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Cover Lettre International 55, Roberto Cabot
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Inhaltsverzeichnis

LI 55, Winter 2001

Die Revolte des Islam

Wann begann der Konflikt mir dem Westen, wie könnte er enden?

(...) Im Verlauf der menschlichen Geschichte sind viele Zivilisationen aufgestiegen und versunken - China, Indien, Griechenland, Rom, und davor die antiken Zivilisationen des Nahen Ostens. Während der Jahrhunderte, die in der europäischen Geschichte als Mittelalter bezeichnet werden, war die fortgeschrittenste Zivilisation der Welt zweifellos der Islam. Dem Islam mochten Indien und China gleichkommen – oder ihn sogar auf gewisse Weise übertreffen –, aber beide Zivilisationen blieben im wesentlichen auf eine Region und eine ethnische Gruppe beschränkt, und ihr Einfluß auf den Rest der Welt war entsprechend gering. Die Zivilisation des Islam andererseits war in ihrer Perspektive und explizit in ihren Bestrebungen ökumenisch. Eine der grundlegenden Aufgaben, die den Moslems vom Propheten auferlegt worden waren, war der Dschihad. Dieses Wort, das im Wortsinn "streben" bedeutet, wurde gewöhnlich in dem Koran-Ausdruck "streben auf dem Pfade Gottes" verwendet und als bewaffneter Kampf für die Verteidigung oder Förderung der moslemischen Macht interpretiert. Im Prinzip war die Welt in zwei Häuser geteilt: das Haus des Islam, in dem eine moslemische Regierung herrschte und moslemisches Recht galt, und das Haus des Krieges, den Rest der Welt, der noch von Ungläubigen bewohnt und vor allem beherrscht wurde. Zwischen beiden sollte ein ständiger Kriegszustand herrschen, bis die gesamte Welt entweder islamisch geworden oder der Herrschaft des islamischen Staates unterworfen war.

Schon früh erkannten die Moslems gewisse Unterschiede zwischen den Völkern des Hauses des Krieges. Die meisten waren einfach Polytheisten und Götzendiener, die den Islam nicht ernsthaft bedrohten und als geeignete Kandidaten für die Bekehrung galten. Die wichtige Ausnahme bildeten die Christen, denen die Moslems eine Religion der gleichen Art wie die ihre zugestanden; daher galten sie als der wichtigste Rivale im Kampf um die Weltherrschaft oder, wie sie selbst es ausgedrückt hätten, um die Aufklärung der Welt. Es ist sicherlich bedeutsam, daß der Koran und andere Inschriften im Felsendom, einem der frühesten moslemischen religiösen Bauwerke außerhalb Arabiens, der zwischen 691 und 692 in Jerusalem errichtet wurde, einige direkt anti-christliche Polemiken enthalten: "Gelobt sei Gott, der keinen Sohn hat und keinen seinesgleichen", und "Er ist Gott, einzig, ewig. Er zeugt nicht noch ist er gezeugt, und er hat keinen seinesgleichen." Den frühen Moslems galt als Führer der Christenheit, als das christliche Gegenstück zum moslemischen Kalifen, der byzantinische Kaiser in Konstantinopel. Später nahm seinen Platz der Heilige Römische Kaiser in Wien ein, und an dessen Stelle traten dann die neuen Herrscher des Westens. Ein jeder von ihnen war zu seiner Zeit der Hauptgegner des Dschihad.

In der Praxis war die Anwendung des Dschihad natürlich nicht immer rigoros oder gewalttätig. Der kanonisch obligatorische Kriegszustand konnte unterbrochen werden durch "Waffenstillstände", die rechtlich definiert waren und sich kaum von den sogenannten Friedensverträgen unterschieden, die die kriegführenden Mächte Europas miteinander abschlossen. Auf solche Waffenstillstände einigte sich der Prophet mit seinen heidnischen Feinden, und sie wurden zur Grundlage dessen, was man als islamisches Völkerrecht bezeichnen könnte. In den Ländern unter moslemischer Herrschaft forderte das islamische Recht, daß Juden und Christen ihre Religion ausüben und ihre eigenen Angelegenheiten regeln durften; sie waren lediglich bestimmten Einschränkungen unterworfen, vor allem mußten sie eine Kopfsteuer zahlen. In modernem Sprachgebrauch würden wir Juden und Christen im klassischen islamischen Staat als Bürger zweiter Klasse bezeichnen – aber dieser Status, der in Gesetz und Koran seine Grundlage hatte und von der öffentlichen Meinung anerkannt wurde, war weit besser als der totale Mangel an Bürgerrechten, der im Westen den Nicht-Christen und sogar einigen christlichen Abweichlern beschieden war. Der Dschihad hinderte moslemische Regierungen auch nicht daran, sich gelegentlich gegen moslemische Rivalen mit Christen zu verbünden – sogar während der Kreuzzüge, als Christen in der syro-palästinensischen Region vier Fürstentümer gegründet hatten. Saladin zum Beispiel, der große moslemische Führer des 12. Jahrhunderts, schloß zum gegenseitigen Nutzen einen Waffenstillstand mit dem christlichen König von Jerusalem ab.

Unter dem mittelalterlichen Kalifat und dann wieder unter den persischen und türkischen Dynastien war das Reich des Islam die reichste, mächtigste, schöpferischste und aufgeklärteste Region der Welt, und während des größten Teils des Mittelalters befand sich das Christentum in der Defensive. Im 15. Jahrhundert weitete sich der christliche Gegenangriff aus. Die Tataren wurden aus Rußland vertrieben und die Mauren aus Spanien. In Südost-Europa jedoch, wo der ottomanische Sultan zunächst dem byzantinischen und dann dem Heiligen Römischen Kaiser gegenüberstand, bewahrte die moslemische Macht ihren Vorrang, und die Rückschläge galten als unbedeutend und peripher. Noch im 17. Jahrhundert herrschten türkische Paschas in Budapest und Belgrad, türkische Armeen belagerten Wien und Korsaren der Barbaresken plünderten weit entfernte Länder wie die englischen Inseln und einmal, 1627, sogar Island.

Dann kam die große Wende. Die zweite türkische Belagerung von Wien, 1683, endete mit einer totalen Niederlage, der eine überstürzte Flucht folgte – eine völlig neue Erfahrung für die ottomanischen Armeen. Ein zeitgenössischer türkischer Historiker, Silihdar Mehmet Aga, beschrieb die Katastrophe mit löblicher Offenheit: "Es war eine verhängnisvolle Niederlage, wie es sie seit Beginn des ottomanischen Reiches nicht gegeben hat." Diese Niederlage der damals stärksten Militärmacht der moslemischen Welt löste eine Debatte aus, die in gewisser Hinsicht seither nicht mehr geendet hat. Die Auseinandersetzung begann unter der ottomanischen militärischen und politischen Elite als Diskussion zweier Fragen: Warum waren die früher stets siegreichen ottomanischen Armeen von den verachteten christlichen Feinden besiegt worden? Und wie ließ sich die vorherige Situation wiederherstellen?

Zur Sorge gab es guten Grund. Eine Niederlage folgte der anderen, und nachdem die europäischen Streitkräfte der Christen ihre eigenen Länder befreit hatten, verfolgten sie die früheren Invasoren bis in die Länder, aus denen sie gekommen waren, die Russen auf dem Weg nach Nord- und Mittelasien, die Portugiesen nach Afrika und um Afrika herum nach Süd- und Südostasien. Selbst kleine europäische Mächte wie Holland und Portugal konnten im Osten riesige Reiche errichten und im Handel eine beherrschende Rolle übernehmen.

Für die meisten Historiker, ob aus dem Nahen Osten oder aus dem Westen, beginnt die moderne Geschichte des Nahen Ostens gewöhnlich im Jahr 1798, als die Französische Revolution in Gestalt von Napoleon Bonaparte in Ägypten landete. Innerhalb bemerkenswert kurzer Zeit konnten General Bonaparte und seine kleine Expeditionsarmee das Land erobern, besetzen und beherrschen. Schon früher hatte es Angriffe, Rückzüge und Gebietsverluste an den entlegenen Grenzen gegeben, wo die Türken und die Perser Österreich und Rußland gegenüberstanden. Daß jedoch eine kleine westliche Streitmacht in eines der islamischen Kernlande einfiel, war ein schwerer Schock. Noch eindrucksvoller war vielleicht der Rückzug der Franzosen. Nicht durch die Ägypter und nicht durch deren Oberherren, die Türken, wurden die Franzosen gezwungen, Ägypten zu verlassen, sondern durch ein kleines Geschwader der britischen Marine unter dem Kommando eines jungen Admirals namens Horatio Nelson. Dies war die zweite bittere Lehre für die Moslems: eine westliche Macht konnte nicht nur nach Belieben kommen, einfallen und herrschen, sondern war auch nur durch eine andere westliche Macht vertrieben worden.

Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich fast die gesamte moslemische Welt im Einflußbereich der vier europäischen Reiche Großbritannien, Frankreich, Rußland und Niederlande – auch wenn die Türkei, der Iran und einige entlegenere Länder wie Afghanistan, das zur damaligen Zeit die Mühen einer Invasion noch nicht lohnte, eine unsichere Unabhängigkeit aufrechterhielten. Nahöstliche Regierungen und Gruppen mußten lernen, wie diese mächtigen Rivalen gegeneinander ausgespielt werden konnten. Eine Zeitlang hatten sie dabei einen gewissen Erfolg. Da die westlichen Verbündeten – Großbritannien und Frankreich und dann die Vereinigten Staaten – in der Region effektiv dominierten, suchten die Widerständler des Nahen Ostens Unterstützung natürlich bei den Feinden dieser Verbündeten. Im Zweiten Weltkreig wandten sie sich Deutschland zu, im Kalten Krieg der Sowjetunion.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieben die Vereinigten Staaten als einzige Supermacht der Welt übrig. Jene Ära der Geschichte des Nahen Ostens, die durch Napoleon und Nelson begründet worden war, wurde durch Gorbatschow und den George Bush senior beendet. Zunächst schien es, als sei die Ara imperialistischer Rivalität durch den Rückzug beider Konkurrenten beendet: die Sowjetunion konnte die imperiale Rolle nicht mehr spielen, und die Vereinigten Staaten wollten es nicht. Aber die meisten Menschen im Nahen Osten sahen das nicht so. Für sie war es einfach eine neue Phase im alten imperialen Spiel, mit Amerika als neuestem in einer Reihe westlicher imperialer Oberherren. Nur hatte dieser Oberherr keinen Rivalen mehr – keinen Hitler, keinen Stalin –, den man einsetzen konnte, um den Westen zu schädigen oder zu beeinflussen. Mangels eines solchen Gönners sahen sich die Menschen im Nahen Osten gezwungen, ihre eigenen Widerstandskräfte zu mobilisieren. Al Quaida – ihre Führer, ihre Gönner, ihre Geldgeber – gehört zu diesen Kräften.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.