LI 73, Sommer 2006
Digitale Nihilisten
Wie die Blogosphäre den Medienmainstream unterminiertElementardaten
Textauszug
„An der rationalen Tiefe erkennt man den Radikalen; im Verlust der rationalen Methode kündigt sich der Nihilismus an. Der Radikale besitzt immer eine Theorie; aber der Nihilist setzt an ihre Stelle die Stimmung.“ – Max Bense (1949)
Weblogs oder kurz: Blogs sind die Nachfolger der Homepage der Neunziger. Sie zeichnen sich durch eine Vermischung von Privatem und Öffentlichem aus, sie sind zugleich online geführtes Tagebuch und Öffentlichkeitsarbeit für das Selbst. Laut der neuesten, groben Schätzung von Blogherald gibt es heute weltweit rund 100 Millionen Blogs, und es ist nahezu unmöglich, eine allgemeine Einschätzung über ihre „Natur“ abzugeben oder sie in präzise Genres zu unterteilen. Doch ich werde eben dies versuchen. Es ist von strategischer Bedeutung, kritische Kategorien einer Theorie des Bloggens zu entwickeln, die die spezifische Mischung aus Technologie, Schnittstellendesign und Software-Architektur berücksichtigen.
Anstatt lediglich das emanzipatorische Potential von Blogs zu sehen oder zu betonen, daß es sich um einen Ausdruck subkultureller Folklore handelt, betrachte ich Blogs als Ergebnis eines Prozesses der „Massifizierung“ eines noch immer neuen Mediums. Das Internet hat nach dem Jahr 2000 die „Illusion des Wandels“ verloren. Das entstandene Vakuum wurde dank frei verfügbarer, automatisierter Software durch schriftlich geführte „Gespräche“ aufgefüllt, die miteinander verknüpft sind, also in Gestalt von Blogs erscheinen.
Blogs werden gemeinhin als relativ häufige und chronologisch angeordnete Veröffentlichungen persönlicher Gedanken definiert, die mit Links zu anderen Websites angereichert sind. Blogs handeln davon, was im Leben eines Bloggers, im Web und in der Welt draußen passiert. Ein Blog macht das Erstellen neuer Seiten leicht: Texte und Bilder werden in ein Online-Formular eingefügt (üblicherweise mit Überschrift, Kategorie und Hauptteil) und dann übermittelt. Automatisierte Formatvorlagen sorgen dafür, daß der neue Artikel der Homepage hinzugefügt wird, indem eine komplette neue Artikelseite erstellt wird, die „Permalink“ genannt wird. Darüber hinaus wird der Artikel auch in einem Archiv abgelegt, das entweder nach Kategorien oder nach Datum geordnet ist. Durch die „Tags“ genannten Etiketten, mit denen Autoren einen neuen Artikel markieren, können Veröffentlichungen in Blogs in Hinblick auf Datum, Kategorie, Autor und weitere Attribute gefiltert und durchsucht werden. Blog-Software ermöglicht es dem jeweiligen Administrator auch, andere Autoren zum Schreiben einzuladen. Deren Zugangsrechte können leicht verwaltet werden.
Robert Scoble, der einen Blog im Hause Microsoft schreibt, hat eine Liste mit Eigenschaften erstellt, die Blogs so begehrt machen. Die erste ist die Leichtigkeit, mit der veröffentlicht werden kann. Als zweite nennt Scoble die Entdeckbarkeit, als dritte Gespräche über Sites hinweg, als vierte Permalinking, also die oben bereits beschriebene Möglichkeit, jedem neuen Eintrag eine spezifische und feste URL zu geben. Die letzte Eigenschaft ist die Wiederholbarkeit, also die Möglichkeit, Inhalte auf anderen Seiten zu reproduzieren. Lyndon von der Site Flockblogs gibt einige Tips, die beim Schreiben eines Blogs hilfreich sind und zeigen, wie Ideen, Gefühle und Erfahrungen in das Nachrichtenformat des Blogs gepreßt werden können. Lyndon macht deutlich, wie wichtig die Microsoft-Software PowerPoint geworden ist: „Veröffentliche deine Meinung, verlinke wie verrückt, schreibe weniger, 250 Worte sind genug, formuliere forsche Überschriften, schreibe mit Leidenschaft, benutze numerierte Listen, redigiere deinen Artikel, sorge dafür, daß dein Artikel leicht zu erfassen ist, schaffe einen konsistenten Stil, übersäe den Artikel mit Schlüsselwörtern.“ Während die auf E-Mails basierende Kultur der Mailing-Listen das Echo einer Schriftkultur ist, in der Briefe und Essays geschrieben werden, definiert sich der ideale Blog-Artikel durch PR-Techniken.
Web-Dienste wie Blogs können nicht getrennt werden von den Ergebnissen, die sie hervorbringen. Denn die Politik und die Ästhetik seiner frühen Nutzer werden das Medium für die nächsten Dekaden charakterisieren. Blogs tauchten in den späten Neunzigern im Schatten der Dotcom-Manie auf. Damals war die Kultur der Blogs noch nicht ausreichend entwickelt, um vom Risikokapital und seiner hysterischen Mentalität des Jetzt oder nie beherrscht zu werden. Blogs schienen anfangs eine zwanglose Form des Schreibens zu sein, die sich nicht leicht in Warenform bringen lassen würde. Der Aufbau einer entspannten Parallelwelt ermöglichte es den Blogs, „Kristalle“ zu bilden (ein Begriff, der von Elias Canetti geprägt wurde), aus denen Millionen von weiteren Blogs erwuchsen, die um das Jahr 2003 eine kritische Masse erreichten.
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Der Blog-Hype erscheint im Vergleich zur Dotcom-Hysterie der Neunziger vergleichsweise klein. Die ökonomischen und politischen Landschaften sind schlicht zu unterschiedlich. Was mich aber besonders interessiert hat, ist die oft gehörte Bemerkung, Blogs seien zynisch und nihilistisch. Anstatt diese Anschuldigung unter den Tisch zu kehren, ließ ich beide Schlüsselwörter versuchsweise durch die Systeme laufen, um festzustellen, ob es sich dabei tatsächlich um strukturell gefestigte, grundlegende Tugenden der Blogger-Nation handelt. Anstatt unbesehen anzunehmen, dass es sich bei den Bloggern um Underdogs handelt, deren Mission darin besteht, Goliath zu schlagen, anstatt also die Blogger als „Armee von Davids“ zu begreifen (so der buchtitel Glenn Reynolds, Autor des Instapundit-Blogs), dürfte es sich als sinnvoller erweisen, die Techno-Mentalität von Nutzern zu studieren.
Historisch betrachtet, ist es durchaus sinnvoll, „Internet-Zynismus“ als Antwort auf den Wahnsinn des Millenniums zu betrachten. Im Januar 2001 schrieb das Dotcom-Magazin Clickz: „Unter Investoren, Konsumenten und Journalisten setzt sich zunehmend die Vorstellung durch, daß die Versprechungen, die im Zusammenhang mit dem Internet abgegeben worden sind, sich zu einer einzigen, frechen Lüge verdichtet haben – und daß wir heute die Sünden der Überschwenglichkeit von gestern bezahlen müssen.“ In My First Recession (2003) habe ich den Kater nach der Dotcom-Euphorie zu analysieren versucht. Vor diesem Hintergrund ist Zynismus nichts anderes als der diskursive Schutt eines zusammengebrochenen Glaubenssystems, das Entzugssymptom nach dem Adrenalinstoß, den der Markt verursacht hatte, nach den – im Rückblick betrachtet – optimistisch-unschuldigen Clinton-Jahren der Globalisierung (1993 bis 2000), die so typisch von Negri/Hardts Empire verkörpert wurden.
Es wäre lächerlich, Blogger kollektiv als Zyniker zu denunzieren. Zynismus ist in diesem Kontext kein Charakterzug, sondern ein techno-sozialer Zustand. Das Argument kann also nicht lauten, daß Blogger vornehmlich Zyniker von Natur oder aus Überzeugung seien – oder gar vulgäre Exhibitionisten, denen jede Idee von Understatement abgeht. Es ist wichtig, sich den Zeitgeist zu vergegenwärtigen, der herrschte, als Bloggen als Massenpraxis entstand. Netzzynismus ist ein kulturelles Nebenprodukt von Blog-Software. Er etablierte sich zu einem bestimmten Zeitpunkt und resultiert aus Prozeduren wie Login, Link, Edit, Create, Browse, Read, Submit, Tag und Reply (Einloggen, Verlinken, Bearbeiten, Neues Dokument, Blättern, Lesen, Abschicken, Etikett und Antworten). Manche würden sogar die bloße Verwendung des Begriffs „Zynismus“ als Beschimpfung der Blogger werten. Daher noch einmal: Es geht hier keineswegs um eine subjektive Einstellung oder gar einen kollektiven Lebensstil. Netzzynismus glaubt schlichtweg nicht mehr an die Identitätsstütze der Cyber-Kultur mit den dazugehörigen unternehmerischen Halluzinationen. Er ist vielmehr gekennzeichnet durch die kalte Aufklärung, die einen postpolitischen Zustand charakterisiert, und durch die Beichte, wie sie von Michel Foucault beschrieben worden ist. Den Leuten wird erzählt, daß es keine Befreiung geben kann, wenn sie nicht „die Wahrheit sagen“. Wenn sie beichten (einem Priester, einem Psychoanalytiker oder einem Weblog), wird sie dieses Aussprechen der Wahrheit auf irgendeine Weise befreien.
Es gibt tatsächlich ein Streben nach Wahrheit in der Welt der Blogs – einer Wahrheit, die mit einem Fragezeichen versehen ist. Wahrheit ist zu einem Projekt von Amateuren geworden und kein absoluter Wert mehr, der durch höhere Autoritäten sanktioniert wird. Abweichend von einer gängigen Definition könnte man sagen, daß Zynismus eine unerfreuliche Art und Weise ist, die Wahrheit zu sagen.Verweis_Endnoteparanumonly Das Internet als solches ist weder eine Religion noch eine Mission. Für manche wird es zwar zur Sucht, diese aber kann wie jedes andere medizinische Problem behandelt werden. Der gegenwärtige Zustand nach der Dotcom-Euphorie und nach dem 11. September grenzt an „mitfühlenden Konservatismus“, verwahrt sich aber gegen die kleinbürgerliche Dotcom-Doppelmoral mit ihrem Hang zu Betrug, gefälschten Büchern und dicken Schecks, die als Belohnung winken. Die Frage ist daher, wieviel Wahrheit ein Medium ertragen kann? Wissen macht Sorgen, und das ist ein Umstand, dem die Propagandisten der „Wissensgesellschaft“ nicht Rechnung tragen.
Netzzynismus hingegen ist offen und freimütig, zuallererst gegenüber sich selbst. Die Anwendung „Blog“ ist eine Ware mit einem klaren Verfallsdatum. Spokker Jones: „In vierzig Jahren wird das Internet in einer gigantischen Implosion der Dummhei tkollabieren. Dann möchte ich sagen können: Ich bin dabeigewesen!“ Es wird gesagt, daß der neue Netzzynismus den Weg frei gemacht habe für Websites wie Netslaves.com, die „Horrorgeschichten über Netz-Arbeit“ gewidmet ist. Sie stellt den Resonanzboden dar für all jene, die „verheizt werden von der Inkompetenz, den schwachsinnigen Planungen und dem hysterischen Management der Neue-Medien-Unternehmen“. Exhibitionismus ist eine Selbstermächtigung. Laut zu sagen, was man denkt oder fühlt, ist gemäß des De Sadeschen Vermächtnisses nicht nur eine Option – im liberalen Sinn einer Wahlmöglichkeit –, sondern geradezu eine Verpflichtung. Es ist ein unmittelbarer Drang zur Replik, der Wille, gehört zu werden, um mit den anderen da draußen zusammen zu sein.
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