Zeitpunkt regulierten sich die einzelnen Systeme eines Flugzeugs – Triebwerke, Treibstoff, Elektronik, Druckbelüftung, Hydraulik etc. – in einem Maße selbst, daß die manuelle Kontrolle durch einen dritten Mann in der Kanzel überflüssig geworden war. Airbus war damals noch der Underdog, brachte Rekordsummen an öffentlichen Mitteln durch und baute Flugzeuge, für die man keine Käufer fand. So entschloß man sich dort, kompromißlos alles auf eine Karte setzend, die technisch fortschrittlichsten Airliner zu bauen, die sich nur konstruieren ließen.
Als erstes verpaßte man, ungeachtet aller Proteste seitens der Gewerkschaften, allen seinen Modellen ein Zwei-Mann-Cockpit und trat damit eine heftige Debatte um den Wert von Piloten los, die heute noch bei jedem Airbus-Crash laut wird. Boeing, wo man zeitgleich die Serien 757 und 767 entwickelte, gab sich konzilianter, aber die Zeichen waren gesetzt. Sowohl die Boeing 737 als auch die Douglas DC-9 waren bereits für eine Zwei-Mann-Crew zugelassen, hatten, mit anderen Worten, keinen Flugingenieur mehr an Bord. Als eine Projektgruppe, die sich im Auftrag des Präsidenten mit der Angelegenheit befaßt hatte, zu dem Schluß kam, ein drittes Besatzungsmitglied im Cockpit stelle, wenn überhaupt, eher eine Ablenkung dar, gaben die Gewerkschaften nach.
Die Frage war nun, wie man diese Cockpits für Zweier-Crews anlegen sollte, insbesondere im Lichte der Fortschritte in den Bereichen Mikrocomputer, digitale Sensorik, LCD-Displays sowie angesichts der neuen Navigationsmöglichkeiten, bei denen sich der Einsatz beweglicher elektronischer Karten geradezu aufdrängte. Die Hersteller warfen die überfrachteten elektromechanischen Armaturen der Vergangenheit buchstäblich über Bord und rüsteten ihre neuen Maschinen gestützt auf Machbarkeitsnachweise der NASA mit „Glascockpits“, wie man sie der zahlreichen Flachbildschirme wegen bezeichnete, aus. Die neuen Displays boten viele Vorteile wie etwa die Entrümpelung des Cockpits durch die Zusammenfassung grundlegender Fluginformationen auf einigen wenigen Screens; eine verbesserte Symbolik half dabei ebenso wie das Verstecken vieler anderer Hilfsmittel, die trotzdem jederzeit greifbar sind. Wie beim CRM ging es in erster Linie um eine bessere, konsistentere Leistung der Piloten – die man dann auch bekam.
Die Automatisierung ist integraler Bestandteil dieses Pakets. Autopiloten gibt es nahezu seit den Anfangstagen der Fliegerei, und einzelne Komponentensysteme automatisiert man schon seit den 1960er Jahren. Im Glascockpit jedoch ist die Automatisierung zentral gesteuert und erlaubt den einzelnen Systemen, als Teile eines integrierten Ganzen miteinander zu kommunizieren; sie entscheiden sogar darüber, welche Informationen dem Piloten vorgelegt werden sollen und wann. Herz des Ganzen sind die Flight-Management-Systeme mit zentral plazierten Keypads, die größtenteils noch am Boden durch die Dispatcher der Airlines optimal vorprogrammiert werden und die Autopiloten der Maschinen durch die Komplexitäten des anstehenden Fluges führen. Mitte der 1980er Jahre hatten bereits viele solche Flugzeuge, sowohl von Airbus als auch von Boeing, Einzug in die globale Flotte gehalten; den Piloten blieb bei diesen Typen größtenteils nichts weiter als die Überwachung der Systeme. 1987 tat Airbus den nächsten Schritt mit der Einführung des ersten Fly-by-Wire-Airliners in Gestalt des eher kleinen A320, bei dem Computer die über die Sidesticks erfolgenden Steuereingaben der Piloten interpretieren und dann erst die Klappen an Tragflügeln und Heck manövrieren. Bei jedem Airbus seither wurde nach diesem Prinzip verfahren; Boeing ist diesem Beispiel auf seine eigene Art gefolgt.
Wir sprechen in diesem Zusammenhang gern von Flugzeugen der „vierten Generation“; sie stellen mittlerweile fast die Hälfte der globalen Flotte. Seit ihrer Einführung ist die Unfallziffer in einem Maße zurückgegangen, daß jüngst einige Unfallermittler beim National Transportation Safety Board, der US-Flugsicherheitsbehörde, wegen mangelnder Auslastung vorzeitig in den Ruhestand gegangen sind. Die Erfolge der Automatisierung sind unbestritten. Die Konstrukteure hinter ihr gehören zu den großen unbesungenen Helden unserer Zeit. Bei alledem kommt es nach wie vor zu Unfällen, und viele von ihnen ergeben sich aus Mißverständnissen bei der Kommunikation zwischen dem Piloten und einem mittlerweile nahezu robotergleichen System. Fachleute warnen davor seit Jahren: Die Komplexität der Automatisierung habe Nebenwirkungen, die oft nicht einkalkuliert sind.
(…)
Die Krise im Cockpit ging über Testflugszenarien weit hinaus. Nachdem Dubois wieder ins Cockpit gekommen war, verstummte die Stall-Warnung vorübergehend – im wesentlichen weil der Anstellwinkel so extrem war, daß das System die empfangenen Daten als ungültig verwerfen mußte. Das stellte auf absurde Weise ihren Sinn auf den Kopf: Wann immer Bonin die Nase senkte, was den Anstellwinkel geringfügig weniger extrem werden ließ, setzte die Stall-Warnung wieder ein – eine negative Verstärkung, die dafür verantwortlich gewesen sein könnte, daß er die Maschine immer wieder hochzog, vorausgesetzt, er hat die Warnungen tatsächlich gehört.
Dubois wies auf eine der Anzeigen vor ihnen. Er sagte: „So, da, nimm die hier, nimm die.“
Robert wiederholte den Befehl etwas eindringlicher: „Nimm die, nimm die! Nun versuch es doch mit der!“
Die Stall-Warnung ging wieder los. Bonin sagte: „Ich habe ein Problem – ich habe kein Vario mehr!“ Womit die Anzeige für die vertikale Geschwindigkeit gemeint war. Dubois grunzte nur als Antwort darauf. Bonin sagte: „Ich habe keine Anzeigen mehr!“ Was nicht stimmte. Er hatte sehr wohl Anzeigen auf den Displays, er traute ihnen nur nicht. Die Sinkrate lag jetzt bei 15 000 Fuß pro Minute.
Robert wollte das Ganze ebensowenig in den Kopf. Er sagte: „Wir haben nicht eine gültige Anzeige!“
Bonin sagte: „Kommt mir so vor, als wären wir irre schnell! Euch nicht? Was meint ihr?“ Er griff nach dem Luftbremshebel und zog.
Robert sagte: „Nein, nicht doch! Bloß nicht die Bremsen ausfahren!“
„Nicht? Okay!“ Die Klappen an der Oberseite der Tragflächen fuhren wieder ein.
Zeitweise hantierten beide mit ihren Sidesticks und hoben so die Befehle des anderen wieder auf. Bonin sagte: „Und? Wir sinken doch immer noch!“
Robert sagte: „Ziehen wir sie wieder hoch!“
23 Sekunden lang hatte Dubois nicht ein Wort gesagt. Robert rüttelte ihn schließlich auf. „Was meinst du?“, fragte er. „Was meinst du? Was siehst du?“
Dubois sagte: „Ich weiß nicht. Sie sinkt.“
Man führt zu seiner Verteidigung an, daß er da in eine nicht zu entziffernde Situation geraten war, schließlich war er erst nach dem Verlust der Kontrolle über die Maschine dazugekommen, aber sein Beobachterstatus war im Grunde sogar ein Vorteil. Schließlich wußte er nichts von dem ursprünglichen Ausfall des Geschwindigkeitsmessers; er sah sich vor einem funktionierenden Instrument, das ihm niedrige airspeeds anzeigte, eine niedrige groundspeed und daß sie rasend schnell fielen. Hinzu kommen die wiederholten Stall-Warnungen, das eindeutige Schütteln und die Schwierigkeiten, das Rollen in den Griff zu bekommen. Es hätte womöglich geholfen, eine Anzeige für den Anstellwinkel zu haben – eine, die solchen Extremen gewachsen war –, aber was hätte das anderes sein können als ein Strömungsabriß?
Es war Bonin gelungen, die Maschine aus der anhaltenden Querlage zu bekommen. Er sagte: „Na also! Jetzt, jetzt paßt das. Wir sind wieder in der Horizontalen – nein, sie will nicht …“ Die Maschine schaukelte von links nach rechts mit Roll-winkeln bis zu 17 Grad.
Dubois sagte: „Richte die Tragflächen aus. Der Horizont, der Nothorizont.“
Dann wurde die Situation noch konfuser. Robert sagte: „Deine Geschwindigkeit! Du steigst ja!“ Er meinte damit wahrscheinlich, daß Bonin die Nase wieder anhob, da das Flugzeug ganz entschieden nicht im Steigen begriffen war … Er sagte: „Geh runter! Geh runter, runter, runter!“ Was sich offensichtlich wieder auf die Längsneigung bezog.
Bonin sagte: „Ich geh’ doch runter!“
Dubois übernahm die Sprache der beiden. Er sagte: „Nein, du steigst.“
Mag sein, daß Bonin hier merkte, daß von der Längsneigung die Rede war. Er sagte: „Ich geh’ hoch? Okay, gehen wir eben runter.“
Das Verständigungsproblem im Cockpit nahm zu. Robert sagte: „Okay, wir sind in TOGA.“
Bonin fragte: „Wie sieht es jetzt aus? An Höhe, was haben wir da?“ Wie es aussieht, war er zu beschäftigt, um selbst nach den Instrumenten zu sehen.
Dubois sagte: „Verflucht, das gibt’s doch nicht.“
„An Höhe, was haben wir da?“
Robert sagte: „Was meinst du: ‘an Höhe’?“
„Na ja, ich sinke doch, oder?“
„Ja, du sinkst.“
Bonin bekam nie eine Antwort auf seine Frage, aber das Flugzeug fiel um 20 000 Fuß. Es rollte in einem steilen Winkel von 41 Grad nach rechts. Dubois sagte: „Hey, du, du bist in … Bring, richte die Tragflächen aus!“
Robert wiederholte: „Richte die Tragflächen aus!“
„Das versuch’ ich doch!“
(…)