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Inhaltsverzeichnis

LI 127, Winter 2019

Snowden im Labyrinth

Von Überwachung, Selbstüberwachung und digitaler Kolonisierung

(...)

Wenn das Internet uns einen Ozean der Ungerechtigkeiten zeigt, ein Meer von Krisen, die dringend der Aufmerksamkeit bedürften und nun um die unsere kämpfen, so ist es auch voll von herablassenden Abwiegelungen, Streitigkeiten, Verächtlichkeit, Demütigungswillen und offener Lüge. All dies, und dazu zahllose anklickbare Möglichkeiten, unsere reptilienhafte Gier nach Orgasmen, Rache und Klatsch zu befriedigen.
     Was die Konstanten der Überwachung und Selbstüberwachung angeht, endet alles in einem Patt. Oder vielleicht handelt es sich um eine Form des Stockholm-Syndroms, von erlernter Hilflosigkeit. Bei meiner eigenen chaotischen Umfrage haben fast alle, die an die Verfügbarkeit ihrer Daten und Metadaten für die Zwecke großer Firmen oder der NSA erinnert wurden, mit einem kurzen Zornesausbruch reagiert, dem rasch das Achselzucken einer resignierten, ironisch maskierten Akzeptanz folgte: Natürlich, das gibt’s, aber ich habe nichts zu verbergen. Oder: Mich haben die ohnehin auf ihrer Liste. Oder: Die empfehlen oft Bands, von denen ich sonst nie was gehört hätte. Snowdens implizite Frage in seinem ganzen Buch lautet: Warum gelingt es mir nicht, die Leute aufzurütteln?
     Ich bin 1964 geboren. Einige meiner Lieblingsbücher befassen sich damit, wie das menschliche Leben vor, während und nach einem der großen Brüche in der kollektiven Lebensperspektive gewesen ist – einer jener Umwälzungen, welche die gesellschaftliche Wirklichkeit umformen, durch eine neue Ideologie, eine neue Technik. Solche Verwandlungen sind manchmal noch Teil unserer Erinnerungen, aber diese verlöschen rasch: Anthony Powells A Dance to the Music of Time, Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Doris Lessings The Children of Violence, Ford Madox Fords Parade’s End – sie versuchen alle, die atmosphärischen Veränderungen in Europa zwischen den konvulsivischen Kriegen Europas und um diese her zu beschreiben, wie es auch Paul Fussells großartige Studie The Great War and Modern Memory unternimmt. Booth Tarkingtons Roman The Magnificent Ambersons behandelt unter anderem die Folgen der Einführung des Automobils für eine Kleinstadt des Mittleren Westens. George W. S. Trows brillanter Essay „Within the Context of No Context“ fängt ein, wie das Fernsehen unmerklich alte Sozialordnungen aufgelöst hat.
     Zuvor hatte ich die Nachkriegs-Science-Fiction der USA verschlungen; sie hatte mir ständig als Linse meines eigenen tastenden Weltverständnisses gedient (wie ich oben demonstriert habe). Vieles von dieser Literatur, insbesondere die Werke der Autoren in den fünfziger Jahren, die sich um das Magazin Galaxy gruppierten (darunter Sheckley), wirkt jetzt auf mich wie eine Reihe von Gedankenexperimenten zu einer Gesellschaft, die von Radio und Fernsehen, Weltraumfahrt, Werbung und Atomkrieg überwältigt ist – sowohl berauscht wie traumatisiert von etwas Undurchschautem. Überwältigt auch vom schwindelerregenden Wachstum dessen, was damals noch nicht den Namen „globaler neoliberaler Konzernkapitalismus“ führte. Ich denke nun, daß die komplexen Mäander dieser langen historischen Romane und die raschen, oft brutalen Interventionen der Science-Fiction – der Literatur der „kognitiven Entfremdung“ – beide implizit dasselbe aussagen: Nach den sich beschleunigenden Transformationen des 19. und 20. Jahrhunderts kann man über das Leben im 21. Jahrhundert nicht reflektieren, wenn man lediglich die Gegenwart beschreibt.
     Im Augenblick unterrichte ich Leute, die sehr viel jünger sind als ich, im Schreiben – die Kinder des Internets und des Sicherheitsstaates, der nach dem 11. September entstanden ist; des triumphalen Globalkapitalismus und der Klimakatastrophe. Es ist eine Platitüde, zu sagen: Diese Menschen lesen (und sehen und schreiben) dystopische Geschichten, weil sie in einer leben. Es ist kaum überraschend, daß sie wenig Zeit haben für Lessing oder Ford; diese Verwandlungschroniken liegen zu tief im Rückspiegel. Die Mehrheit meiner Studenten findet wenig Nahrung in den etwas selbstgefälligen Annahmen, von denen der zeitgenössische Realismus ausgeht. Sie hungern danach, daß man ihnen bestätigt: nicht daß die Welt sich verändert hat oder im Begriff ist, sich zu verändern, sondern daß die Welt schlechthin Veränderung ist.
     Ich glaube, das direkte Zeugnis kommt heutzutage auch gut an, bei meinen Studenten und bei vielen anderen von uns. Selbstreflektierte Skrupulosität der Prosa kann, wenn sie so präzise ist wie bei Tolentino, uns sowohl erregen wie beruhigen, weil sie das eine berührt, das wir mit Gewißheit über das „Jetzt“ sagen können: daß jeder von uns sich größte Mühe geben muß, damit zurechtzukommen. Snowden liefert seinerseits eine sorgsame und ausdrucksvolle Beschreibung dessen, wie der Computer in sein junges Leben tritt und wie die Versuchungen des Virtuellen beginnen:
     „Dieser Compac[-Computer] wurde mein ständiger Begleiter – mein zweites Geschwisterkind und meine erste Liebe. Er kam genau zu dem Zeitpunkt in mein Leben, als ich ein unabhängiges Selbst entdeckte und die multiplen Welten, die innerhalb dieser Welt existieren können … Es war dies eine technisierte Pubertät, und die ungeheuren Veränderungen, die sie in mir auslöste, fanden in gewisser Weise überall in allen statt … Allein mit diesem Kabel, mit der Erweiterungskarte und dem Modem des Compac sowie einem funktionierenden Telefon konnte ich einfach wählen und mich mit etwas Neuem verbinden lassen, das Internet hieß … Leser, die nach der Jahrtausendwende geboren wurden, werden diese Aufregung wohl nicht verstehen, aber man glaube mir, es war ein gottverdammtes Wunder … Man konnte jedes andere Telefon im Haus abnehmen und hörte über den Nebenanschluß tatsächlich die Computer reden … Der Internetzugang und die Herausbildung des World Wide Web waren der Urknall meiner Generation, ihre kambrische Explosion … Manchmal hatte ich das Gefühl, ich müßte alles wissen und würde mich nicht eher ausloggen, als bis ich das geschafft hatte. Als müßte ich ein Rennen mit dieser Technik laufen.“
     Und: „Wie kann ich es jemandem erklären, der nicht dabei war? Meine jüngeren Leser mit ihren jüngeren Maßstäben dürften dieses im Entstehen begriffene Internet für viel zu langsam halten, das im Entstehen begriffene Web für zu häßlich und zu wenig unterhaltsam. Aber das wäre ein Fehler. Damals war man, wenn man online war, in einem anderen Leben, das die meisten für getrennt und verschieden vom ‘richtigen Leben’ hielten. Das Virtuelle und das Tatsächliche hatten sich noch nicht verbunden. Und jeder einzelne Benutzer mußte für sich selbst entscheiden, wo das eine aufhörte und das andere begann.“
     Sowohl Tolentino wie Snowden werden nostalgisch, wenn es um diese frühe Version des Internets geht, aber es ist nicht klar, ob sie wirklich von denselben Phänomenen reden. Snowden – 1983 geboren – sieht ausdrücklich in der Anonymität die befreiende Macht des frühen Web:
     „Eine der größten Freuden dieser Plattformen war es, daß ich dort nicht sein mußte, was ich war. Ich konnte jeder sein. Die Anonymität oder Pseudonymität brachten in alle Beziehungen eine Ebenmäßigkeit, sie korrigierten das Ungleichgewichtige … Ich konnte sogar als multiples Selbst existieren … In den 1990er Jahren war das Internet noch nicht zum Opfer der größten Ungerechtigkeit in der digitalen Geschichte geworden: der durch Regierung und Geschäftswelt durchgedrückten Maßnahme, die Online-Persönlichkeiten der Benutzer und deren juristische Identitäten offline so intim wie möglich miteinander zu verbinden … was exakte Erinnerung, Identitätskonsistenz und damit ideologische Konformität erzwang.“

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.