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Cover Lettre International 48, Philip Rantzer
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LI 48, Frühjahr 2000

Panta rhei

Bernd Leukert Elliott, Du bist Produzent der New York Underground Music, und hast selbst mehrere Gruppen gegründet, hast mit John French von Captain Beefheart, Fred Frith von Henry Cow, Richard Thompson von Fairport Convention  zusammenarbeitet, aber auch mit dem marokkanischen Guimbri-Spieler Bachir Attar oder mit der Cellovirtuosin Frances Marie Uitti, Du bist Komponist von experimenteller Rock-, Orchester- und Kammermusik, vor allem aber Gitarrist und Bassklarinettist, der live auf Tourneen rund um die Welt, besonders aber in den unterschiedlichen Szenen New Yorks improvisiert: Kannst du in diesem breitgefächerten Tätigkeitsfeld ausmachen, wie die Veränderungen um Dich herum mittelbar oder unmittelbar Deine Klangästhetik beeinflussen?

Elliott Sharp Ich trage immer einen idealisierten Klang in meinem Innern, den ich hören möchte. Für mich war es mehr eine Frage von Ortswechseln, bis ich mich mit dem Klang soweit ineins fühlte, daß ich ihn realisieren konnte. Der Klang selbst änderte sich in den unterschiedlichen Umgebungen. In Buffalo war die Atmosphäre urban, aber wenn man nicht innerhalb bestimmter Parameter operierte, nicht sehr überzeugend. Ein Jahr, bevor ich nach N.Y. zog, lebte ich auf dem Land in Massachusetts und sagte mir: "Das ist eine sehr schöne Umgebung, aber die Leute verstehen meine Arbeit überhaupt nicht." In New York City, wußte ich: "Hier kann ich mich zu Hause fühlen."

Ein Komponist wie John Adams würde seine Ästhetik an keinem Ort ändern.

Wenn ich formal komponierte Musik, wie ich es nennen würde, schreibe, die in einer festgelegten Form von "klassischen" Musikern gespielt wird, wäre das Musik, die über einen längeren Zeitraum komponiert und eine stärkere Kontinuität verfolgen würde. Wohingegen eine Improvisation großen Veränderungen unterliegt, je nachdem, wo ich mich gerade befinde. Ich bin froh, daß ich diese verschiedenen Ventile dafür habe. Bei gewissen Dingen hat man das Gefühl, daß sie erst eingekocht werden müssen – zur Essenz der eigenen musikalischen Wünsche. In der Sache hat man keine Wahl, wenn man an eine idealisierte Musik denkt. Wenn man Musik schreibt, versucht man, in diesen Mikrokosmos hinein eine utopische Existenz zu kreieren. Man macht es auf seine bestmögliche Weise. Aber andere Elemente der Musik können den Status in der Musik reflektieren, der sich beständig ändert.

Vor 13 Jahren hast Du erzählt, in New York stürben Live-Aufführungen aus. Und das verändere vollständig die Art und Weise, wie Musik gemacht wird. Immer mehr Leute arbeiteten zuhause in kleinen Studios, produzierten Tonbänder und treten nicht mehr öffentlich auf. Es käme zu dem Punkt, wo es unmöglich wird, Musik ‘live’ aufzuführen, denn die neue Arbeitsweise beinhaltete viel technologische Klangmanipulation und Manipulation im Studio. Die Immobilienmakler hätten auf dem Wohnungsmarkt alles aufgekauft, und man könne dort nur leben, wenn man reich ist – außer, man wohnt schon länger dort und hat eine billige Unterkunft gefunden. Statt der Idee nachzugeben, in New York zu leben, blieben die Musiker in ihren Heimatorten. Sie lebten in Wichita, Kansas oder Denver, Colorado, in diesen kleinen Städten, und produzierten Bänder. Ist das immer noch so?

Ich glaube, es gibt einen gleichbleibende Anzahl von Leuten, die nach New York kommen oder es verlassen. Ich glaube, daß viele, die fortgingen, nicht zurückkehren, aber es gibt ständig neue Gesichter, von denen einige bleiben. Auf eine Weise sind diese Leute, die wegziehen, sehr konservativ, denn sie können sich nicht verändern, wenn sie sich einmal irgendwo angesiedelt haben; und dennoch findet der eine oder andere neue Wege, das zu tun, was er tun möchte. Ich glaube, die Vorstellung von einem Heim-Studio hat sich verändert, und damit auch die Art, wie Leute in der ganzen Welt Musik machen. Das führt zurück zu der Frage nach den Ressourcen und wie das, was du machst, davon in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Leute kommen heute mit einem Laptop-Computer aus, wogegen man früher enorme Studiokapazitäten brauchte. In gewisser Weise ist die Lage heute sehr hermetisch, man findet mehr und mehr Leute, die einfach zu H! ause arbeiten an ihrem Computer, vielleicht auch mit akustischen Instrumenten. Während man sich früher untereinander getroffen hat und Bands zusammengestellt hat, arbeitet man heute zu Hause in seinem Studio.

Wo leben diese Musiker?

Ich glaube, es gibt eine gewisse Vorstadt-Ästhetik. Einige der Vorstadt-Musiker, die ich höre, versuchen sogar, extremer zu sein als irgendeiner der Stadt- Musiker, die ich kenne, denn sie sind umstellt von einer nichtssagenden Existenz. Sie sehen sich in einem viel stärkeren Maße genötigt, sich gegen diese Existenz aufzulehnen und zu wehren.

Von diesen Dingen einmal abgesehen, was spielt für Dich eine wichtige Rolle?

Etwas ganz Wichtiges war für mich immer der Rhythmus. Hört man sich Tanzmusik aus verschiedenen Städten an, findet man verschiedene Stile: Chicago House-Music, Detroit Techno, Washington D.C. Go-Go und New York Funk und London Drum and Bass, all das. Verlagern sich diese Dinge in andere Orte und Gegenden, verändert sich das etwas. Wenn Leute Drum and Bass in New York machen, hat das einen etwas anderen Klang, als wenn es in London gemacht wird. Das ist ein Sache der Wahrnehmung. Man hört den Rhythmus und sagt sich, diese Typen sind offensichtlich von daher oder von woher auch immer, während früher die geographische Lage ein sehr genaues Indiz dafür war, was jemand machte, und das ist immer noch bis zu einem gewissen Grade zu spüren. Da Informationen heute sehr schnell weitergetragen werden, können die Leute Musik aus jedem beliebigen Ort der Welt hören. Mit MP3 Files kann man aus dem Internet fast alles herunterladen.

Nicht so sehr der geographische Aspekt ist wichtig, sondern vielmehr die Wahl der Ästhetik. Oder, der Ort, an dem, man sich befindet, wird definiert vom Pool der Leute, mit denen man in Verbindung steht. Das ist vergleichbar mit einer multinationalen Firma, die Grenzen überschreitet; man kann nicht mehr sagen, das ist eine amerikanische oder deutsche Firma. Man kann aber schlußfolgern: Das ist die Musik aus diesem Bereich, und Punkte auf einer Landkarte festlegen, an denen die Leute tätig sind und eine gewisse Verbindung miteinander fühlen. Das geht über einen bestimmten Ort hinaus. Darüber hinaus spielt der Aspekt eine Rolle, ob die Ästhetik aus dem Innern der Person kommt oder ob es sich um eine kollektive Ästhetik handelt, die von mehreren Individuen gemeinsam kreiert wurde und von ihnen gemeinsam praktiziert wird. Manche Komponisten sind in ihrer Herangehensweise so hermetisch und so solipsistisch, daß ihre Ästhetik total persönlich wirkt. Bei manchen aber hat man das Gefühl, daß sie ihre Ästhetik gemeinsam mit anderen entwickeln. Dort gibt es keinen Bedarf nach persönlicher Musik, sondern man möchte Teil eines größeren Pools von Musikern sein. Wenn ich die Ambient-Musik anschaue oder vieles aus der New Yorker Drum and Bass Szene, dann ist das für mich sehr anonym, aber die Spieler teilen eine Sprache und eine Klangwelt.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.