LI 86, Herbst 2009
Insel ohne Möwe
Stimmen zu Berlin aus sieben JahrhundertenElementardaten
Textauszug
Berlin riecht man im Umkreis von 9 Kilometern.
Carl von Linné (1707–1778)
Man spricht soviel von den Berlinern und ihrem Charakter. Das heißt wohl nichts mehr als von den Bewohnern Berlins. Denn die echten Berliner sind sparsam zu finden, und diese Stadt ist mehrenteils mit Ausländern ausgefüllt, die ein buntes Gemisch darstellen.
Anton Balthasar König (1753–1814)
Der Berliner ist grob, zanksüchtig, ohne Sentimentalität, eitel, exklusiv. Mit Berlin und dessen Weise ist für den Berliner alles erschöpft; er hat keinen Maßstab als diesen. Er weiß nicht nur alles, sondern er weiß alles besser; alles, was anders ist, ist schlecht.
Heinrich Laube (1806–1884)
Berlin ist eine gute Stadt – vortreffliche Musik, billiges Leben, sehr anständiges Theater, in den Konditoreien viele Zeitungen, und ich lese sie alle der Reihe nach – mit einem Worte, alles gut, sehr gut. – Die Deutschen sind schreckliche Philister. Wäre der zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewußtseins ins Leben übergegangen, so wären sie herrliche Leute, bis jetzt sind sie, ach! Ein höchst lächerliches Volk! Auf einer [Inschrift] ist der preußische Adler gemalt und unter ihm ein bügelnder Schneider; unter dem Schneider steht: Unter deinen Flügeln kann ich ruhig bügeln.
Michail Bakunin (1814–1876)
Berlin ist ein botanischer Garten, alle Geistesarten Deutschlands werden hier angebaut, freilich nicht immer naturwüchsig, ungekünstelt, sondern in Töpfen, mit Heizung. Alles und jedes wird hier präparirt, auf Flaschen gezogen, in Spiritus aufbewahrt.
Gustav Kühne (1806–1888)
Mit der Terrainspekulation fing’s an. Fraglos, so kalkulierte man, würde sich die ganze Provinz jetzt nach der Reichshauptstadt drängen und dieser vermeintliche Riesenzuwachs erfordere Tausende neue Häuser mit zehn-, mit zwanzigtausend Wohnungen. Die Bauwut, diese irrsinnige Bauwut kam über Berlin. (…) Es wurde drauflos „gegründet“, was das Zeug halten wollte. Banken mit Protzenbauten, Hypotheken- und Produktenbanken, Eisenbahnen und Tapeten, Spinnereien und Leder, Petroleum und Wellblech, Dampfziegeleien und Schiffswerften, Baugesellschaften, Bauvereine und Immobilien: alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde „gegründet“. Und alle, alle flogen sie ans Licht, und alle tanzten mit in dieser Hetzgaloppade um das angebetete goldene Kalb: der gewitzte Kapitalist und der unerfahrene Kleinbürger, der General und der Kellner, die Dame von Welt, die arme Klavierlehrerin und die Marktfrau, man spekulierte in den Portierlogen und in den Theatergarderoben, in dem Atelier des Künstlers und im stillen Heim des Gelehrten …
Felix Philippi (1851–1921)
Am Wannsee erlebte ich eine große Überraschung. (…) Was für ein Schauspiel! (…) Splitternackte Kinder, Männer, halbwüchsige Burschen, die größeren nur in der Badehose oder mit vorgebundenem Taschentuch, Frauen im Mieder oder Korsettschoner und Beinkleinern – das alles trieb sich da herum, tauchte ins Wasser und kam triefend wieder heraus. Ein Mensch in Badehosen, den runden Hut auf dem Kopf, rauchte beim Baden seine Pfeife, ein anderer hatte Vorhemd und Weste anbehalten! (…) Von den mindestens zwei- bis dreitausend Menschen, die sich hier zusammenfinden, denkt kaum einer daran, den andern beim Auskleiden zu beobachten. Kein verdächtiger Blick, kein zweideutiges Lachen, nicht einem ein Lächeln! Das nenne ich wahre Scham! Die Anständigkeit liegt hier sozusagen schon im Blick! Ich war einfach sprachlos! … hier stand ich mitten unter Hunderten von halbnackten Berlinerinnen … An solch herrlichen Sommertagen rufen die Kiefern mit ihren schlanken rotschimmernden Stämmen, die sich bis dicht an den See hinunterziehen, Erinnerungen an griechische Gestade wach, an eine Insel der Seligen, wo die Töchter der Hellenen beim Bade sich vergnügen. Aber es wäre grausam, das Bild weiter auszumalen … die Anatomie dieser Arbeitsmenschen beiderlei Geschlechts würde einem Vergleich mit den schönen griechischen Sklaven und den lieblichen Schwimmerinnen von Hellas nicht standhalten …
Jules Huret (1863–1915)
Die Herren Berliner spekulieren mit mir wie mit einer prämierten Legehenne. Aber ich weiß nicht, ob ich noch Eier legen kann.
Albert Einstein (1879–1955)
Diese Stadt scheint mir keine Seele zu haben. Vielleicht weil ich ihre Gestalt nur von außen kenne.
Halide Edip Adivar (1884–1964)
Berlin ist das Hirn, in dem die Emotionen und Intuitionen, die Sehnsüchte und Ressentiments des deutschen Volkes mit wissenschaftlicher Exaktheit und journalistischem Schmiß formuliert werden. Die Metropole kreiert nicht: sie repräsentiert. Wenn das Berlin der Kaiserzeit die aggressive Dynamik des jungen deutschen Nationalismus säbelrasselnd zur Schau gestellt hatte, so spiegelte das Berlin der ersten Nachkriegsjahre mit demselben Eklat die apokalyptische Gemütsverfassung der besiegten Nation.
Klaus Mann (1906–1949)
Auf dem Weg nach Antwerpen durchquerte ich Hitler-Deutschland, wo ich ein paar Monate verweilte. Ich war zu Fuß von Breslau nach Berlin gekommen. Ich hätte gern gestohlen. Ein merkwürdiger Bann hielt mich ab. Deutschland flößte ganz Europa Schrecken ein, es war, vor allem in meinen Augen, zum Inbegriff der Grausamkeit geworden. Schon war es ausgestoßen. Selbst Unter den Linden hatte ich das Gefühl, durch ein von Banditen angelegtes Lager zu spazieren. Ich glaubte, das Hirn des gewissenhaftesten Berliner Bürgers verberge Pfunde von Heuchelei, Haß, Bosheit, Grausamkeit, Gier. Es wühlte mich auf, frei zu sein mitten in einem geächteten Volk. Sicher stahl ich auch dort wie anderswo, aber ich empfand dabei eine Art Verlegenheit – denn die innere Einstellung, die diese Handlungen beherrschte, war hier zur Bürgertugend erhoben – eine ganze Nation war damit vertraut und richtete sie gegen die anderen. „Dies ist ein Volk von Dieben“, fühlte ich. Wenn ich hier stehle, tue ich nichts Besonderes, wodurch ich mich auszeichnen könnte: ich gehorche nur der allgemeinen Ordnung. Ich zerstöre sie nicht. Ich störe nicht. Der Skandal ist unmöglich. Ich stehle ins Leere. Mir schien, daß sich die Götter, die über die Gesetze wachen, nicht empörten, nur erstaunt waren. Ich schämte mich. Vor allem aber wünschte ich, in ein Land zurückzukehren, wo die Gesetze der geläufigen Moral, auf die sich das Leben gründet, Gegenstand eines Kults sind. In Berlin wählte ich, um zu leben, die Prostitution. Sie befriedigte mich ein paar Tage, dann langweilte sie mich.
Jean Genet (1910–1986)
Früher Musterlager für Nordeuropa, jetzt Vorbild von Schutt, zerstörtem Karthago und den sich auflösenden Riesenmetropolen aus den Urwäldern von Saigon. Geologie der Völker, Geschichtsgewalten! Von hängenden Gärten und Löwentoren zu grauer Grenzstadt, durch die die östlichen und die westlichen Karawanen zogen. Staubstürme im Sommer, mannshohe Brennessel auf den Trottoirs und, wo einst die schnittigen Verkehrsmittel fuhren, mähten sie nachts heimlich Gras für das in den Stuben verborgen gehaltene Vieh. Eine Million menschenähnlicher Lebewesen noch in den Trümmern, doch alle ohne Beruf, hinter vernagelten Fenstern, Ratten in den Lauben. Ein Gemeinwesen! Jetzt im Winter schritt ich abends manchmal durch den Schnee aufmerksam in der Mitte der Straßen, vor Frost und Windstärken barsten die Ruinen. (…) Hier ist immer noch Winter u. alles hoffnungslos. Die Magistrate verkriechen sich hinter die Allierten, dese hinter die Elemente, diese hinter das Hochland von Tibet, diese hinter den Dalai Lama u.s.w. u. wir gehen vor die Hunde.
Gottfried Benn (1886–1956)
Die Betrachtung der Berliner Mauer, aus einem Gesichtswinkel, der allein die Proportion dieses Bauwerks berücksichtigt, dürfte doch wohl erlaubt sein. Entschärft sofort die Mauer. Durch inneres Lachen. Vernichtet die Mauer. Man bleibt nicht mehr an der physischen Mauer hängen. Es wird auf die geistige Mauer hingelenkt, und diese zu überwinden, darauf kommt es wohl an. (…) Spontan entstehende Frage: Welches Wesensglied in mir oder anderen Menschen hat dieses Ding entstehen lassen? Wieviel hat jeder von uns zum Möglichsein dieser Mauer beigetragen und trägt weiter bei. Ist jeder Mensch ausreichend am Verschwinden dieser Mauer interessiert? Welche antiegoistische, antimaterialistische, welche wirklichkeitsgemäße geistige Schulung bekommt der junge Mensch, diese jemals zu überwinden? Quintessenz: die Mauer als solche ist völlig unwichtig. Reden Sie nicht soviel von der Mauer! Begründen Sie durch Selbsterziehung eine bessere Moral im Menschengeschlecht, und alle Mauern verschwinden.
Joseph Beuys (1921–1986)
Ich habe in allen westlichen Hauptstädten Lieder geschrieben und jedes Mal erreichte ich den Punkt, an dem es zwischen mir und der Stadt keine Reibung mehr gab. Die Sache wurde nostalgisch, vage dekadent, und ich brach zur nächsten Stadt auf. Im Augenblick bin ich nicht imstande, in Los Angeles, New York oder in London oder Paris zu komponieren. Irgendetwas fehlt. Berlin hat die seltsame Fähigkeit, einen dazu zu bringen, nur die wichtigen Dinge zu schreiben – alles andere erwähnt man gar nicht, man bleibt still, schreibt gar nichts.
David Bowie (1947)
Integriert hat sich in Berlin keiner. Berlin ist und war nie Schmelztiegel für irgendetwas. Wer in Berlin lebt, lernt einfach, daß es den anderen gibt. (…) Zurückgekehrt zur Erde ist man erneut überrascht, daß in Berlin immer noch jeder ein Experte für alles sein will. Aber in Berlin sind andererseits auch Aussagen so bedeutungslos wie nirgends sonst. Die Berliner Universitäten ersticken in ihrer selbstverschuldeten Administration und bringen dennoch moderne akademische Modelle hervor, in Berlin herrscht lähmende Subventionsmentalität und dennoch zieht es jene an, die innovativ sind. Berlin leistet verbalen Widerstand gegen seine Mauer und kritisiert gleichzeitig jene, die etwas dagegen taten oder tun, es läßt seine Kneipen die Nächte hindurch offen und beschwert sich über deren Lärm. Es schimpft über den Krach der Flugzeuge und kritisiert dennoch, daß Tempelhof an Tegel abgab. Auf den Berliner Seen dümpeln Yachten, die für Ozeane taugen, seine Eissegler fegen über die zugefrorene Havel, als wäre hier Masuren, und die Husky-Clubs verwechseln den Standort der Stadt mit der anderen Seite des Polarkreises. Die Berliner Schickeria ist elitär, obwohl es sie gar nicht gibt.
Reinhard Furrer (1940–1995)
Paris is always Paris and Berlin is never Berlin!
Jack Lang (1939)
Berlin ist eine Insel ohne Möwe.
Gültekin Emre (1951)