LI 135, Winter 2021
Kunst, Freiheit, Moral
Wie es zu Autonomieverlusten in liberalen Demokratien kommtElementardaten
Genre: Analyse, Essay, Gesellschaftstheorie, Kulturtheorie, Kunsttheorie
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Textauszug
Bis etwa 2015 litt die Kunstwelt an einem postmodernen Überdruß-Syndrom. Anything goes war die Devise, man konnte machen, was man wollte, ohne daß sich irgend jemand noch von Kunst provozieren ließ. Man befand sich in einer „Nachmoderne“, so die resignative Einsicht, weil sich die großen Tabubrüche der Moderne höchstens noch zitieren oder reinszenieren, aber nicht mehr überbieten ließen. Insofern griff man zu immer rabiateren Mitteln der Aufmerksamkeitsökonomie, wozu sicherlich auch Jonathan Meeses Mannheimer Theateraufführung mit Hitlergruß und Hakenkreuz gehört, die 2013 für den gewünschten Eklat sorgte. Meese handelte sich mit dieser Performance eine Anklage aufgrund des Paragraphen 86a des Strafgesetzbuchs ein, welcher die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen unter Strafe stellt, wozu insbesondere Nazisymbole gehören. Die Staatsanwaltschaft Mannheim stellte ihre Ermittlungen mit der Begründung ein, daß die Grenzen der Kunstfreiheit in diesem Fall nicht überschritten wurden. Meese ließ sich die Differenz von Fiktionalität und Realität noch einmal per Gerichtsbeschluß bescheinigen: Die Welt der Kunst ist ein autonomer Freiraum, in dem man mit Aussagen und Symbolen, die in der wirklichen Welt unrechtmäßig sind, frei operieren kann.
Aus heutiger Sicht wird man feststellen, daß der Gerichtsbescheid die Quintessenz der ganzen Performance war, denn in ihr manifestiert sich in einer geradezu hellsichtigen Weise eine Zeitenwende. Einerseits steht die Meese-Performance für einen allerletzten Versuch, in einer postmodernen Kunstwelt, in der sich auch für das Thema „Kunstfreiheit“ niemand interessiert, Aufmerksamkeit herzustellen. Andererseits antizipierte hier ein Hofnarr der liberalen Demokratie die heutige Situation, in der ebendiese Kunstfreiheit durch no platforming und cancel culture in Frage gestellt wird. Die Fälle von Philip Guston, J. K. Rowling, Lisa Eckhart, Monika Maron, Dana Schutz, Axel Krause, Eugen Gomringer und vielen mehr stehen alle gleichermaßen für diese Entwicklung, die vor wenigen Jahren noch undenkbar schien. Wie konnte es zu einem derartigen Meinungsumschwung kommen? Wie ernst muß man diese Entwicklung nehmen? Steht wirklich die Kunstfreiheit zur Disposition? Und was heißt dies für eine Gesellschaft, die sich selbst als liberale Demokratie beschreibt?
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Die Freiheitsrechte schützen liberale Demokratien gegen einen Rückfall in jene illiberale moralisch-religiöse Ordnung, aus der sie einst hervorgegangen sind. Der Streit um die Kunstfreiheit zeigt sich entsprechend am deutlichsten in dem Ursprungskonflikt zwischen Kunst und Religion. Dieser Konflikt ist in den westlichen Demokratien mit dem Christentum weitgehend beigelegt worden, weil sich alle gesellschaftlichen Akteure daran gewöhnt haben, jede künstlerische Äußerung, und sei sie noch so unappetitlich, zu ignorieren oder zu tolerieren. Mit dem Islamismus kommt dieser alte Konflikt noch einmal zurück. Grundsätzlich hat man es aber heute mit einer vollkommen anderen Situation zu tun. Die Infragestellung der Kunstfreiheit kommt nicht mehr aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft, und zwar als Begleiterscheinung der digitalen Revolution. Über die neuen sozialen Medien beginnt die politische Kommunikation mit kunstimmanenter Kommunikation in einer schwer vorhersehbaren Weise zu interferieren.
Mit der Digitalisierung ändert sich sowohl die Sichtbarkeit als auch die Irritierbarkeit des Kunstsystems durch politische Akteure. Zum einen wird die Kunst durch die neuen Medien von außen beobachtbar. Man muß nicht mehr aktiv an Kunstszenen partizipieren und Theateraufführungen anschauen, Ausstellungen besuchen oder Bücher lesen, um hierzu einen politischen Kommentar abgeben zu können. Politische Aktivisten hatten bislang kaum Zugang zu dem, was sich in den Kunstszenen abspielt, wenn sie nicht selbst zu den Insidern gehörten; heute können sie im Netz sofort kontrollieren, ob ein Werk für sie Konfliktpotential besitzt. In einer digitalen Medienwelt wird es zudem einfach, ein Bild, eine Textzeile, eine Geste aus dem Werkkontext herauszukopieren und über soziale Medien zu skandalisieren. Und das trifft um so mehr für die Interviews, Facebook-Kommentare und Tweets der Künstler, Schriftsteller und Kunstkritiker zu, die allesamt online zu finden sind und sich auch nicht mehr löschen lassen, wenn sie einmal viral geworden sind.
Entscheidend für die heutige Politisierung der Kunst ist jedoch nicht nur, daß die Kunst mit den neuen Medien ihren bisherigen Latenzschutz verliert und zu einem unerschöpflichen Materiallager für politische Interventionen wird. Genauso wichtig ist, daß sich die neuen Medien extrem gut dazu eignen, eine politische Agenda in die Kunstszenen hinein zu senden. Über Twitter und über die Kommentarfunktionen von Zeitungen und Websites läßt sich Betroffenheit und Empörung auf eine Weise verlinken und verstärken, wie das bei den alten Medien unmöglich war. Der Shitstorm ist nichts anderes als eine geballte Ladung moralischer Kommunikation, mit der sich Institutionen unter Druck setzen lassen, ein Bild nicht auszustellen, eine Ausstellung abzusagen oder einer Künstlerin keinen Auftrittsort mehr zu geben. Man nennt diesen Kulturimport aus amerikanischen Universitäten neudeutsch no platforming und cancel culture.
Das Kunstsystem erleidet durch seine neue kommunikative Durchlässigkeit einen zumindest temporären Autonomieverlust, weil auch die Verantwortlichen in den Institutionen ungefiltert moralisch unter Druck gesetzt werden können. Ein einschlägiges Beispiel hierfür ist die Verschiebung einer für 2020 geplanten Ausstellung mit Bildern von Philip Guston, auf denen Ku-Klux-Klan-Figuren zu sehen sind. Selbst so mächtige Institutionen wie die National Gallery of Art in Washington, das Museum of Fine Arts in Boston, die Tate Modern in London und das Museum of Fine Arts in Houston sahen sich im vorauseilenden Gehorsam genötigt, die von ihnen für 2020 organisierte Wanderausstellung des Malers um vier Jahre zu verschieben. Angesichts von Black Lives Matter befürchtete man den Vorwurf, dem Rassismus eine Plattform zu geben, wenn man ein Bild wie Riding Around (1969) dem Publikum zeigt. Niemand wird ernsthaft glauben, daß diese Karikatur mit den drei rauchenden Zipfelmützengestalten, die in einem Kinderauto herumfahren, eine Heldengeschichte über den Ku-Klux-Klan erzählt, aber es gibt natürlich politische Bewegungen, die im Einklang mit ihrer politischen Agenda den Zeichengebrauch in der Gesellschaft regulieren möchten und hier ein Bilderverbot durchsetzen wollen.
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