LI 67, Winter 2004
Grüne Zone, Bagdad
Die amerikanische Besatzungspraxis und das wachsende Chaos im Irak.
Elementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Textauszug
Die Grüne Zone liegt wie ein kleines Amerika im Herzen von Bagdad. Früher war es das Sanktuarium von Saddam Hussein und seinen treusten Anhängern – ein Villenbezirk mit Palästen und Denkmälern in einer parkähnlichen Anlage, die sich in einer Schleife des Tigris inmitten der zerstörten Stadt über sechs Quadratkilometer erstreckt. Während der 35 Jahre andauernden Diktatur der Baath-Partei war sie weder durch Tore geschützt noch eigens umgrenzt. Das war auch nicht nötig, da die Öffentlichkeit einen ausgeprägten Überlebensinstinkt besaß und von selbst verstand, daß hier ungeschriebene Regeln galten. Die Grüne Zone war Saddam Husseins Zentrum der Macht. Man konnte sie auf den drei oder vier großen Alleen durchqueren, die für den allgemeinen Verkehr freigegeben waren, und dabei über das ruhmreiche Regime sinnieren, doch sich länger dort aufzuhalten und umzuschauen, war nicht ratsam. Besaß man ein Auto und hatte eine Reifenpanne, fuhr man auf den Felgen weiter und sorgte dafür, daß es auch jeder mitbekam. Ich kenne einen jungen Mann, Sohn eines ehemaligen Beamten, der dort einmal auf der Straße gewendet hat und deshalb wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet wurde; man verhörte ihn, bis sein Vater einschritt und erklärte, daß der Junge unschuldig und bloß ein kleiner Taugenichts sei. Ach ja, die Jugend.
Seither hat sich viel geändert. Die Dritte Infanteriedivision der US-Armee kämpfte sich im April 2003 unter schweren Verlusten auf irakischer Seite in die Grüne Zone vor, deren einst privilegierte Bewohner Hals über Kopf flohen und dabei Haus und Hof räumten, weshalb sich die Gegend für eine Nutzung durch die Amerikaner geradezu anbot. Später allerdings sollte sich der Entschluß, die Regierung der Besatzungsmacht im Zentrum der Stadt einzurichten und in eben jenen Gebäuden unterzubringen, die bislang von der Diktatur genutzt wurden, als gravierender Fehler erweisen – einer von vielen Fehlern, die in der Arroganz des Know-how der Yankees und in ihrem merkwürdigen Unvermögen wurzelten, das Ende der Flitterwochen und jene Feindseligkeit vorherzusehen, die selbst die aufgeklärteren unter den Invasoren provozieren sollten.
Damals glaubte man, dem irakischen Volk entgegenzukommen, und obwohl die Alleen gesperrt waren, der Verkehr davor sich staute und Iraker, die in die Grüne Zone wollten, in ungeschützten Warteschlangen vor den Toren ausharren mußten, bis man sie durchsucht und ihre Identität überprüft hatte, hielt man all dies für eine vorübergehende Unannehmlichkeit, für die die Einheimischen doch sicherlich Verständnis aufbringen würden: Bagdad war zwar nicht vollständig gesichert, würde es aber in Kürze sein, sobald Demokratie und Kapitalismus Fuß gefaßt hatten.
Außerdem fand man das Leben innerhalb der Grünen Zone nahezu so anstrengend wie das Leben draußen. Es war staubig und unbequem, Stromversorgung und Klimaanlagen waren unzureichend, und bis auf den Vorrat, den sich Saddam Husseins Sohn Uday zugelegt hatte, gab es anfangs nicht einmal genügend Alkohol. Der Boden war mit Granatsplittern, darunter auch scharfe Munition, übersät. Manche Gebäude waren von Bomben oder einer Tomahawk getroffen worden, überall lagen Schutt und Geröll.
Eine Aufräummannschaft hatte sich an die Arbeit gemacht, aber es gab noch viel zu tun. Im Palast der Republik, der als Einsatzzentrum diente, drängten sich amerikanische und alliierte Beamte, die auf Feldbetten schliefen, wie irrsinnig arbeiteten und trotz des unzureichenden Computernetzes ihr Bestes zu geben versuchten. 54 Iraker lagen gegenüber unter einem Sandparkplatz begraben, aber auch das sollte nur vorübergehend sein. Die Flotte der über ihnen abgestellten blitzenden neuen Geländewagen wurde häufig genutzt, da man täglich zu den über die ganze Stadt und im angrenzenden Land verteilten Büros und Wiederaufbauprojekten fuhr. Die Koalitionssoldaten schafften es zwar nicht, für ein Ende der Kämpfe zu sorgen, trotz allem war es jedoch eine optimistische Zeit.
Was als nächstes geschah, schien unvermeidlich und war unabhängig davon, wer im fernen Amerika das Sagen hatte – Republikaner oder Demokraten – , sondern eher organisches Ergebnis des erzwungenen Zusammenlebens zweier so radikal verschiedenen Völker auf engstem Raum, Seite an Seite in Bagdad. Draußen die arabischen Iraker, die nach Jahrzehnten totalitärer Herrschaft eher unsicher, mißtrauisch und opportunistisch waren, drinnen die Amerikaner, die sich vielleicht zu sicher fühlten – von Wohlstand und nationaler Macht verwöhnt, selbstbewußt und verhätschelt von der Aussicht auf ein Leben in Sicherheit. Sie waren in erster Linie keine Soldaten, unterstanden aber dem Pentagon und hatten politisch keine andere Wahl, als das Konzept der „erzwungenen Protektion“ zu übernehmen und zum höchsten Gut zu erklären. Mit jedem Nadelstich des irakischen Widerstandes – mit jeder Ermordung eines Kollaborateurs, jeder ziellos abgeschossenen Rakete, jeder Granate, die aus der Stadt herüberflog und harmlos im Innern der Grünen Zone explodierte – wurden die Kontrollen strenger, und die Grenze wuchs zu einer schwer bewachten, hohen, zwölf Kilometer langen Betonmauer heran. Das entging den aufständischen Irakern nicht, außerdem verfügten sie über genügend erfahrene Mudschaheddin, die ihnen diese Dynamik erklärten und sie zu weiteren Angriffen ermunterten, ohne daß sie dabei einen übergeordneten Plan verfolgt hätten. Für derlei Angriffe brauchte man keinen großen Rückhalt in der Bevölkerung, doch nahm die öffentliche Unterstützung stetig zu. Das amerikanische Engagement ließ nach und damit auch die Effektivität der amerikanischen Initiativen. Das wußten selbst die Amerikaner. Selbst innerhalb der Grünen Zone nannten sie ihre Bleibe spöttisch nur die „Blase“, trotzdem zogen sie sich unwillkürlich in ihr Inneres zurück. Über mangelnde Planung im Vorfeld der Invasion ist viel gesagt worden, doch sollte sich die später einsetzende Isolierung als gleichgroßes Problem erweisen. Es ist ein bekanntes Paradox, daß Mauern, die schützen, auch einengen können.
Innerhalb dieser Mauern liegt ein Ort, wie es ihn in den Vereinigten Staaten nirgendwo gibt. Private Villen schmiegen sich entlang des Tigris in den Schatten einer üppigen Oase. Es ist ein vollkommenes, nahöstliches Paradies, ein Traumreich aus Gärten und Teichen, in dem verzierte Brücken künstliche Bachläufe überqueren. Einige Villen wurden von ihren früheren irakischen Eigentümern wieder in Besitz genommen, von zurückgekehrten Exilanten, doch die meisten Grundstücke haben flinke amerikanische Agenturen und Firmen an sich gerissen – die wahren Gewinner im Kampf um die Häuser der Grünen Zone, der gleich nach Bagdads Sturz einsetzte. In jedem Krieg gibt es Menschen, denen es gelingt, ein angenehmes Leben zu führen. Sitzt man an einem lauen Abend im Villenbezirk und gönnt sich ein Glas Wein und eine Zigarre, könnte man fast vergessen, wo man ist. Das geht natürlich nicht. Der Villenbezirk ist klein, und der Lärm der Explosionen ist nicht zu überhören.
In einer anderen Gegend der Grünen Zone wohnen Hausbesitzer anderer Art. Sie – die Armen Bagdads und seit langem gewohnt, auf der Straße zu überleben – machten sich das Chaos um Saddam Husseins Niederlage zunutze, um eilends eine nicht ganz so grüne Wohngegend in Beschlag zu nehmen, die nur wenige Stunden zuvor von der Elite der Baath-Partei aufgegeben worden war. Die ersten waren echte Pioniere. Noch während die Bomben fielen und Granaten explodierten, erhoben sie Anspruch auf leere Häuser und ließen schnell Freunde und Familie nachkommen. Da sie weder Anhänger noch Verbündete des alten Regimes waren, wußten die Amerikaner nicht, mit welchem Recht sie vertrieben werden sollten, und später versuchten sie es nicht mehr. Niemand weiß, wie viele dieser Iraker heute in der Grünen Zone leben, doch schätzt man ihre Zahl auf etwa 5000. Ein oder zwei Dutzend leben in Häusern, die für fünf Bewohner gedacht waren, und Armut und Übervölkerung machen diesen Bezirk zum Slum der Grünen Zone. Manche Männer verrichten Handlangerdienste, verkaufen Limonade oder irgendwelchen Tinnef an Straßenständen, doch alle haben sie gelernt, die Kontrollen zur Grünen Zone zu passieren und stets auf die sich ständig ändernden Anforderungen vorbereitet zu sein. Sie sind der Anlaß für die Sorgen um den Feind im Innern, doch die Kinder sind reizend, die Erwachsenen ruhig und unaufdringlich, und so herrscht ein verhaltenes Miteinander.
Letztlich aber ist in der Grünen Zone derart viel Platz, daß die beiden Gruppen nebeneinanderleben können, ohne allzu oft aufeinanderzutreffen. Ein Großteil der Grünen Zone ist einfach leer, in vielen Gegenden stehen bloß irgendwelche Denkmäler herum. Meist sind die Denkmäler militärischer Art und langweilig. Das Bekannteste ist wohl das Denkmal der beiden übergroßen Paare gekreuzter Schwerter, mit denen die martialische Pracht jenes Exerzierfeldes unterstrichen werden sollte, auf dem Saddam Hussein unter einem offenen, doch klimatisierten Stand die Truppenparade abzunehmen pflegte. Die gekreuzten Schwerter sind zur Touristenattraktion geworden, Hintergrund zahlloser Schnappschüsse. Andere, nützlichere Machwerke stehen weit verteilt in einer Landschaft aus Bäumen, Gras und Sand: die pompös modernistischen Regierungsbauten, darunter die Gebäude für die Nationalversammlung, den Ministerrat, das Hauptquartier der Baath-Partei sowie noch ein Dutzend anderer Häuser, einst der Stolz des totalitären Regimes. Manche kann man noch nutzen, andere sind nur noch zerbombte Betonhüllen.
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