LI 76, Frühjahr 2007
Der Bombertraum
Über die Aliierten Luftangriffe auf Zivilisten im Zweiten WeltkriegElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer
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Textauszug
Heutige Bombenangriffe werden heutige Gesetze nicht respektieren, so lange die Verbrechen von gestern entschuldigt oder sogar verherrlicht werden.
Die Bombenangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges waren für deutsche Autoren und Historiker lange Zeit tabu. W. G. Sebald stellte diese Lücke in seinem Essay Luftkrieg und Literatur fest und Jörg Friedrich versuchte sie, mit Der Brand und Brandstätten zu füllen. Nach wie vor dominiert aber auf diesem Gebiet die angelsächsische Literatur.
Besonders im britischen Gewissen ist die Bombardierung der deutschen Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges ein wunder Punkt. Wie eine Zunge an einen schadhaften Zahn kommen die Briten immer wieder auf die Frage zurück: „Waren diese Bombardierungen moralisch und militärisch gerechtfertigt oder waren sie ein Kriegsverbrechen?“ Meine eigene Ansicht hierzu habe ich ausführlich in A History of Bombing (2001) dargelegt. Zu denen, die meine Ansicht teilen gehören der Philosoph A. C. Grayling in Among the Dead Cities (2006, deutsch: Die toten Städte, 2007) und Autoren der Anthologie Firestorm, The Bombing of Dresden (2006). Auch Mark Connelly meldet in Reaching for the Stars. A New History of Bomber Command in World War II (2001) Kritik an den Bombenangriffen an.
Connelly kritisiert ihre Effektivität und die Versuche der Behörden, ihre eigentliche Tätigkeit zu verheimlichen. Er entlastet den Hauptbeschuldigten, den Befehlshaber der Bomberflotte, Arthur Harris und belastet das Kriegskabinett, das die Beschlüsse fällte und die britische Bevölkerung, der die Bedeutung der Ereignisse nicht entgangen sein könne. Letztlich aber gebe es keine Schuld, die kollektive Bestrafung sei berechtigt gewesen, da andere Deutsche viel schlimmere Untaten begangen hätten.
Der britische Romanautor und Historiker Fredrick Taylor beschreibt in Dresden (2004, deutsch: Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945, 2004) den Feuersturm, der am 13. Februar 1945, drei Monate vor der Kapitulation, diese alte deutsche Kulturstadt zerstörte. Der Angriff richtete sich bewußt gegen die zivilen Wohnviertel im Stadtkern und tötete nur einige Hunderte Militärangehörige, aber Zehntausende Flüchtlinge, Kinder und Alte. War dieser Angriff moralisch und völkerrechtlich berechtigt? Das Material das Taylor zusammenträgt, die Mythen, die er entlarvt und die Lücken, die er aufdeckt, tragen dazu bei, die Briten freizusprechen. Der Leser wird zu dem Schluß verleitet, der Angriff sei berechtigt gewesen.
Der nachdrücklichste Verteidiger des Bombenkrieges ist der Militärhistoriker Robin Neillands mit The Bomber War, Arthur Harris and The Allied Bomber Offensive 1939–1945 (2001, deutsch: Der Krieg der Bomber, 2002). Neillands erklärt, die Bombardierung der Zivilbevölkerung sei militärisch wirkungsvoll oder zumindest notwendig gewesen und somit moralisch und juristisch zu verteidigen. Im übrigen hätten die Deutschen angefangen. Gebe es einen Schuldigen, so sei dies nicht Arthur Harris.
Vom Anbeginn seiner Entwicklung wurde das Flugzeug von übertriebenen Vorstellungen hinsichtlich seines militärischen Wertes begleitet. Die Propheten der Luftwaffe – Douhet in Italien, Trenchard in Großbritannien, Mitchell in den USA – vertraten die Ansicht, das Flugzeug werde Heer und Flotte in naher Zukunft überflüssig machen. Künftige Kriege würden nicht mehr an der Front entschieden, sondern durch Bombardierung der Frauen, Kinder und Alten, bis der Wille der Soldaten zur Fortsetzung des Krieges gebrochen sei. Einen Krieg ohne Truppen zu gewinnen, ohne in Bodenkämpfen siegen zu müssen – das war der Bombertraum.
Dieser Traum konnte nie verwirklicht werden. „Luftbombardements haben die zivile Moral niemals ernsthaft geschwächt“ schreibt Neillands. Nicht in Spanien, nicht in London, nicht in Deutschland, Vietnam, Serbien oder dem Irak. Die Wirkung sei in vielen Fällen gegenteilig – die Luftangriffe hätten den Widerstandswillen der Bevölkerung gestärkt.
Hierüber ist sich Neillands also von Anfang an im klaren. Immer wieder aber stellt er Überlegungen an, ob dennoch die Möglichkeit eines Sieges auf eigene Faust bestanden habe.
Über die ersten Angriffe des neuen Chefs des britischen Bomberkommandos, Arthur Harris, auf die Stadtkerne von Lübeck und Rostock im Frühjahr 1942 schreibt Neillands: „Flächenbombardements waren die einzig mögliche Angriffsmethode und eine hochwirksame dazu.“ In welcher Hinsicht war es hochwirksam, 15?000 Menschen in Lübeck obdachlos zu machen? Militärisch ergab dies keine Vorteile. Und den Widerstandswillen konnte man mit Bomben nicht brechen.
Neillands erinnert daran, daß nicht nur Harris einen solchen Fehlschlag erlitt: „Bis zum Jahr 1999 kennt die Geschichte kein Beispiel dafür, daß ein Krieg durch Luftstreitkräfte gewonnen wurde“. Doch bald darauf hat Neillands diese Einsicht vergessen und rechtfertigt den Feuersturm auf Hamburg im Sommer 1943, als innerhalb einer Nacht etwa 50?000 Zivilisten getötet wurden:
„Es handelte sich auf jeden Fall um ein furchtbares Ereignis, das in späteren, friedlichen Zeiten schwer zu rechtfertigen ist und sich kaum noch vorstellen läßt.“
„Was wäre gewesen, wenn Harris weitere vernichtende Luftangriffe im Hamburger Ausmaß hätte durchführen können, die eine weitere wichtige deutsche Industriestadt und dann noch eine zerstört hätten.“
Armer Harris! Aber kein Befehlshaber verfügte jemals über alle Mittel zur Verwirklichung seiner Träume. Die Kunst besteht darin, im Rahmen verfügbarer Mittel zu siegen. Man beachte, wie abstrakt das Ziel beschrieben wird: „Was wäre gewesen.“ Was? Auf welche Weise? Die Alliierten hatten klar erklärt, daß sie nur eine bedingungslose Kapitulation akzeptieren könnten. Die deutschen Machthaber hatten durch eine Kapitulation alles zu verlieren. Diejenigen, die durch eine Kapitulation etwas hätten gewinnen können, waren machtlos. Ihr Einfluß vergrößerte sich nicht, indem man Bomben auf sie abwarf.
Im November 1943, vor der Invasion in der Normandie, hatte Harris nur noch ein halbes Jahr, um den Krieg auf eigene Faust zu gewinnen. Er hatte Befehl, die deutsche Ölindustrie anzugreifen, konzentrierte sich jedoch darauf, Bezirk um Bezirk von Berlin zu zerstören. Erneut läßt sich Neillands mitreißen: „Bedenkt man, welche dramatischen Auswirkungen die Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki weniger als zwei Jahre später hatte, so erscheint Harris’ Idee als nicht völlig abwegig (…) Hätte man ihm volle Unterstützung eingeräumt, wäre er vielleicht in der Lage gewesen, den Nachweis zu erbringen.“
Doch nicht einmal die völlige Zerstörung Tokios und sämtlicher anderer großer Städte Japans mit gewöhnlichen Bomben erzielten jenes Resultat, das sich Harris mit gewöhnlichen Bomben in Berlin erhoffte.
Je näher der Tag der Invasion kam und je mehr Mittel Harris zur Verfügung standen, um so überzeugter war er, daß bloß eine kleine Steigerung der militärischen Mittel und die freie Hand, sie einzusetzen, wie er es für richtig hielt, zum Zusammenbruch führen würden – die Deutschen würden sich gegen ihre Naziherrscher erheben und Frieden fordern.
Hatte Harris recht? fragt Neillands und antwortet: „Der Abwurf von zwei Atombomben – Flächenwaffen par excellence – auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 führte zur völligen Vernichtung beider Städte und des größten Teils ihrer Einwohner. Ergebnis dieses Horrors war, daß Japan kapitulierte. Hätten die Japaner weitergekämpft, so hätten die Amerikaner das gesamte Land, eine Stadt nach der anderen, zerstört – und im Unterschied zu Luftmarschall Harris hatten sie 1945 die Mittel, das zu tun.“
Diese Überlegung führt in die Irre. Die Amerikaner hatten Japan bereits Stadt für Stadt zerstört. Dies hatte nicht ausgereicht, da die Alliierten auf bedingungsloser Kapitulation bestanden und den Japanern eine Kapitulation ohne Garantien für den Kaiser undenkbar erschien. Den Japanern wurde ihre Niederlage bei Kriegseintritt der Sowjetunion bewußt. Schon als Deutschland kapitulierte, wußten sie, daß sie besiegt waren. Die amerikanische Flotte hielt das Land im Würgegriff. Weder Lebensmittel noch Treibstoffe konnten importiert werden. Vor allem die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation verzögerte den Friedensschluß. So bald die Japaner Garantien hin sichtlich der Immunität ihres Kaisers erhielten, kapitulierten sie.
Drei Monate vor und drei Monate nach der Invasion in der Normandie wurden britische Bombenflugzeuge zur Unterstützung der Bodentruppen herangezogen. Es zeigte sich, daß sogar die vornehmlich in nächtlichen Bombenangriffen auf Wohngebiete geübten Besatzungen fähig waren, die Transportwege des Feindes und andere militärische Ziele zu treffen.
Als Harris im September 1944 seine Bomber zurückerhielt, stellte man ihm eine Aufgabe: die Bombardierung der deutschen Ölindustrie. 1942 und 1943 war dies schwierig und gefährlich gewesen. Jetzt waren die deutschen Jagdflieger so geschwächt, daß auch Ölziele ohne größere Verluste präzise bombardiert werden konnten. Harris aber vernachlässigte seine Befehle und jagte weiter hinter dem Bombertraum her. Am 3. Februar 1945 tötete er in einer einzigen Nacht 25000 Berliner, zum größten Teil Zivilisten. Jede Nacht hoffte er, die Deutschen hätten genug. Was aber heißt „genug“? „Heute ist es leicht, den Fehler in dieser Argumentation zu erkennen: Die Repression in Nazideutschland hatte ein Maß erreicht, das Aktionen gegen Hitler und sein Regime (die eine Kapitulation strikt ablehnten) unmöglich machte.“ Die Deutschen hatten nicht die Möglichkeit, Hitler abzuwählen.
Nicht nur heute läßt sich dies leicht erkennen. Jedes Kind wußte, daß die Deutschen kein Wahlrecht mehr hatten. Alle wußten, daß Deutschland eine Diktatur war, in der die geringste oppositionelle Äußerung mit Gewalt niedergeschlagen wurde. Auch Harris. Warum setzte er dann auf den Bombertraum, der ein ganz anderes Deutschland voraussetzte, als jenes, das er bombardierte? Und wie kann Neillands heute noch glauben, daß Harris, womöglich recht hatte?
Neillands fragt, ob die Bombenangriffe auf deutsche Städte in dieser Situation nicht Zeitverschwendung gewesen seien.
Doch muß die Frage lauten, ob es sich nicht um eine Vergeudung von Menschenleben handelte. Genauer: eine Vergeudung von Kindern. Diese Vergeudung begann nicht „in dieser Situation“, im Februar 1945, sie fand während des gesamten Bombenkrieges statt.
Der Nachweis, daß die Bombardierung der Zivilbevölkerung militärisch effektiv war, mißlingt Neillands. Sie verursachte furchtbare Zerstörungen und riesiges Leid, erreichte aber nie die angestrebten Ziele. Dies wurde zunehmend deutlich, je länger der Bombenkrieg sich fortsetzte.
Mit Recht weisen Connelly, Neillands und Taylor darauf hin, daß die Bombardierung deutscher Städte Nebenwirkungen von militärischer Bedeutung hatte. Die Deutschen mußten große Teile ihrer knappen Reserven für Artillerie, Jagdflugzeuge und Arbeitskräfte abzweigen, um die Städte zu verteidigen und sie einigermaßen in ihrer Funktion zu erhalten.
Keiner der Autoren geht jedoch auf den Preis dieser Nebeneffekte ein. Dem Bomber Command stand ein Drittel der Kriegsausgaben Großbritanniens zur Verfügung. Diese enorme Summe läßt sich nicht mit militärischen Nebeneffekten rechtfertigen. Vermutlich hätten die britische Flotte, das britische Heer und die taktische Luftwaffe diese Mittel mit besseren militärischen Ergebnissen verwenden können.
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