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Lettre 143 / Wilhelm Sasnal
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LI 143, Winter 2023

Nach Hause, nach Europa

Die Erzählung von der Rechtsgemeinschaft und der Ordnung der Freiheit

„Es ist an der Zeit, die gemeinsame europäische Geschichte auch gemeinsam zu erzählen“, hat Bundespräsident Steinmeier kürzlich gefordert. Steinmeier sprach in der Paulskirche, wo man an die Nationalversammlung von 1848 erinnerte, die dort 175 Jahre zuvor zusammengetreten war. Ein nationaler Festakt, aber natürlich geht es heutzutage bei einem solchen Festakt nicht ohne Europa, und so bemühte sich Steinmeier, die europäischen Bezüge dieser revolutionären Zeit herauszuarbeiten und als historisch gewachsene Erzählung von Freiheit und Demokratie für die heutige Europäische Union fruchtbar zu machen.

I. Rechtsgemeinschaft

Mit diesem Erzählversuch reiht sich Steinmeier ein in eine lange Reihe der Suchenden. Europa, das ist in der heutigen Wahrnehmung ebenso der kreuzförmige Koloß des Brüsseler Berlaymont-Gebäudes wie eine Idee von Freiheit, abstrakt und assoziationsreich. Die Hoffnung auf Verwirklichung dieser Idee bezieht sich auf eine bis heute kaum weniger abstrakte Gemeinschaft, für die Politiker, Wissenschaftlerinnen und Schriftsteller seit ihren Anfängen nach einer eigenen Erzählung suchen, die dem europäischen Projekt Gestalt verleiht. Denn: Für die Legitimität dieser Gemeinschaft – das heißt für die Akzeptanz ihrer politischen Entscheidungen – sind Erzählungen von zentraler Bedeutung. Sie entfalten die Bindekraft, die Bürgerinnen und Bürger zu der Bereitschaft veranlaßt, (europäische) Politik und ihre Strukturen 
mitzutragen.

Als eine der wirkmächtigsten der in diesem Prozeß entstandenen Erzählungen dürfte die Erzählung der Rechtsgemeinschaft gelten. „Rechtsgemeinschaft“, das ist der Begriff, den Walter Hallstein zu Beginn der sechziger Jahre für das europäische Projekt gefunden hat und der die heutige Europäische Union zu einem „Lawyers’ Paradise“ macht. In ihr wird das gemeinsame, europäische Recht zum Mittler zwischen unterschiedlichen politischen Ordnungen, während es zugleich die größtenteils noch zu realisierende europäische Ordnung bereits zu verkörpern scheint.4

Frühe Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs – in den Rechtssachen Van Gend & Loos von 1963 und Costa/E.N.E.L. von 1964 5 – bereiten den Weg für ein individuell einklagbares und gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht vorrangig anwendbares europäisches Recht, das sich zum mächtigen Instrument der neuen Ordnung entwickelt. Die Erzählung der Rechtsgemeinschaft läßt in der Sprache des Rechts erzielte Einigungsschritte als Verwirklichungen einer gemeinsamen Rechtsidee erscheinen und erzeugt so den Eindruck eines verläßlichen Rahmens in der Unsicherheit des politischen Einigungsprozesses. 

Daß dieser scheinbar verläßliche Rahmen der Rechtsgemeinschaft Vorstellungen von Europa als graues, kühl-bürokratisches Regelmonster ebenso genährt hat, ist die andere Seite dieser Geschichte. Die Romantik einer verbindenden Rechtsidee erschließt sich nicht jedem. Erst recht nicht, wenn es um Souveränitätsverluste geht, welche die Mitgliedstaaten hinnehmen sollen, wenn es um die Verwirklichung dieser europäischen Rechtsidee auf Kosten nationaler Rechtsordnungen geht. Von innen gerät die Erzählung der Rechtsgemeinschaft daher immer wieder unter Druck, während gleichzeitig von außen, jedenfalls aus Sicht europäischer Nachbarstaaten, die Anziehungskraft „Europas“ und seiner „Rule of Law“ ungebrochen scheint.

Im Angesicht europäischer „Rechtsstaatlichkeitskrisen“ wird innerhalb der Europäischen Union in jüngerer Zeit die Frage aufgeworfen, ob die Erzählung von der Rechtsgemeinschaft imstande ist, ein gemeinsames europäisches Freiheitsideal überzeugend zu verkörpern.6 Dabei geht es auf den ersten Blick um ganz unterschiedliche nationale Entwicklungen: Während man sich in Ungarn und Polen von liberalen Freiheitsvorstellungen abwendet, dürfte im Gegensatz dazu etwa im Rahmen des Brexit eine Rolle gespielt haben, daß die Verwirklichung einer (kontinental-)europäischen Rechts-
idee zu Lasten nationaler Souveränität nicht für jeden einen Freiheitsgewinn bedeutet. 

Auch in der deutschen Debatte, mit der europakritischen Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts als Taktgeber, kann man mitunter den Eindruck gewinnen, Freiheit bedeute heute vor allem Freiheit von der Rechtsgemeinschaft.

Zweifel an der Überzeugungskraft der Rechtsgemeinschaft als Erzählung speisen sich aber nicht nur aus derlei politischen Konfliktlagen, sondern ebenso aus einer andauernden Unsicherheit über die Identität der europäischen Ordnung, die in hilflosen Werbekampagnen der EU deutlich zum Ausdruck kommt. „YOU ARE EU“ schleudern einem auf dem S-Bahnsteig Plakate von spazierenden Rentnerinnen oder schaukelnden Kindern entgegen – aber wer ist denn eigentlich EU?

II. Aufbrüche

Diesen europäischen Selbstzweifeln zum Trotz: Jedenfalls von außen wirkt nicht nur Europa, sondern auch die europäische Rechtsgemeinschaft noch immer verheißungsvoll. Als Wolodymyr 
Selenskyj, der ukrainische Präsident, am 9. Februar 2023 vor dem Europäischen Parlament spricht, ist es neben freien Wahlen und offenen Grenzen nicht zuletzt die Rechtsstaatlichkeit, die er als Kern einer europäischen Ordnung ausmacht – eine Ordnung, die für sein Land zur Hoffnung auf eine Zukunft in Freiheit geworden ist. „Dies ist unser Europa. Dies sind unsere Regeln. Dies ist unser way of life“, so 
Selenskyj, und fügt an: „Für die Ukraine ist es ein way home.“7

Für die Ukraine, zu diesem Zeitpunkt seit fast einem Jahr im Kriegszustand,8 bedeutet dieser „way home“ eine bis vor kurzem auf dem Kontinent kaum noch vorstellbare Beschwerlichkeit und Brutalität. Mit seiner Kleiderwahl – militärgrüne Hose, grobe, ebenfalls militärgrüne Schuhe, schwarzes Sweatshirt – hält Selenskyj diesen Kriegszustand nicht nur wirkungsvoll im Gedächtnis, sondern zeigt sich gerade hier, im Europäischen Parlament, zugleich als Mann des Volkes, der den Kampf einer Gesellschaft für „europäische“ Freiheit und Demokratie dokumentiert.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.