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Cover Lettre International 33, John Baldessari
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Inhaltsverzeichnis

LI 33, Sommer 1996

Der Roman und das Wissen

Vom Lachen, vom Erzählen und von der Sterblichkeit

Branka le Comte Bogavac Was ist für Sie das Wort?

Umberto Eco Ich werde Ihnen aus dem Gedächtnis einen Gedanken aus Pascals Penses zitieren: Wenn man Schlagball spielt, ist der Ball immer derselbe und jeder führt die gleichen Schläge aus, aber einer der beiden Spieler schlägt besser. Die Wörter sind die, die auch die anderen jeden Tag benutzen. Der Schriftsteller ist derjenige, der sie auf eine andere Weise anordnet oder, wie Flaubert sagte, das richtige Wort findet.

Und das Wort als Material für den Schriftsteller?

Ich bin immer irritiert von gewissen Autoren, die eine Art von Kult um das Wort machen, so als ob alles von der Art abhinge, wie sie ein Wort abschmecken, es im Mund hin- und herwenden. Wenn ich ein Erzähler bin, so kann die Konstruktion der Geschichte, die Schaffung der Welt für mich viel wichtiger sein als das Wort. Es ist offensichtlich, daþ es mir Vergnügen bereitet, die Worte auszuwählen, sonst wäre ich kein Journalist. Dies ist es, was mich zum Schreiben drängt; wie andere das Holz, das Schreinern lieben und sich damit vergnügen, genauso haben wir Spaß an den Wörtern, unserem Rohstoff. Was mich ärgert ist diese Art von Religion der Wortesla Mallarm. Ich bin nicht Mallarmé. Ich schreibe Ideenromane, Wissensromane, also gibt es da etwas Komplexeres als dieses Spiel mit Worten, während das Wort für einen Dichter etwas Grundsätzliches wird, es ist der Hauptgegenstand. Das Wort ist vom literarischen Genre abhängig, seine Bedeutung ebenfalls.

Borges sagt: "Lektüren sind die eigentlichen Ereignisse des Lebens." Welches wären die "Ereignisbücher" ihres Lebens?

 Sie sind zahlreich. Zu zahlreich. Aber man erinnert sich besser an Bücher als an etwas anderes, und der Beweis dafür ist, daß man, ohne es zu bemerken, viele andere wichtige Ereignisse in seiner eigenen Erinnerung erneut so niederschreibt, als ob sie den Büchern entsprungen seien, die man gelesen hat.

Haben Sie Borges persönlich kennengelernt?

Nein, ich habe ihn nicht getroffen. Eines Abends hätte ich die Möglichkeit haben können, aber ich wollte nicht. Ich habe Angst davor, die Schriftsteller, die ich liebe zu treffen und eine lange geistige Beziehung auf zwei launige Bemerkungen im Verlauf einer raschen Unterhaltung zu reduzieren.

Was hat Sie an Borges am meisten angezogen?

Mit Borges ist es die gleiche Geschichte wie mit Joyce. Ein Freund, der einer der wichtigsten Dichter Italiens war, sagt mir eines schönen Tages: "Auf mein Anraten hin ist ein Buch eines Argentiniers veröffentlicht worden, das niemand gekauft hat. Ich empfehle Ihnen, es zu lesen." Ich las es, und es war verrückt: Ich stieß wieder auf einen Text, den ich im Alter von zehn Jahren geschrieben hatte. Es war eine Art fiktives Tagebuch über eine Population gewesen, die auf einer nicht existenten Insel lebte. Vielleicht war ich mit zehn Jahren ein wenig borgesianisch; die Paralleluniversen ... Und als ich dann auf die Schriften von Borges stieß, sagte ich mir: "Ah, das ist es, was ich liebe!" Mein Text ist schlecht geschrieben, aber wenn man ihn charakterisieren müßte, wäre er eher borgesianisch als balzacianisch oder von einer Sensibilität à la Robbe-Grillet.

Haben Sie bei ihm einen Teil ihrer selbst entdeckt?

Man sucht das immer bei einem Autor.

Sie haben gesagt, daß es sein außerordentliches Wissen war, das Sie angezogen hatte.

Und auch die Fähigkeit, mit der Enzyklopädie zu spielen. Jemand hat ein Buch über die Bezüge zwischen Borges und mir geschrieben. Offensichtlich ist man immer von mehreren Autoren inspiriert, niemals von einem einzigen. Man vermischt verschiedene Einflüsse. In Der Name der Rose gibt es diese von William verkörperte rationalistische Seite, die nicht borgesianisch ist, es gibt da eine weitere Quelle, wahrscheinlich meine Thomas-von-Aquin-Seite. Diesen Autor habe ich sehr geliebt. Noch etwas anderes: Wenn man einen Autor sehr liebt, dann liest man ihn manchmal nicht vollständig, denn man führt ihn dann selbst weiter. Und wenn man ihn später wieder in die Hand nimmt, sagt man sich: Das wußte ich schon. Das kommt oft vor. Wir lesen viele Autoren, die uns weniger interessieren und weniger diejenigen, die wir lieben.

Ich bitte Sie, mir den lateinischen letzten Satz ihres Romans Der Name der Rose zu übersetzen.

Ja. "Die Rose von früher bleibt uns einzig durch ihren Namen, wir haben nur den Namen." Das war ein rhetorischer Topos in der mittelalterlichen Dichtung. Erinnern Sie sich an Wo ist der Schnee von gestern? von Francois Villon? Das war eine Variation eines moralischen Topos, der an alle großen französischen oder antiken Prinzessinnen gerichtet war. Der lateinische Vers fügt dieser Klage über das Verschwinden der Dinge etwas hinzu, fügt diese Art von Verankerung hinzu, die sich dem Namen verdankt. Uns bleibt der Name, eine Schrift, das Wort. Es erschien mir gut, das Buch, in dem es nur um eine Bibliothek und ein Manuskript geht, das man gefunden hatte, so zu beenden. Das Sonderbarste ist, daß ich während des Schreibens niemals gedacht hätte, daß der Titel Der Name der Rose sein würde. Er ist fast im letzten Moment gekommen.

Anthony Burgess sagt: "Die Vollkommenheit im Bereich der Kunst ist etwas so Seltenes, so absolut Unerwartetes. Kein Stück von Shakespeare ist ohne Makel, aber Scott Fitzgerald hat in Der große Gatsby die Vollkommenheit erreicht." Welches sind für Sie vollkommene Werke?

Ich könnte ein einziges Werk nennen, das ich immer absolut vollkommen gefunden habe. Es handelt sich um Sylvie von Gérard de Nerval. Ich lese es oft wieder und finde es unmöglich, ein einziges Wort hinzuzufügen oder herauszustreichen. Das soll nicht heißen, daß es das einzige ist. Aber wenn man liebt, glaubt man, die geliebte Person sei die einzig vollkommene.

Sie sagen in Das offene Kunstwerk: "Dennoch bedeutet das Aufgeben des Glaubens nicht, daß Joyce von der religiösen Obsession frei wird. Zeugnisse für das Fortbestehen der früheren Orthodoxie tauchen immer wieder in seinem ganzen Werk auf, und zwar in Gestalt einer sehr persönlichen Mythologie und blasphemischer Anfälle, die auf ihre Weise die Fortdauer derartiger Affekte offenbaren." Gibt es in diesem Punkt eine Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Joyce? 

Ja, bis auf die Anfälle.

Sie haben daran erinnert, daß "Aristoteles seine Metaphysik beginnt, indem er sagt, daß man Philosophie betreibt, um auf einen Akt des Erstaunens zu antworten." Sie besitzen ein immenses Wissen, haben sie noch Gelegenheit, erstaunt zu sein?

Man hat mich neulich gebeten, eine Definition des Begriffes des "Interessanten" zu geben. Ich antwortete, daß das Interessante-an-sich nicht existiert. Etwas ist immer für jemanden interessant. Für Jacob Böhme wurde eines Tages eine von Sonnenstrahlen berührte Zinnvase interessant, da dieses Bild die fundamentale (mystische) Erfahrung seines Lebens war. Für Gombrich war es eines Tages interessant, über ein Schaukelpferd zu meditieren, das nur ein banaler Besenstiel war. Für Fleming war es interessant, über gewisse Schimmelpilze zu meditieren. Für Galilei über die Schwingungen eines Leuchters im Dom von Pisa. Für Madame Curie über die Spur, die irgendein Mineral auf einem Stück Papier hinterlassen hatte. In A Study in Scarlett, einer der bekanntesten Geschichten von Sherlock Holmes, fanden es alle interessant, daß jemand "Rach..." auf eine Mauer geschrieben hat, während Holmes sich für die Höhe interessierte, in der man das halbe Wort geschrieben hatte. Das gesamte Werk von Freud ist die Demonstration der Weise, wie man mit einem psychologischen Fall fertig wird, indem man sich für die Fehlleistung interessiert, für die Auswahl eines Wortes anstatt eines anderen, für die Einzelheiten eines Traumes, die andere ganz einfach für zufällig und absurd halten würden.

In allen Beispielen, die ich gegeben habe - und die die wissenschaftliche Forschung, die metaphysische Meditation, die Kunstkritik, die Psychoanalyse oder die polizeiliche Untersuchung betreffen - hielt jemand etwas für interessant, und dadurch des Erstaunens würdig, das von vielen anderen für belanglos befunden wurde. Dies ist also das wahre Problem: Man weiß wohl, daß sich jedes menschliche Wesen für etwas interessiert, aber das hat keinen Belang (vor allem, wenn das, was jemand interessant findet, nicht alle interessiert: Die ägyptischen Pyramiden, die stürmische See, ein wütender Stier, der Regenwald von Amazonien). Dagegen sind die Fälle interessant, in denen jemand etwas interessant findet, was es vorher für andere nicht war, weil er durch sein Nachdenken über dieses scheinbar belanglose Detail dazu kommt, etwas sehr Interessantes zu entdecken.

Auf dieser Ebene transformiert sich das Problem des Interessanten in das Problem der "Pertinenz" (Erheblichkeit). In allen Fällen, die ich angeführt habe, fand man etwas interessant, weil es ein pertinentes Element in einem "Rahmen" werden konnte, den es jedoch bis dahin nicht gab. Ich will damit sagen, daß der Leuchter von Galilei im Rahmen einer Theorie der isokornen Schwingungen von Pendeln erheblich wurde, aber bevor Galilei den Leuchter interessant fand, hatte diese Theorie noch nicht existiert. Etwas ist in bezug auf etwas erheblich. Die Phonologen wissen das: Ein Merkmal ist im Inneren einer Struktur pertinent; wenn es keine Struktur gibt, ist es unerheblich.

Wir haben nun das Interessante, das uns nur dann interessiert, weil es etwas Erhebliches in bezug auf etwas offenbart, das noch niemand, nicht einmal der Entdecker selbst, kennt.

Ich glaube also, daß der Mensch von Kultur und der Künstler sich, jeder auf seine Weise, in einer Welt bewegen, indem sie sich verschiedene "Rahmen" vorstellen, die geeignet sind, die Dinge auf andere Weisen zu erklären. Sie halten plötzlich vor etwas inne, das für jemand anderes belanglos ist und denken, daß diese Sache in bezug auf einen neuen Rahmen erheblich werden könnte.

Sie sagen: "Das Fiktionale des Manuskripts gab mir eine Maske, sie rechtfertigte den Rhythmus, den Stil des Chronisten. Und dann befreite mich dies auch von der Scham, ein Erzähler zu sein oder von der Angst zu sein..." Diese Worte zeugen von einem extremen Zartgefühl und sind sehr bescheiden. Wenn ein Riese an Intelligenz und Gelehrsamkeit von ihrer Statur solche Skrupel hat, was sollen die gewöhnlichen Leute dann machen? Sollte man nichts wagen?

Diese Frage schneidet noch einmal die Frage über die Flucht aus der persönlichen Emotion an. Baudelaire hat gemogelt: Man soll sein Herz niemals entblößen. Niemand interessiert sich für unser Herz. Der Leser interessiert sich für die Worte, die von einem Herzen sprechen und die, wenn das möglich ist, vom Herzen aller sprechen. Furchtbares Unternehmen! Also braucht man eine Maske. Andere sollen es genauso machen.

Sie sagen, daß Baudelaire mogelt...

Wenn er sagt: "Mein entblößtes Herz", so lügt er, er schummelt. Er entblößt sein Herz nicht, wenn er von seiner Liebe zu einer Riesin erzählt, er erzählt keine Leidenschaft, nichts, was ihm wirklich widerfahren ist. Sie sehen, wie er seine Leidenschaft, seine Empfindung in einem Bild objektiviert, das kein persönliches oder autobiographisches Bild ist. Es ist ein ästhetisches Bild. Ich wiederhole den Satz von Eliot: "Die persönliche Emotion muß sich in eine Handlungskette übersetzen, in etwas, was da ist und bleibt, selbst wenn man die persönliche Emotion des Autors nicht kennt." Ich will sagen, daß Sie, wenn Sie Hamlet lesen, Emotion verspüren, auch wenn Sie Shakespeare niemals kennengelernt haben, und Sie hätten, wenn Sie ihn gekannt hätten, vielleicht den Eindruck gehabt, daß er ein Dreckskerl war, dessen Leidenschaft der Ihren nicht entspricht.

Schreiben ist Objektivierungsarbeit: Man spricht und geht offensichtlich von persönlichen Gefühlen und Erfahrungen aus, und man geht über das Persönliche hinaus; es bedeutet, die Worte zu benutzen, die jemandem zugänglich sind, der diese persönliche Leidenschaft nicht erlebt hat. Ich glaube, man kann von Tränen sprechen, ohne zu weinen. Ich glaube, daß ein Mann die Geschichte eines Homosexuellen erzählen kann, ohne homosexuell zu sein. Flaubert war fähig, sich in die Situation einer Frau zu versetzen, während ein anderer Autor dazu nicht in der Lage gewesen wäre. Kafka hat sich in ein Insekt hineinversetzt. Ist er deshalb ein Insekt gewesen?

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.