LI 97, Sommer 2012
Bambusbläser
Wie Lao Wei lernte, Flöte zu spielen und im Gefängnis innere Freiheit fandElementardaten
Genre: Erinnerung, Poetischer Essay
Übersetzung: Aus dem Chinesischen von Karin Betz
Textauszug: 7.073 von 40.379 Zeichen
Textauszug
Mit seinen 84 Jahren war ein Mönch namens Sima der älteste Häftling des Gefängnisses in Tumen. Seit mehr als zehn Jahren war er nun schon im Gefängniskrankenhaus untergebracht. Wenn er nicht den Boden fegte, spielte er auf seiner Flöte – tagaus, tagein, als wollte er die ganze Trostlosigkeit seines Daseins in das Bambusrohr spucken. So richtig wollte das nicht zu einem Buddhisten passen, für den die Sorgen der materiellen Welt nicht existieren. Die anderen Häftlinge machten sich daher über ihn lustig: „Ist wohl ein Analphabet, dieser Mönch, der auf der Flöte spielt, statt seine Sutren zu lesen.“
Seine Herkunft war ein Rätsel. Lao Wei hatte gehört, Sima sei einmal Vorsteher eines Klosters an einem abgeschiedenen Ort im Daba-Gebirge gewesen und wegen konterrevolutionären Sektierertums zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Er gehörte der Sekte der Huidaomen aus dem chinesischen Grenzgebiet an, einem Geheimbund, der auf die späte Ming- und frühe Qing-Zeit zurückgeht. Die Sekte wurde bezichtigt, unter dem Deckmantel feudalistischen Aberglaubens die Regierung zu diffamieren und zum Umsturz aufzuwiegeln. Als diese Machenschaften aufflogen, habe sich, so hieß es, selbst die Polizei gewundert, warum ein Mönch sich auf eine derartige Unternehmung eingelassen hatte. Tag und Nacht nahm man ihn ins Kreuzverhör, aber auch nach einem Monat fortgesetzter Zermürbungstaktik bekam man immer nur drei Sätze aus dem Angeklagten heraus: „Ich bin schuldig. Auch ihr seid schuldig. Wir alle sind Verbrecher.“
Die Geschichte hatte Lao Wei tief beeindruckt. Sie erinnerte ihn an sein eigenes irrationales Gestammel während der ersten Verhöre und wie ihm dabei der Angstschweiß aus allen Poren gelaufen war. Erst vor kurzem hatte man Lao Wei von einem Untersuchungsgefängnis in einer großen Metropole nach Tumen verlegt. Ihre schicksalhafte Verbundenheit machte ihn zu einem Jünger des alten Mönchs.
(…)
Lao Wei machte sich auf den Rückweg; wie in einem Tagtraum stand ihm dabei die Flöte des Meisters vor Augen, ein schwarz glänzendes, vibrierendes Bambusrohr. Er fertigte eine Zeichnung davon an und schickte sie den Seinen nach Hause. Seine Familie bemühte sich eifrig, passende Flöten aufzutreiben, und besorgte schließlich gleich fünf verschiedene, die sie ihm zur Auswahl ins Gefängnis schickte.
„Die taugen alle nichts“, lautete das strenge Urteil des alten Mönchs. Also brachten sie ihm fünf weitere. Die Flöte, die der Meister schließlich widerwillig akzeptierte, schrubbte er sieben Tage lang mit Wasser ab, um die Schnitzereien und den Lack von der Oberfläche zu entfernen. Dann vergrub er sie zum Trocknen unter dem Schnee. Am ersten klaren Tag nach den Schneefällen des Winters begab sich Lao Wei offiziell bei seinem Meister in die Lehre. Der Mönch kam und stellte sich mit gewissem Abstand unter Lao Weis Zellenfenster. Lao Wei sprach schnell mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen hinter den Fenstergittern ein Gebet. Als er die Augen öffnete, gab ihm sein Lehrer mit der Flöte einen Ton vor. „Tief Luft holen“, wies er Lao Wei an.
Lao Wei unterbrach für den Rest des Tages sein Schreiben und widmete sich ausschließlich dem Üben der Atemtechnik. Für das Flötenspiel mußte man unbedingt tief aus dem Unterbauch Luft holen, dann kontrolliert und gleichmäßig ein- und ausatmen, so lange, bis die Zirkulation der Luft von einem organischen Kreislauf zu einem Kreislauf der Seele wird. Anfangs fühlte sich die Flöte kalt und starr wie ein Stück Eisen an, und es wollte einfach kein Ton herauskommen. Als er dem Bambusrohr endlich einen einfachen Ton entlockt hatte, war Lao Wei überglücklich.
(…)
Er mußte das Bett hüten und hatte die Zelle tagsüber weitgehend für sich allein. Während er die einfallenden Sonnenstrahlen betrachtete, dachte er über die Wechselfälle des Lebens nach. Er schluckte Tabletten gegen das Fieber; sein Blick wanderte nach draußen und traf auf die vertrauten Mauerzinnen, den Stacheldraht, die Wachen und die Schäferhunde. Zufällig mischte sich einmal die Rückansicht einer Frau in diesen trüben Anblick. Es war lange her, daß er mit einer Frau zusammen gewesen war, und dieses Hinterteil beflügelte seine Phantasie. Er streichelte seine Bambusflöte, und plötzlich erklangen in seinen Ohren die weinenden Laute fernen Flötenspiels. „Meister!“ schrie er laut zum Fenster hinaus.
Drei Monate lang übte er nun nichts als Atemtechnik, bis er die tiefe Bauchatmung beherrschte. Seine Adern waren jetzt gut durchblutet, und sein Gesicht wurde rosig. Sein Arbeitsdienst bestand darin, morgens früh aufzustehen und die Namen der Häftlinge zu registrieren, die in verschiedenen Einheiten zur Arbeit antraten. Zusammen mit zwei Mithäftlingen mußte er dann mittags in der Küche die Essensrationen abholen und Reis und Suppe austeilen. Wenn er nachmittags zurück in die Zelle kam, waren die anderen noch am Arbeiten, und er konnte getrost in der großen Gemeinschaftszelle Flöte üben. Alle paar Tage erschien der Mönch unter seinem Fenster und gab ihm in wenigen Sätzen Anweisungen. Dann ging er wieder, und kurz darauf hörte sein Schüler aus der Richtung der Krankenstation eine Melodie. Lao Wei hörte gut zu und näherte sich nach und nach dem Wesen des Flötenspiels an. So wurde es Frühling, und Lehrer und Schüler erfreuten sich einer zunehmenden Verbundenheit.
(…)
Auch als es Nacht wurde, suchte ihn der Mönch in seinen Fieberträumen heim. „Auch Ihr habt die Melodien eures Lehrers verändert“, sagte Lao Wei zu ihm. „Su Wu hütet Schafe hatte ursprünglich nur eine einzige Strophe, aber Ihr habt zahlreiche Varianten angefügt, die so herzzerreißend sind, als ob nicht Su Wu, sondern Ihr selbst die Schafherde bewachtet, Meister.“
Lao Weis Zustand war besorgniserregend. Es dauerte sieben Tage, bis er sich ganz erholt hatte. Als er zum ersten Mal wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stand, fühlte er sich wie neugeboren. Er nahm die Flöte, aber sein Atem war schwach, und es kam nur ein leises Flüstern heraus. Also zwang er sich dazu, im Hof ein paar Runden zu laufen, um seine Atmung zu kräftigen.
Nach nur zwei Runden war er außer Puste und mußte sich hinhocken. Da vernahm er von der Krankenstation her Flötentöne seines Meisters, und Tränen liefen ihm über das Gesicht. Doch die Klänge hörten sich seltsam leer an, es lag keine Wärme darin, kein Funke, der von Mensch zu Mensch überspringen konnte. „Für ein von irdischen Gefühlen beseeltes Spiel muß ich wohl selbst sorgen“, sagte er vor sich hin. „Dieser Mönch ist nicht von dieser Welt.“
Niemandem als sich selbst verpflichtet, übte Lao Wei zwei Monate lang wieder unablässig auf der Flöte, und der Erfolg blieb nicht aus. Seine Musik kam mehr und mehr aus dem Herzen. „Eine Melodie ist nur ein Leichnam“, sagte er sich, „man muß ihm eigene Energie einhauchen, damit er lebendig wird und tanzt.“ Er versuchte es sogar mit Der Osten ist rot, und siehe da, aus dem drögen Revolutionslied war durch sein Spiel ein bewegender ländlicher Trauergesang geworden.