LI 144, Frühjahr 2024
Copium Compendium
Wie kann man das digitale Katastrophenzeitalter überstehen?
Elementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von andreas Kallfelz
Textauszug: 5.267 von 33.512 Zeichen
Textauszug
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Es gibt immer neue Anforderungen, aber keine ist für dich von Vorteil. Es heißt, die Chancen für einen Aufstieg seien verblaßt. Die Sehnsucht ist schon lange erloschen. Deine Seele fühlt sich ausgelaugt, eine Entladung der inneren Spannungen ist nicht in Sicht. Du brauchst Veränderung, kommst mit Veränderungen aber nicht mehr zurecht. Was geschieht, wenn du keine Energie mehr hast, um die Probleme aktiv anzugehen, wenn du Aufgaben aufschiebst und vergißt, dich um deinen Körper zu kümmern? Du langweilst dich und fühlst dich einsam, weil sich deine Online-Freunde nicht mehr melden. Du hast dich letzte Nacht zugedröhnt, aber schaffst es nicht mehr, high zu werden. Wie überleben digitale Seelen, wenn Durchhalten bedeutungslos geworden ist? Wenn du zu müde bist, dein Leben in den Griff zu bekommen und die planetarische Dysmorphie zu bewältigen, gibt es immer noch die Ausweichlösung mit dem Namen „Copium“.
Sollte es darum gehen, die Definitionsmacht im Kampf gegen die Vorherrschaft der rechten Memes zurückzuerobern, haben wir hier einen Vorschlag: Copium ist die digitale Informationseinnahme, die vorübergehend betäubt, berauscht und gefühllos macht, während buchstäblich keine Emotionen sichtbar werden. Der direkte Weg von der bittersüßen Ironie hinunter in die Bekämpfung und Überwindung des absoluten Nihilismus. Was geschieht, wenn es zwecklos geworden ist, sich mit der wahren Natur der Welt auseinanderzusetzen, und man in einen nicht erzählbaren Bereich eintritt?
Copium ist eine Mikrodroge, die dir hilft weiterzumachen, jenseits der destruktiven Seiten des Drogenkonsums und der psychedelischen Ekstase bunter Alternativwelten. Gib Gas, sag es laut, bleib verrückt und sei dir sicher, daß das Leben nach dem Ereignishorizont wieder weitergeht. Tritt ein in das komplizierte Pharmakon des Schmerzmittels als Haltung, die sich dem Wunder öffnet. Was passiert, wenn die taktische Eskalation des Schockeffekts nicht mehr funktioniert? Ist man erst einmal im Rabbit Hole, sind Euphorie und Rausch schnell vergessen. Anstelle eines theatralischen Zusammenbruchs bewirkt die fiktive und doch allzu reale Copiumdroge nur ein Dahindämmern des ungewollten Kapitalismus, in den wir hineingeworfen sind.
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Anstatt Coping (von to cope (with): bewältigen, zurechtkommen, etwas meistern …) als psychologische Strategie zu definieren, eine unangenehme Wahrheit beiseite zu schieben und statt dessen eine weniger beunruhigende Sichtweise anzunehmen, sollten wir den Überlebensaspekt des sich stets wiederholenden Alltags betonen, der keine (revolutionäre) Veränderung zuläßt. Der Geist des Kapitalismus mag tot sein, aber der Wille zum Widerstand und zum Sturz des Regimes ist es auch. „Nimm erst mal eine Beruhigungspille.“ (Volksweisheit). Coping ist dann eine Folge der verlorengegangenen positiven Seite der Ideologie als Glaubenssystem. Und das Dasein in der Welt reduziert sich darauf, Zeit totzuschlagen. Jetzt geht es darum, sich im Job zu schonen und die Hektik hinter sich zu lassen. Entspannen wir uns und checken wir mal die Socials.
Was sind „Coping-Mechanismen“? In diesem Sinne kann Copium alles sein, ein Container mit beliebigem Inhalt, solange es den Schmerz lindert und als metaphorisches Opiat verstanden wird. Aber während manche es mit gedämpften Suchtmitteln und Dingen wie Sport, Schlaf, Pornos oder Essen verbinden, läßt sich Copium besser über digitale Zeitkiller wie Binge-Watching, Gaming und Doomscrollen von TikTok-Videos verstehen. Nicht zu vergessen all die sinnlosen YouTube-Sitzungen.
Copium steht für vita non activa und sorgt dafür, daß man nicht mehr grübeln muß und das Gehirn eine Pause bekommt.7 Was tun, wenn die Sorgen sich im Kreis drehen und es unmöglich geworden ist, eine Entscheidung zu treffen, welche auch immer? Früher war Apathie ein Stigma. Das ist vorbei. Der Faulpelz genießt unsere Sympathien. Inzwischen ist es jedem zuviel. Das ist der große Unterschied zu vor dreißig Jahren, als der neoliberale Positivismus noch die Norm war und der Slacker als faule, subkulturelle Figur angesehen wurde, die sich als Generation X herumtrieb. Der Zustand der Ablenkung ist heute gleichbedeutend mit impulsiven digitalen Interaktionen, welche die Ängste auf eine andere Plattform oder App abladen. Sende eine Kurznachricht, wische zu einem Treffer in einer Dating-App, kommentiere einen Beitrag. All das wird niemals Ruhe oder Gelassenheit bringen, geschweige denn Achtsamkeit.
Coping ist ein Abwehrmechanismus in Streßsituationen.
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Therapeuten zufolge brauchen wir Coping, um „mit Nachteilen oder Rückschlägen fertig zu werden“. Wenn die Fähigkeiten dazu aber erschöpft sind, gibt es als letztes Mittel immer noch Copium. Das ist das Versprechen. Regression ist eine nie endende Abwärtsspirale. Nachdem der Zugang zur Vergangenheit und Zukunft blockiert wurde, sind wir auf Bewältigungsmechanismen zurückgeworfen. Es gibt nur das Grauen vor der ewigen Gegenwart des Jetzt, dem unaufhörlichen monotonen Alltag. Der Duft von dunklen Orchideen. Alles scheint sich zu verändern, aber nichts tut es. Der Umgang mit einer Welt, die von reaktiven Kräften bestimmt wird, ist zu einem zentralen Problem geworden, wenn man bedenkt, wie leicht die Menschen in dieser Welt auftauchen und wieder verschwinden. Welches Gift nimmst du?
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