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Cover Lettre International 79, Endy Hupperich
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Inhaltsverzeichnis

LI 79, Winter 2007

Fräulein Hallo

Unter dem Pseudonym Lao Wei führt der Schriftsteller Liao Yiwu seit den neunziger Jahren Interviews mit einfachen Menschen des neuen China – „China von unten“. Drei stellen wir in Lettre vor.

In den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts bin ich insgesamt dreimal in ein sogenanntes Pub gegangen, die ersten beiden Male wurde ich von Freunden dazu eingeladen, das letzte Mal machte ich mich alleine auf und geriet in die angesagteste Diskobar in der Nähe der Volksparks. Passenderweise war auch noch der Vorabend von Allerheiligen, Halloween, und das zweite Stockwerk zum Brechen voll. Die Kellner hatten Masken auf und arbeiteten sich durch diese Hundertschaften von Menschen. Die Song- und Dancegroups auf der Bühne hatten die Emotionen der Anwesenden aufgepeitscht. Dem Himmel sei Dank kam Fräulein Hallo, so daß ich etwas Vernünftiges zu tun hatte, sonst hätte ich Schwierigkeiten bekommen.

Zeitungsberichten zufolge gab es in Chengdu die meisten dieser Etablissements, und der neue Mensch war willig, diese nach Maßgabe ihrer Bekanntheit zu besuchen. Gehörte die Zukunft Menschen wie Fräulein Hallo? Nein, womöglich gehörte dieser vor dem Fernseher großgewordenen Generation sogar schon die Gegenwart. In diesen Tagen brachte das Zentralfernsehen eine Sendung mit dem Titel „Forum Reichtum“, in der der Präsident von Intel sagte: „In China lautet ein altes Sprichwort: 'Paranoiker sind alle nicht erwachsen geworden'– nun, die Angestellten unserer Firma sind samt und sonders Paranoiker und damit nicht erwachsen geworden.“ So gesehen, schließen die chinesischen Freunde dieses westlichen Tycoons auch Fräulein Hallo ein. Wenn man sich die Welt betrachtet, so ist die Erscheinung dieser neuen Menschen kaum nur eine Generationenfrage!

Fräulein Hallo: Mein Herr, ist hier noch frei?

Lao Wei: Bitte, wie Sie möchten.

Fräulein Hallo: Ob ich mich setzen kann?

Lao Wei: Der Platz ist frei, setzen Sie sich!

Fräulein Hallo: Das ist doch eine Ansage, dann setz’ ich mich halt. Bestellen Sie mir bitte eine Flasche Bier. Ich ein jiashibo.

Lao Wei: Ich soll Ihnen ein Bier bestellen? Ich kenne Sie doch gar nicht.

Fräulein Hallo: Du hast mich doch eingeladen, noch zehn Minuten, und wir sind alte Bekannte. Ich sehe nicht schlecht aus, bekäme sicher neun von zehn Punkten. Und wenn jemand wie du sich alleine in einer Diskobar umschaut, heißt das dann nicht, daß er ein hübsches Mädchen kennenlernen möchte?

Lao Wei: Sie nehmen kein Blatt vor den Mund! Nun gut, ich lade Sie ein.

Fräulein Hallo: Das Bier hier schmeckt nicht schlecht, ich trinke diese Marke schon über ein Jahr, das ist schon mehr als eine dicke Freundschaft, hast du eine Zigarette?

Lao Wei: Ich rauche nicht. Hallo erst mal. Wie heißt du eigentlich?

Fräulein Hallo: Du stammst wohl noch aus der alten Gesellschaft, kaum siehst du jemand, schon fragst du nach dem Namen! Das zeugt von bitteren Erfahrungen und tiefem Haß.

Lao Wei: Wieso zeugt es von bitteren Erfahrungen und tiefem Haß, wenn ich dich nach deinem Namen frage?

Fräulein Hallo: Ein alter Film mit Faat Jai über die Zeit der Kulturrevolution zeigt Reisende aus Festlandchina, die nach Hongkong übersetzen und von der Polizei wie die Hühner gescheucht werden. Die hatten es nicht leicht, ein Bein auf die Erde zu bekommen oder sich gar in ein Mädchen zu verlieben – kurz und gut, der junge Mann sucht seine Angebetete zu Hause auf, und als er sie sieht, leuchtet seine Uniform, und er haucht: „Genossin“. Dein Tonfall gerade war genau wie in dem Film. Ich nehme an, du gehörst zu der Generation mit den bitteren Erfahrungen und dem Haß im Herzen.

Lao Wei: Man muß jemanden doch ansprechen können!

Fräulein Hallo: Du hast mich ja schon mit „Hallo“ angesprochen. „Hallo! Hallo!“, mit diesen beiden Worten fängt auch jedes Telefonat an, „Hallo! Hallo!“, in jeder Sekunde wird das weltweit bestimmt ein paar Milliarden Mal ausgesprochen – und weil die Massen auch mich lieben, nenn mich einfach Fräulein Hallo!

Lao Wei: Die Massen lieben dich? Könntest du mit jedem X-Beliebigen schlafen?

Fräulein Hallo: Ist das schon wieder eine Frage? Es sieht so aus, als sei die Kluft zwischen dem neuen und dem alten Menschen sehr tief. Du hast mich so lange so geil angeschaut, da wäre es doch besser gewesen, gleich die Brieftasche zu zücken … Wenn ich Lust dazu habe, tue ich es, wenn nicht, nicht. Das ist das gleiche wie mit dem Einkaufen und dem Färben der Haare. Wenn ich zum Beispiel frühmorgens Lust habe, mir die Haare golden zu färben, dann schwinge ich mich auf meinen Roller und mache eine Spritztour: Einmal, es war draußen schon dunkel, da hatte ich den Regenschirm aufgespannt, und nur weil er rot war, habe ich mir die Haare rot färben lassen. Ein andermal saß ich zu Hause vor dem Fernseher und fand auf einmal den Igelschnitt von Wang Fei ganz schön cool, da bin ich sofort in einen Schönheitssalon gerannt, mit dem Ziel, so einen Schnitt zu bekommen, vielleicht, damit meine Mama mich nicht mehr erkennt. Beim Einkaufen bin ich noch verrückter, da funkt es innerlich nicht nur, da brennt es, das bezieht sich auch auf das Liebemachen, hat es bei dir auch schon gefunkt?

Lao Wei: Dafür bin ich zu alt.

Fräulein Hallo: Selbst wenn du achtzig wärst, hätte ich den Mut dazu, das ist der neue Mensch, das kann man mit Leuten, die in den Siebzigern geboren wurden, nicht vergleichen.

Lao Wei: Wie alt bist du denn?

Fräulein Hallo:18. Ich habe heute Geburtstag. Aber ich habe mit Freunden und Lovern schon so viele Geburtstage gefeiert, Kuchen, Blumen, Party, ich habe das satt, also hab’ ich mich abgesetzt. Ich bin jetzt in drei so Läden gewesen. Alle nicht hip. Und hier habe ich auch eine gute halbe Stunde gebraucht, bis ich in dem Menschenmeer deine Glatze entdeckt habe. Die gerunzelte Stirn, ein undurchdringlicher hübscher Kerl, toll, und mit Gefühl. Du bist sicher in erster Linie Performer, so für Film und Fernsehen …

Lao Wei: So wie Cheng Long, Li Lianjie oder Liu Dehua und Hong Jinbao?

Fräulein Hallo: Ich sehe selbst Schwarzenegger genau an, ich glaube, du siehst aus wie, wie, hihi, ich geniere mich, das zu sagen.

Lao Wei: Du genierst dich?

Fräulein Hallo: Hihi, du ähnelst einer Hauptrolle in dem Film Loft, hast du schon mal den Playboy gelesen?

Lao Wei: Das amerikanische Pornomagazin mit der höchsten Auflage?

Fräulein Hallo: Das ist ein Video. Das posing und die motions sind voll angesagt und perfekt, der einzige Hengst mit asiatischem Hintergrund darin war einer mit Glatze, den ganzen Körper in einem roten T-Shirt. Du bist ein wenig kleiner, aber die Brauen und die Stirn sind voll cool, hast du auch Haare auf der Brust?

Lao Wei: Hast du sie noch alle!? Dich so über einen älteren Herren lustig zu machen?!

Fräulein Hallo: Gut gebrüllt, Löwe! Cool! Paßt zu dir, wenn du in die Luft gehst, und wie du den linken Arm schwingst, sehr sexy. Das kommt der Ästhetik des neuen Menschen schon sehr nah. Doch wie du gerade gelächelt hast, wie ein alter Lustmolch mit dem Wanst voll schlimmer Gedanken, wirklich, du darfst nicht lächeln, wenn du lächelst, werden deine Tränensäcke ganz schwer, und das Kinn wölbt sich.

Lao Wei: Du bist schwer zu fassen, wenn du mich jetzt mit dir Liebe machen läßt, wird der ganze Klassenhaß aus mir herausbrechen. Ich weiß, daß es in unserer Gesellschaft Berufe wie den deinen gibt, wo man ein wenig Geld verdient, indem man irgendwem seine Begleitung anträgt und mit ihm plaudert, kein einfacher Job, dich mit mir anzulegen, die Mühe lohnt nicht.

Fräulein Hallo: Wenn ich dir zuwider bin, dann kannst du auch nichts zahlen, ich rede schon so, seit ich klein bin. Der neue Mensch ist unterschiedslos so aus der Preßform gefallen, keiner hat Brüder oder Schwestern. Ich bin vor dem Fernseher großgeworden, auf der Schule war ich bis zur ersten Klasse der Mittelschule, dann bin ich abgehauen, seither lebe ich in den Tag hinein. Mit 15 wurde ich eins der Mädchen in den Coiffeur-Salons, ich habe viele Männer getroffen, doch mit denen ist es nie zu was gekommen, Männer streicheln gern über den Körper von Mädchen; wenn sie es übertrieben haben, dann bin ich vor Schreck davongelaufen. Dann war ich Vortänzerin in einer Diskobar. Jeder Auftritt dauerte an die zwei, drei Stunden, einfach nach Lust und Laune, das hat Spaß gemacht. Als mir das zu anstrengend wurde, mit sechzehneinhalb, bin ich mit einem Mann zusammengezogen, weil die Miete für zwei ein wenig billiger war.

(…)

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