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Titel Lettre International 97, Minoo Emami
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Inhaltsverzeichnis

LI 97, Sommer 2012

Gesetze des Verbrechens

Vom Reich der Camorra und der neapolitanischen Zone des Schweigens

Clans in Secondigliano

Das Schweigen ist ein mit der Geburt erworbenes neapolitanisches Grundrecht. Die Stadt hat eine solche Kultur des Schweigens entwickelt, daß vor einigen Jahren, als ein unschuldiges Mädchen im Kreuzfeuer einer Camorra-Aktion ums Leben kam, viele der Zeugen, die zunächst die Schützen identifiziert hatten, im Prozeß ihre Aussagen zurückzogen. Der frustrierte Staatsanwalt verlor die Beherrschung und begann, die Zeugen zu beschimpfen, als stünde er im Gerichtssaal Auge in Auge mit der Camorra. Das tat er nicht. Er stand gewöhnlichen neapolitanischen Bürgern gegenüber. Die Camorra kann man nicht beschimpfen. Tut man es, begegnet man leeren Blicken.

Die Camorra ist keine Organisation wie die Mafia, die man von der Gesellschaft trennen, im Gerichtssaal disziplinieren oder auch nur klar definieren könnte. Sie ist eine amorphe Gruppierung in Neapel und Umgebung, die mehr als hundert autonome Clans und vielleicht zehntausend direkte Geschäftspartner umfaßt, dazu ein sehr viel größeres Netzwerk von Nutznießern, Klienten und Freunden. Sie ist eine Übereinkunft, eine Form der Gerechtigkeit, eine Methode, Wohlstand zu erlangen und zu verteilen. Sie ist seit Jahrhunderten Teil des neapolitanischen Lebens – es gibt sie schon viel länger als das fragile Konstrukt namens Italien. Auf dem Höhepunkt ihrer Stärke ist sie in den letzten Jahren zu einer vollständigen Parallelwelt geworden und stellt für viele Menschen eine reale Alternative zur italienischen Regierung dar (was immer man wiederum unter dieser verstehen mag). Die Neapolitaner nennen sie resigniert oder stolz das „System“. Die Camorra gibt ihnen Arbeit, leiht ihnen Geld, schützt sie vor der Regierung und hält sogar die Kriminalität auf den Straßen kurz. Das Problem ist jedoch, daß die Camorra außerdem in regelmäßigen Abständen versucht, sich selbst zu zerreißen, und dann müssen die gewöhnlichen Neapolitaner die Köpfe einziehen.

Secondigliano hat hierin Übung. Es hat zur Zeit eine der höchsten Mordraten in Westeuropa. Wahrscheinlich führt es auch bei den Schießereien die Statistik an. Ich habe eine Freundin von dort, eine Architektin. Ihr Vater war früher, vor der Rente, Busfahrer bei der Stadt. Er hat jetzt einen Kleinbus, mit dem er seine andere Tochter herumfährt, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Vor nicht allzu langer Zeit stahlen ihm zwei Männer den Wagen und riefen dann in der Wohnung der Familie an – sie verlangten 2 000 Euro in bar für die Rückgabe. Die Diebe waren kleine Arschlöcher und gehörten zur allerniedrigsten Kategorie in der Klientel eines Camorra-Klans. Meine Freundin war wütend, aber ihr Vater zahlte, soviel er von der geforderten Summe zahlen konnte. Er tat das auf der Straße, das Geld wurde in einem Umschlag überreicht, und die Tochter umkreiste die Szene und versuchte, Photos mit ihrem Handy zu machen. Keines wurde etwas. Meine Freundin warf ihrem Vater vor, sich zum Komplizen des Systems zu machen. Er erwiderte, er könne es sich einfach nicht leisten, einen neuen Wagen zu kaufen. Ja, es hatte eine Zeit gegeben, da hätte es kein kleiner Wichser aus Secondigliano gewagt, einem Einheimischen mit einer gelähmten Tochter den Wagen zu klauen – die Camorra selbst hätte interveniert. Aber er empfand deswegen kein Selbstmitleid. Er ist Realist. 2004 begannen die Kämpfe zwischen den Clans im Bezirk, und sie haben sich sporadisch bis heute fortgesetzt; die Clans sind mittlerweile so geschwächt, daß sie ihre eigenen Leute nicht mehr unter Kontrolle haben. Die Niedrigstgestellten sind reine Idioten, die nichts können als Herumschießen.


(…)


Die Lektionen des Lebens


Die Camorra mordet vor allem dann, wenn sie schwach ist. Das Töten in Scampia und Secondigliano dauert nun schon derart lange, daß manche Staatsanwälte fast ihre einstigen Triumphe bereuen. Die Erinnerung malt eine goldene Zeit, als die Camorra noch stark war. Damals war der Chef ein einsiedlerischer Mann namens Paolo di Lauro, den man nur selten zu Gesicht bekam; er sitzt jetzt im Gefängnis, das er nie mehr verlassen wird, und gilt als einer der größten Camorristi aller Zeiten. Von seinen frühen Jahren weiß man wenig – nur, daß er 1953 in Secondigliano geboren wurde, früh verwaiste und von einer bescheiden existierenden Familie mit einem Haus in der Mitte des Bezirks adoptiert wurde. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Arbeiter. Sie waren zutiefst Neapolitaner und sprachen einen Dialekt, der anderswo in Italien nahezu unverständlich ist. Di Lauro ging nur ein paar Jahre zur Schule und suchte sich dann Arbeit, zuerst als Gehilfe eines Ladenbesitzers am Ort. Mit 17, 18 zog er in die Industriegebiete des fernen Norditalien, wo er als Vertreter arbeitete und Unterwäsche und Bettzeug an Fabrikarbeiter verkaufte, die aus dem Süden hergezogen waren. Lokal nennt man solche Händler magliari – ein Wort, das auch „Schwindler“ bedeuten kann. Es gibt keinen Beweis, daß Di Lauro damals irgend jemanden beschwindelt hätte, doch seine spätere Laufbahn deutet darauf hin, daß er im Falle einer Gelegenheit nicht gezögert hätte. Er war still und ungewöhnlich ehrgeizig. Im Norden machte er ein wenig Geld und fand Geschmack an den Karten und am Glücksspiel. Es stellte sich heraus, daß er einen Hang zur Mathematik hatte. Nach Secondigliano zurückgekehrt, heiratete er eine junge Frau aus der Gegend, die ihm 1973 das erste von elf Kindern gebar, allesamt Söhne. Seine Frau war sehr katholisch, er war es auch. Sie liebten einander.

Ein Kämpfer war er nicht. Es war seine Kaltblütigkeit beim Spiel, die den Clan, der damals Secondigliano regierte, auf ihn aufmerksam werden ließ. An dessen Spitze stand ein extravaganter Camorrista namens Aniello La Monica, der ein Bekleidungsgeschäft führte, das den Namen „Python“ trug – nach seiner Lieblingswaffe, einem schweren .357 Magnum Revolver. La Monica war ein aggressiver Killer, verantwortlich für viele Tode – darunter einen Mord durch eigenhändige Enthauptung. Doch war er seltsam schüchtern, was den Drogenhandel anging, und zog es vor, sich auf die traditionellen Sparten zu konzentrieren: Schwarzmarkthandel mit Zigaretten, Abgreifen von Mitteln bei den öffentlichen Bauvorhaben, Schutzgelderhebung bei den Ladeninhabern in der Nachbarschaft, die es vorgeblich vor kriminellen Übergriffen zu bewahren galt. Um 1975 engagierte er Di Lauro für die Buchführung des Clans. Diese Position gab Di Lauro einen privilegierten Einblick in die gesamten Geschäfte und führte bei ihm nach einigen Jahren – trotz des fortdauernden Zögerns La Monicas – zu der Überzeugung, daß man in dem noch kaum erschlossenen Handel mit Heroin und Kokain ungleich größere Profite machen könnte. Dies wurde 1980 noch deutlicher, nach dem großen Erdbeben in der Region, das Tausende von Menschen aus den eingestürzten Slumvierteln in den Zentren vertrieb und die Wohnblocks von Scampia mit den Armen und Entrechteten füllte.

In den folgenden Jahren bereicherte man sich in Neapel auf allen Ebenen an den Milliarden von Geld zum Wiederaufbau. Di Lauro blieb im Schatten und sprach wenig. Er lauschte und beobachtete. Er glaubte, daß vernünftige Menschen ihre beruflichen Auseinandersetzungen durch Kompromisse und Verhandlungen regeln könnten und nur im äußersten Falle töten sollten. Er war jedoch eher diszipliniert als nachsichtig. La Monica, der als guter Menschenkenner galt, begann Di Lauro als den Skrupellosesten von allen zu fürchten. Di Lauro wiederum kam zu dem Schluß, daß La Monica zu einer Behinderung für das Geschäft geworden war, und versuchte 1982, ihn von der Macht zu vertreiben, indem er in seiner Eigenschaft als Buchhalter hochrangigen Clanmitgliedern gegenüber behauptete, La Monica habe sich über seinen Anteil hinaus an den Profiten bereichert. Als La Monica von diesem Verrat erfuhr, beauftragte er zwei Killer aus einer Nachbarstadt, die Di Lauro erledigen sollten. Sie kamen mit dem Motorroller an, fanden Di Lauro auf einem Straßenmarkt, schossen, verfehlten ihn und jagten ihn umher, bis er entkam.
Nun gab es keinen Kompromiß mehr, und die Clanmitglieder sahen sich gezwungen, zwischen den beiden Männern zu wählen. Die Unsicherheit, wie man sich entscheiden sollte, dauerte nicht lange. Di Lauro bezahlte einen Bekannten dafür, La Monica mit einem Angebot gestohlener Diamanten aus dem Haus herauszulocken. La Monica witterte den Hinterhalt, wollte aber nicht als Feigling dastehen, der sich nicht mehr aus der Tür traut, und marschierte in die Falle.

(…)

Di Lauro ließ niemanden entführen oder berauben. Er verkaufte den Leuten einfach das, was sie von ihm haben wollten. Doch scheint er dabei selber unzufrieden geblieben zu sein. Er zog sich immer mehr zurück und hielt sich um die Mitte der neunziger Jahre fast nur noch in seinem Haus auf, wo er hinter verschlossenen Stahlfensterläden und versperrten Toren lebte und mit niemandem mehr Kontakt hatte außer mit seiner Familie und einigen wenigen Adjutanten, die sein Vertrauen besaßen. Er war blaß, weil er nie an die Sonne kam. Seine Frau blieb mit ihm drinnen und gebar alle paar Jahre ein weiteres Kind. Die Kinder wuchsen heran und gingen zur Schule. Die Familie hatte einen riesigen neapolitanischen Bullenbeißer namens „Primo Carnera“ (nach dem italienischen Schwergewichtsboxer). Der Hund schlief in einem eigenen Raum. Das Haus war dasselbe, in dem Di Lauro als Kind gewohnt hatte, wenn auch erweitert, befestigt und bewacht. Es hatte eine Kellerbar, gut mit französischen Weinen und Spirituosen ausgestattet, einen Schlafraum für die Jungs und ein großes, spärlich eingerichtetes Wohnzimmer, wo Di Lauro seine Entscheidungen traf. Hier hingen religiöse Bilder an den Wänden. Zur Kirche zu gehen wagte er nur noch selten. Er traute sich kaum mehr, zu telefonieren. Das Haus hatte einen Hinterausgang zur Flucht. Er behielt die Leute scharf im Auge, wenn er mit ihnen sprach, und drückte sich so knapp aus, daß seine Worte für Außenstehende schwer zu verstehen gewesen wären. Tatsächlich belauschte ihn niemand. Aber es war klar, daß Di Lauro fürchtete, unbesonnenes Reden könne ihn vernichten. Er war nicht länger einfach von Natur aus schweigsam. Die Vorsicht war es, die ihn verstummen ließ.

Und wenn Gerede ihn vernichten konnte, wie stand es dann mit einer Sprache, die der Staat wirklich verstand – wie stand es mit Mord? Die Polizei hatte den Sinn von La Monicas Tod nicht begriffen, aber die Frage muß Di Lauro später oft durch den Kopf gegangen sein. Er blieb zunächst unsichtbar und in Sicherheit, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er die Neigung der Camorra zu anarchischer Gewalt unterdrücken konnte.


(…)


Staat und Antistaat


Man mag die Hände ringen, wie entsetzlich das alles ist, aber dies ist Neapel, eine der großen Alternativen zum modernen Leben. Möglicherweise sollte die Welt ebensowenig versuchen, die Camorra auszurotten, wie sie die Neapolitaner dazu zwingen sollte, pünktlich zu sein. Und dann gibt es den rein praktischen Aspekt. Ein Antimafiarichter erzählte mir, manche Polizisten – selbst unter denen, die nicht korrupt sind – würden es vorziehen, wenn die Regierung sich hier nicht durchsetzte, denn sie fürchteten eine noch größere Unordnung. Ein anderer Richter wies darauf hin, daß die Regierung die Camorra zur sozialen Kontrolle brauche. Er sagte: „Für einen politischen Führer ist es leichter, mit einem Camorra-Chef zu reden als zu hunderttausend Leuten, wenn er eine Botschaft verkünden will.“ Mehr noch, sagte er: Die Camorra setze Maßstäbe, erzwinge Regeln, dränge die Macht der Polizei zurück, halte aggressive Steuerbeamte ab, gebe einem großen Prozentsatz der Bevölkerung Arbeit, schaffe und verteile Wohlstand auf effektivere Weise als irgendein anderer gesellschaftlicher Sektor und garantiere, daß die Dinge weitergingen, vor allem in Zeiten wie heute, wenn die Volkswirtschaft versagt habe und der Bestand der Währung selbst auf dem Spiel stehe.

Nicht gerade ein Modell, wie man es in Gemeinschaftskunde erarbeiten würde. Trotzdem nützt die Camorra der Gesellschaft dann am meisten, wenn sie stark ist. Die Richter, mit denen ich gesprochen habe, erkannten alle diese Wahrheit an, und doch waren eben dies die Leute, die Di Lauro gestürzt hatten. Ich fragte sie, ob sie an die Überlegenheit des italienischen Staates glaubten – mit einer Ausnahme verneinten sie es. Dieser eine sagte etwa: „Wir haben keine Wahl. Die Camorra hat einen Antistaat errichtet, dessen bloße Existenz die Legitimität des italienischen Staates bedroht. Wenn die Gerichte nicht handeln würden, wären sie nicht mehr wirklich da. Wenn die Gerichte nicht mehr wirklich existieren, kann Italien nicht bestehen. Unsere Aufgabe ist nicht, die Camorra zu besiegen, sondern, so zu tun, als würden wir es versuchen.“

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.