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Lettre International 146
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LI 145, Sommer 2024

Traum und Wirklichkeit

Leben und Schreiben Jean Genets und sein Theaterstück „Héliogabale”

(…)

Alle seine Werke antworten einander und verbinden sich zu einem Netz von Korrespondenzen, das die eigentliche Struktur der Vorstellungswelt von Genet abbildet. Der Mörder Maurice Pilorge, dem Notre-Dame-des-Fleurs gewidmet ist und der darin stumm durch zahlreiche Seiten geistert, nimmt in Condamné à mort die Stelle des Erzählers ein. Die im Jahr danach im Miracle de la rose (Wunder der Rose) wieder auftauchende Figur Harcamone, die im Herzen der Strafanstalt Fontevraud auf ihre Hinrichtung für die Ermordung eines kleinen Mädchens wartet, tritt, ohne den Spitznamen Yeux-Verts (Grünauge), direkt aus Haute Surveillance hervor. Der Schauspieler, der diese Figur spielt, muß, wenn er die Zeit zurückdrehen will, um sein Verbrechen auszulöschen, „eine Art sehr kurzen, wenn möglich burlesken und rührenden Tanz erfinden“, genauso wie Heliogabal, der, um seinen Gott zu verspotten, „einen grotesken Tanz ausführt, den der Schauspieler erfinden muß“ (man erinnere sich auch an diese Figur in Un chant d’amour, dem einzigen, 1950 gedrehten, Film von Genet, die allein in ihrer Zelle tanzt und dabei das auf ihre Schulter tätowierte Gesicht einer Frau zärtlich in der flachen Hand hält). Und sosehr Héliogabale und Notre-Dame-des-Fleurs sich anscheinend wie zwei ganz unterschiedliche Werke präsentieren, so sehr bleiben sie doch eng verbunden durch die entfalteten Motive: die Leere, entstanden durch die Abwesenheit der Eltern, die sich nicht füllen läßt, der unvermeidliche Zerfall der homosexuellen Liebschaften, der Transvestitismus, das Eingeschlossensein und vor allem die glorreiche, beinahe mystische Verherrlichung des Verrats .

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Hinter all diesen Masken verbirgt sich natürlich die leicht gebeugte Gestalt des Jean Genet, das elternlose Kind, der kleine Halbstarke, der Deserteur, der Schwule, der gescheiterte Dieb, der Gewohnheitsverbrecher, der durch das Wunder des eingekerkerten Wortes zum Poeten, zum Schriftsteller verwandelt wird. Notre-Dame-des-Fleurs: „Jetzt wage ich kaum, ihn anzusehen (den perfekten jungen Mann in mir), denn meine Augen durchqueren sein Fleisch aus Kristall, und alle diese harten Kanten bilden ebenso viele Regenbögen und deswegen weine ich. Ende.“

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Im April 1986, zwei Wochen vor seinem Tod, brachte Jean Genet zwei Koffer, prall gefüllt mit Mappen und losen Blättern zu dem Rechtsanwalt und ehemaligen Minister Roland Dumas, den er während des Algerienkriegs kennengelernt hatte, als dieser die Angeklagten der Nationalen Befreiungsfront vertrat. Dumas bewahrte sie mehr als dreißig Jahre auf, ohne sie wirklich zu öffnen, und war erst 2019 bereit, sie dem Institut Mémoires de l’édition contemporaine zu übergeben, das manche Blätter ausstellte und einen Katalog publizierte. Der oben zitierte unveröffentlichte Text Warum bin ich hier in Amerika ... wurde in einem der Koffer gefunden. Darin befand sich ein kleines, aus einem Heft herausgerissenes Blatt, beschrieben mit einigen mit der blauen Tinte eines Füllhalters hingekritzelten Zeilen. Man kann annehmen, daß sie in den letzten Lebensjahren von Genet geschrieben wurden.

„Wann, zu welchem Zeitpunkt? Einer Linie folgend, die mir unzerbrechlich erschien, hätte ich weitermachen müssen im Elend, mindestens mit dem Diebstahl, vielleicht mit dem Mord und vielleicht auch mit lebenslanger Haft. Diese Linie ist scheinbar abgerissen. Genau das hat mich jede Unschuld verlieren lassen. Ich habe dieses Verbrechen begangen, dem Verbrechen zu entkommen, den Verfolgungen und deren Risiken zu entkommen. Ich habe gesagt, wer ich war, anstatt mich auszuleben, und indem ich sagte, wer ich war, war ich es nicht mehr.

Nicht wieder wettzumachen.“

Nachdem Genet alle anderen verraten hatte, war es unvermeidlich, daß er sich auch selbst verriet. Sein Heliogabal ist derjenige, der bis zum Ende den Weg gegangen ist, den er gewählt hatte, den der Erniedrigung und der Verworfenheit, der ihn – als letzte Antwort auf seine Qual, wie das Schafott für so viele andere Protagonisten bei Genet – zu einem schmachvollen Tod führte. Der Schriftsteller hingegen, der im Tagebuch des Diebes über sich selbst sagte, er erkenne sich als der „Feigling, der Verräter, der Dieb, der Pédé, den man in mir sah“, ist letztlich derjenige, der losgelassen hat, „wie diese Knoten, die die Matrosen Hurenknoten nennen“ (Brief an Sentein vom 17. Juli 1943), derjenige, der verzagt hat, der sich davongemacht hat. Am Ende seines Gesprächs mit Antoine Bourseiller sagt Genet: „Schreiben ist die letzte Zuflucht, wenn man verraten hat … es ist vielleicht das, was einem bleibt, wenn man aus dem Bereich des gegebenen Worts verjagt wurde.“ Doch diese auf dem Boden eines Koffers verlorenen Zeilen etwa aus der Zeit des erwähnten Gesprächs gehen viel weiter: Sie setzen das Schreiben selbst mit einem Verrat gleich. Eine Idee, die sich wie ein unsichtbarer Faden durch sein ganzes Werk zieht und alle seine Verleugnungen innerviert, seine jähen Verzweigungen und sein Schweigen, das nicht wirklich eines ist. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 146 erscheint Ende September 2024