LI 104, Frühjahr 2014
Unser Platz im Universum
Lebendige Materie, ein winziges Etwas angesichts der UnendlichkeitElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Hainer Kober
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Textauszug
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Naturforscher, Biologen, Philosophen, Maler und Dichter haben all ihr Talent aufgeboten, um die besonderen Eigenschaften der seltsamen Welt auszudrücken, die uns umgibt. Einige Dinge sind stachlig, andere glatt. Manche rund, manche gezackt. Leuchtend oder matt. Malvenfarben. Trippelnd und trappelnd im Rhythmus. Von all diesen Aspekten der Dinge scheint keiner so unmittelbar oder wichtig wie die Größe zu sein. Groß oder klein. Bewußt und unbewußt messen wir unsere physische Größe an den Dimensionen anderer Menschen, an Tieren, Bäumen, Ozeanen, Gebirgen. Wir können uns für noch so gescheit halten, unsere Körpergröße, unsere Statur, unsere Fülle und Masse sind immer das erste, was wir der Welt präsentieren. Bei all unseren Versuchen, den Kosmos zu ergründen, müssen wir eine Größenvorstellung haben, ein mentales Inventar, eine Skala, die von Atomen über Mikroorganismen, Menschen, Meere bis hin zu Planeten und Sternen reicht. Einige der eindrucksvollsten Neuzugänge dieses Inventars liegen am oberen Ende der Skala. Mit anderen Worten, der Kosmos ist immer größer und größer geworden. Auf jeder neuen Stufe der Entfernungs- und Größenskala müssen wir uns auf eine neue Vorstellung von der Welt, in der wir leben, einstellen.
Der Preis für die Erforschung der größten Entfernung im Kosmos gebührt einem Mann namens Garth Illingworth, der in einem Drei-mal-fünf-Meter-Büro der University of California in Santa Cruz arbeitet. Illingworth beschäftigt sich mit Galaxien, die so weit entfernt sind, daß ihr Licht mehr als 13 Milliarden Jahre brauchte, um uns zu erreichen.
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Die Vermessung der Erde
Das erste große Objekt, das jemals exakt vermessen wurde, war die Erde. So geschehen im 3. Jahrhundert v. Chr. durch Eratosthenes, einen Geographen, der die große Bibliothek von Alexandria leitete. Von Reisenden hatte Eratosthenes die interessante Kunde vernommen, daß in der südlich von Alexandria gelegenen Stadt Syene (Assuan) während der Sommersonnenwende die Sonne zur Mittagszeit selbst am Grunde eines tiefen Brunnens keinen Schatten werfe. Offenkundig mußte die Sonne zu dieser Zeit direkt über diesem Ort stehen. (Vor Erfindung der Uhr konnte die Mittagszeit – zwölf Uhr – an jedem Ort als der Augenblick bestimmt werden, an dem die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel erreichte, egal, ob sie senkrecht stand oder nicht.) Eratosthenes wußte, daß die Sonne um zwölf Uhr nicht direkt über Alexandria stand, sondern um 7,2 Grad oder ein Fünfzigstel des Kreises von der Senkrechten abwich – das konnte er bestimmen, indem er die Länge des Schattens maß, der von einem im Boden steckenden Pfahl geworfen wurde. Daß die Sonne senkrecht über einem Ort stand, über einem anderen aber nicht, lag an der Krümmung der Erdoberfläche. Wenn ihm die Entfernung zwischen Alexandria und Syene bekannt wäre, so überlegte Eratosthenes, müßte der vollständige Erdumfang das Fünfzigfache dieser Strecke betragen. Händler, die durch Alexandria kamen, berichteten ihm, daß Kamele die Reise nach Syene in ungefähr fünfzig Tagen zurücklegen könnten, wobei man davon ausging, daß ein Kamel pro Tag eine Strecke von hundert Stadien (ungefähr 18 Kilometer) zurücklegte. Der antike Geograph schätzte die Entfernung zwischen Syene und Alexandria folglich auf ungefähr 900 Kilometer. Aus diesen Daten errechnete er einen Erdumfang von 50 mal 900 Kilometern oder 45 000 Kilometern. Damit wich seine Schätzung keine 15 Prozent von den modernen Messungen ab – ein erstaunlich genaues Ergebnis, bedenkt man, wie unzuverlässig Kamele als Kilometerzähler sind.
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Unendliches Universum?
Während des letzten Jahrhunderts gelang es den Astronomen, immer tiefer ins All zu schauen und Dinge zu erfassen, die viele hundert Lichtjahre und mehr von uns entfernt sind. Das wirft natürlich eine Frage auf: Könnte das materielle Universum von unendlicher Größe sein? Mit anderen Worten, werden wir, wenn wir immer größere und lichtempfindlichere Teleskope bauen, auch weiterhin kosmische Objekte sehen, die immer weiter entfernt sind – wie Yongle, der dritte Ming-Kaiser, der seinen neuen Palast in der Verbotenen Stadt in Augenschein nahm und von Gemach zu Gemach ging, ohne je ans Ende zu gelangen?
Hier müssen wir eine merkwürdige Beziehung zwischen Abstand und Zeit berücksichtigen. Da sich das Licht mit einer hohen, aber nicht unendlichen Geschwindigkeit fortbewegt (rund 300 000 Kilometer pro Sekunde), müssen wir uns bei dem Blick auf ein fernes Objekt im All vergegenwärtigen, daß zwischen der Emission des Lichts und seiner Rezeption durch uns ein beträchtlicher Zeitraum verstrichen ist. Das Bild, das wir sehen, zeigt uns das Objekt so, wie es aussah, als das Licht ausgesandt wurde. Beträgt der Abstand 300 000 Kilometer, erblicken wir es so, wie es eine Sekunde zuvor aussah; in einer Entfernung von 3 000 000 Kilometern präsentiert es uns das Erscheinungsbild, das es zehn Sekunden zuvor hatte, und so fort. Extrem ferne Objekte nehmen wir so wahr, wie sie in einer Vergangenheit von Millionen oder Milliarden Jahren waren.
Jetzt die zweite Merkwürdigkeit. Seit Ende der zwanziger Jahre wissen wir, daß das Universum expandiert und daß es dabei ausdünnt und abkühlt. Durch Messung der gegenwärtigen Expansionsrate können wir den Zeitpunkt in der Vergangenheit, an dem die Expansion begann – den Urknall –, recht gut einschätzen. Er muß ungefähr 13,7 Milliarden Jahre zurückliegen. Damals gab es weder Planeten noch Sterne oder Galaxien, und das ganze Universum bestand nur aus einem unvorstellbar dichten Klümpchen reiner Energie. Egal, wie groß unsere Teleskope sind, wir können nicht über die Entfernung hinaus sehen, die das Licht seit dem Urknall zurückgelegt hat. Bei Entfernungen, die diese Strecke überschreiten, hat das Licht seit der Geburt des Universums einfach noch nicht genug Zeit gehabt, um sie zurückzulegen. Diese Riesenkugel, die durch die maximale Entfernung bestimmt wird, die wir sehen können, ist lediglich das beobachtbare Universum. Tatsächlich aber könnte das Universum weit darüber hinausreichen.
In Garth Illingworths Büro in Santa Cruz haben seine Kollegen und er den Kosmos bis zu den Rändern des beobachtbaren Universums vermessen und kartiert. Dabei sind sie fast an die Grenzen dessen gestoßen, was die physikalischen Gesetze zulassen. Alles, was es in dem erkennbaren Universum gibt – Ozeane und Himmel; Planeten und Sterne; Pulsare, Quasare und dunkle Materie; ferne Galaxien und Galaxienhaufen; große Wolken aus sternbildendem Gas, die sich im kosmischen Sensorium angesammelt haben –, all das wird von Menschen gemessen und beobachtet.
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