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Inhaltsverzeichnis

LI 138, Herbst 2022

Kleinasiatische Katastrophe

1922 - Der Erste Weltkrieg, Europas Reorganisation und die Griechen

Während im übrigen Europa der Erste Weltkrieg vier Jahre dauerte, 1914–1918, begann er in Süd-Ost-Europa und den Gebieten des Osmanischen Reiches 1912 mit den Balkankriegen und endete 1922 mit der Kleinasiatischen Katastrophe. Er dauerte also zehn ganze Jahre. In diesem Zeitraum haben sich zwölf nationale Armeen (die griechische, osmanische und türkische, bulgarische, serbische, montenegrinische, österreichische, deutsche, russische, rumänische, britisch-koloniale, französisch-koloniale, italienische)  und Hunderttausende Männer gegenseitig umgebracht, wurden Dörfer verbrannt, töteten, vergewaltigten und plünderten militärische und paramilitärische Formationen, erzwangen Verwaltungsakte große Bevölkerungsumschichtungen, oft auf langen Todesmärschen sowie durch Massenmord. Gefangene wurden umgebracht, selbst wenn sie verwundet waren. Wer die unmittelbare Hinrichtung überlebte, wurde zusammen mit unbewaffneten, als Geiseln genommenen Bürgern in die Verbannung geschickt, oft in Lager, in denen sie an mangelnder Ernährung, schlechten Lebensbedingungen und Krankheiten starben.
     In der ersten Phase (1912–1913) war der Balkan das Terrain der kriegerischen Zusammenstöße, weshalb sie auch Balkankriege genannt wurden. Der Krieg im Jahr 1912 ging für die Balkannationen siegreich aus, und das Staatsgebiet des Sultans wurde hinter den Fluß Evros zurückgedrängt, fast 30 km vor Istanbul. Die Geschwindigkeit und das enorme Ausmaß des Zusammenbruchs der osmanischen Armee war unerwartet und spektakulär. Das Osmanische Reich verlor 90 Prozent seines Territoriums und 70 Prozent seiner Bevölkerung in Europa. Die Balkanstaaten waren siegreich und erwarben neue Gebiete. Serbien und Bulgarien bekamen gemeinsame Grenzen zu Griechenland, ein neuer Staat namens Albanien erschien auf der Landkarte, Griechenland erwarb das südliche Makedonien mit der Hauptstadt Thessaloniki, Epirus mit der Hauptstadt Ioannina und die Inseln der östlichen Ägäis, einschließlich Kretas (bis auf den Dodekanes, der 1911 von Italien besetzt worden war). Der Krieg wurde 1913 zwischen den Balkanländern zur Sicherung ihrer Erwerbungen fortgeführt.
     In der zweiten Phase (1914–1918) trat das Osmanische Reich auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg ein, einerseits um die Verluste aus den Balkankriegen zurückzuerlangen, andererseits, um seine arabischen Gebiete vor dem kolonialen Heißhunger Großbritanniens und Frankreichs zu schützen, zwei Kolonialmächten par excellence. Auch Bulgarien wandte sich den Mittelmächten zu, weil es meinte, mit Verlusten aus den Balkankriegen hervorgegangen zu sein. Nach dem Zusammenbruch Serbiens schufen die Mittelmächte eine feste Front, die sich von Zentraleuropa bis nach Mesopotamien zog und die Verbindungslinien zwischen Rußland und der Entente durchtrennte. Die blutigsten Schlachten (Thessaloniki-Front, Gallipoli, Kaukasus) zielten folglich darauf, diese Front zu durchbrechen.
     In der dritten Phase 1919–1922 schließlich waren Kleinasien, Mesopotamien und der Mittlere Osten das Terrain der militärischen Zusammenstöße. Diese Kriegszone war jedoch mit einer weiteren verbunden, die sich von Karelien bis zum Kaukasus erstreckte. Es ging um den russischen Bürgerkrieg mit seinen nationalen Verwicklungen. Die eine Kriegszone beeinflußte die andere.

(…)

Drei Phasen des Feldzugs

Der Kleinasiatische Feldzug 1919 bis 1922 zerfällt in drei Phasen. Die erste Phase ist die Landung der griechischen Armee und die Ausweitung der griechischen Verwaltung. Trotz der Politik von Venizelos und des Hochkommissars Aristidis Stergiadis, die Muslime gleich zu behandeln und einzubeziehen, waren gleich nach der Landung zwei Tage der Gewalt und Plünderung in Smyrna und Kämpfe und Repressalien gegenüber den Aufständischen (Çete) zu verzeichnen. Die Griechen erobern Aydin und zerstören das türkische Viertel. Die Türken erobern die Stadt zurück und zerstören als Repressalie die griechische Siedlung. Die Griechen kommen zurück und finden die Stadt in Trümmern vor. Die Rückkehr der christlichen Flüchtlinge von den griechischen Inseln führte zu großen Spannungen mit den Muslimen, weil ihre Häuser, Äcker und Läden entweder von Muhacir in Besitz genommen oder von den osmanischen Behörden verkauft worden waren. In dieser ersten Phase war die Option der griechischen Verwaltung sicher, den Guerillakrieg zu unterdrücken und nicht, eine ethnische Säuberung durchzuführen. Bezeichnend war jedoch das koloniale Auftreten gegenüber den Muslimen. Bis zur Landung in Kleinasien war Griechenland ein Land, das von fremden Heeren durchzogen und mit Kolonialrecht verwaltet worden war, nun begann es die Ideologie der Kolonialmächte über ihre mission civilisatrice zu übernehmen, bis hin zu Theorien über die biologische Überlegenheit der Griechen gegenüber den 
Türken.
     Die zweite Phase des Kleinasien-Feldzugs ist der Vormarsch in Richtung Ankara, nachdem die Anti-Venizelos-Kräfte die Zügel der Armee übernommen hatten und die Zerstörung türkischer Dörfer und Ernten systematischer wurde. Ein griechischer Soldat beschreibt in schlichten Worten seine Erfahrung der Zerstörungen: „Wir kommen in ein türkisches Dorf, und es brannte, und man sah, wie die Türken in ihren Häusern gebraten wurden, und andere waren erschlagen, durchlöchert von Bajonetten, und man hat sie angezündet, und sie verbrannten. Dieses Feuer hatte das 18. Infanterieregiment gelegt, das uns voranging. Als wir es schließlich erblickten, erfaßte uns Angst und Schrecken.“ Im weiteren Verlauf nimmt er selbst an der Plünderung anderer Dörfer teil, und die Angst vergeht ihm natürlich. Es tut ihm nur leid, daß er gezwungen ist, dieses verschwenderische Leben aufzugeben, das er in seinem Dorf nie kennengelernt hatte. Das Verschieben der Front ins Innere Anatoliens im Sommer 1921 hatte nicht das Ergebnis, die Kraft des Gegners zu brechen, der ein Jahr später, im August 1922, die griechischen Verteidigungslinien durchbrach und die griechische Armee in die Flucht schlug.
     Die dritte Phase ist die des Rückzugs nach der Niederlage; aufgelöst und in Panik verbrennt und zerstört die Armee auf dem Rückzug, was beim Vormarsch davongekommen war. Venizelos selbst bemerkte: „Unsere Leute hatten auf dem Rückzug keinen Stein auf dem anderen gelassen … jener schreckliche Rückzug, bei dem alles zerstört wurde.“ Im Vertrag von Lausanne (Artikel 59) hat die griechische Regierung anerkannt, daß sie der Türkei Entschädigungen für die Zerstörungen durch die griechische Armee zu zahlen hat.
     Auch die christliche Bevölkerung floh in Panik Richtung Meer. Wer es nicht rechtzeitig schaffte, war der Gnade von regulären und irregulären türkischen Truppen ausgesetzt. Die griechischen politischen und militärischen Behörden erwiesen sich als unfähig, den Rückzug und die Räumung zu organisieren. Die kemalistischen Truppen nahmen die erwachsenen Männer massenhaft zu Geiseln und zwangen sie in Arbeitsbataillone. Lehrer, Geistliche und Gemeindevorsteher, die man als verantwortlich ansah für den Aufstand der Christen, wurden erschossen oder erhängt. Die Repressalien richteten sich gegen die Griechen auch in Gegenden, die nicht vom Krieg betroffen waren. Vor allem nach dem Debakel der Armee begann der allgemeine Exodus der Christen aus Kleinasien.

(…)

Die Szenen der Brandschatzung Smyrnas, die von Schiffen im Hafen aus gefilmt wurden, sowie die Zeugnisse der Flüchtlinge wurden zum Sinnbild der Kleinasiatischen Katastrophe. Dieser Begriff wurde zunächst für die Niederlage der griechischen Armee benutzt nach dem Vorbild der Sizilianischen Katastrophe, die Thukydides auf unnachahmliche Weise beschreibt: „Denn diese hatten in jeder Hinsicht eine vollständige Niederlage und die schwersten Verluste erlitten und sozusagen den letzten Mann, ihr Heer und ihre Flotte verloren. Auch kamen von so vielen nur wenige wieder nach Hause.“
     Wenn der Begriff des Traumas einhergeht mit dem Verlust des Gewissens, dann war dies beim Staat offenkundig. In den Tagen vor der Katastrophe hatte Athen ein Gesetz erlassen, das den griechischen Schiffen den Transport von Flüchtlingen in griechische Häfen untersagte! Den Kapitänen, den Reedern, den Reisebüros, selbst den Matrosen wurde Gefängnisstrafe angedroht.20 Im Laufe der Jahre wurde man sich bewußt, daß es sich um den größten Zustrom von Flüchtlingen nach Griechenland handelte, mit zerstörerischen Auswirkungen auf seine Geschichte. Der Ausdruck „Kleinasiatische Katastrophe“ wurde zu einem Begriff, der sich zunächst auf die Kleinasiaten selbst bezog, sich aber vierzig Jahre später in ein kulturelles Trauma verwandelte, das alle Griechen betraf.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.