LI 93, Sommer 2011
Der Biss des Menschen
Über Leben und Sterben in China und die Kunst, Geschichten zu sammelnElementardaten
Genre: Gespräch / Interview
Übersetzung: Aus dem Chinesischen von Karin Betz
Textauszug: 5.686 von insgesamt 51.217 Zeichen
Textauszug
(…) Sind Ihre Interviews mit Menschen vom Rande der Gesellschaft heute ein abgeschlossenes Werk, oder werden Sie Ihre Geschichtensammlung noch erweitern?
An diesem Thema arbeite ich nun seit fast zwanzig Jahren. Ich habe im Laufe der Zeit über mehr als 300 Personen geschrieben, von denen viele schon verstorben sind. Es sieht so aus, als gebe es in China unendlich viele solcher Menschen und Geschichten, man muß ihnen nur nahe sein. China ist ein extrem unsicheres Land, aber auch ein Land voller Leidenschaften, Rastlosigkeit und Durcheinander. Es gibt so viele Geschichten, daß man sie niemals alle wird aufschreiben können. Wenn ich zurück in China bin, werde ich die Fäden dieser Geschichten wiederaufnehmen.
(…)
Ihre Geschichten sind auch Geschichten des Todes in China. Die Allgegenwart eines frühen Todes durchzieht das Buch: als Bedrohung mit dem Tod, als Angst vor dem Tod, als jäher Einbruch des Todes durch Willkür, Krankheit, Vernachlässigung, Zufall. Der überraschende Tod lauert überall. Das Volk ist dabei nicht unschuldig; die einfachen Menschen, Gruppen und Massen sind nicht nur Opfer, sondern auch Täter, sie verfolgen Menschen aufgrund von Gerüchten oder Denunziationen als Angehörige verfemter sozialer Kategorien wie „reicher Bauer“, „übles Element“ oder „stinkende Nummer neun“ sowie „Rinderteufel und Schlangengeister“, womit Intellektuelle bezeichnet wurden. Während dieser politischen Kampagnen scheint es relativ einfach gewesen zu sein, niedere Instinkte großer Gruppen gegen Minderheiten zu mobilisieren. Sie handeln oft sehr gemein und fanatisch. Wie entsteht diese Bereitschaft, den anderen zu opfern – aus Naivität, Elend, Gier, Angst, Gehorsam, Überlebenswillen?
In der traditionellen chinesischen Sichtweise von Leben und Tod bedeutet Sterben eine Art Umkehrung des Verhältnisses von Yin und Yang. Yin ist die Totenwelt, Yang ist die lebendige, unsere Welt. Leben und Tod, das Dunkle und das Helle, liegen nah beieinander und gehen in der Tradition ineinander über. In der bäuerlichen Gesellschaft haben alle spirituellen Berufe wie der des Feng-Shui-Meisters oder der des Wahrsagers, die angeblich durch Leben und Tod hindurchschauen und die Grenze von unserer Welt zur anderen transzendieren können, mit dem Tod zu tun. Auf dem Land finden sich überall Friedhöfe und Begräbnisstätten. Wenn ein Familienmitglied stirbt, wird es gleich vor oder hinter dem Haus begraben; man lebt mit den Toten in einer natürlichen friedlichen Koexistenz zusammen. In den Glaubenstraditionen liegen Tod und Leben nah beieinander. Damit meine ich nicht die Religion, sondern den Geisterglauben. Die Kommunistische Partei hat nicht nur die Lebenden vergewaltigt, sondern auch die Toten. Es wurden Gräber geöffnet und Leichname geschändet. Wie in der Geschichte Die Totenrufer, in der die Massen durchdrehen und es zu einem Aufstand kommt. Ganz normale Menschen sind an diesen grausamen Taten beteiligt, sie beleidigen die Toten, sie bringen andere Leute in Bedrängnis. Der Sohn eines Grundbesitzers mußte den Leichnam seiner der Kuomintang angehörigen Großmutter herbeischleppen, damit dieser Leichnam kritisiert und beschimpft werden konnte, und er, der Lebende, wurde genauso beschimpft und öffentlich gedemütigt wie die Tote. Solche Geschichten waren in China eine Zeitlang an der Tagesordnung, von der Bodenreform bis zur Rechtsabweichlerkampagne und den drei Jahren der großen Hungersnot, als Menschen ihre eigenen Kinder gegessen haben. Und wenn sie es nicht über sich brachten, die eigenen Kinder zu essen, tauschten sie die eigenen Kinder gegen die der Nachbarn, um nicht die eigenen Kinder essen zu müssen. Das waren keine Einzelfälle. Essen war und ist ein Problem, von der Kulturrevolution bis heute, denken wir nur an den Milchpulverskandal.
Obwohl behauptet wird, es gebe gesellschaftlichen Fortschritt, kann ich nur die Blutspur erkennen, die der Kommunismus bis heute gezogen hat. Ein totalitäres System betrachtet einzelne Menschenleben als wertlos, während die Chinesen traditionellerweise Ehrfurcht vor dem Tod, vor Geistern, vor Gott hatten. Da die Kommunisten an den Materialismus glauben, unterdrücken sie diese Traditionen mit Gewalt. Was man nicht mit eigenen Augen sehen kann, ist für sie Aberglauben und gibt es deshalb nicht. Heute fürchten und respektieren die Chinesen weder den Himmel noch die Erde.
Dieser Atheismus bedeutet die Zerstörung von Geistern und Geist. Heute brennen die Chinesen zwar wieder Räucherstäbchen ab und beten zu Buddha, aber eigentlich haben sie keine Ehrfurcht vor nichts. Sehr chinesisch ist auch die Vorstellung, durch Zauberkraft ungeliebte und unerwünschte Mächte loswerden zu wollen, gegen die man sonst machtlos ist. Im alten China gab es Hexenzauber; man stach mit Nadeln in Voodoopuppen, wenn man jemanden verfluchen wollte.
Die Chinesen sind oft Pragmatiker: Wenn sie jemanden nicht mögen oder hassen, wünschen sie diesen Menschen den Tod. Es ist bekannt, daß Mao Zedong vor seinem Tod von vielen Leuten auf diese Weise verflucht worden ist. Vor Maos Tod meinten viele, die unter ihm gelitten hatten: „Wie gut es wäre, wenn er tot wäre“, auch wenn sie sich nicht trauten, das offen zu sagen. Obwohl so viele den Tod des Tyrannen herbeisehnten, wollte er einfach nicht sterben. Die Psyche der Chinesen funktioniert im Grunde heute noch genauso. Wenn ein schlechter Politiker oder ein korrupter lokaler Tyrann herrscht, wünschen die Leute, Intellektuelle eingeschlossen, ihm Krankheiten an den Hals oder beten, daß er aus Altersgründen zurücktreten oder sterben möge. Davon versprechen sie sich Veränderungen, anstatt selbst zu handeln. Allein daraus läßt sich das besondere Verhältnis der Chinesen zum Tod ablesen.
(…)