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Cover Lettre International 57, Peter Zimmermann
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Inhaltsverzeichnis

LI 57, Sommer 2002

Nach dem Dotcom-Crash

Der Internethype und die Kunst der Geldvernichtung. Eine Bilanz

(...) In der Retrospektive präsentieren sich die Dotcoms als Allegorien auf die „gierigen Neunziger". Start-ups im Internet bündelten die Mythologien des unternehmerischen Risikos mit dem Versprechen, „Wohlstand für alle" zu schaffen. In einem sich stetig ausdehnenden Technologieuniversum gab es für jeden einen Platz an der Sonne. Die Dotcom-Saga handelt davon, wie aus Technologie Pop wird. Der Computerfreak und der Day-Trader, der von zu Hause aus blitzschnelle Geschäfte auf dem Aktienmarkt tätigt, sind ihre Helden, der Risikokapitalist tritt als Pate auf.

Für eine kurze Zeit zwischen 1998 und 2000 erschien die Rhetorik der New Economy als heiß und glamourös. Die Aktien der Technologiebörsen gerieten ins Radar der Massenmedien, Wirtschaftsmagazine wie Red Herring, Fast Company, The Industry Standard und Business 2.0 wurden aufmerksam verfolgt. Überall konnte man Berichte aus dem Netz lesen, sie erschienen in Unterhaltungsressorts, auf Medienseiten und in speziellen Beilagen, die sich mit dem Computer beschäftigten. Das Internet hatte schließlich die exklusive Domäne der Experten verlassen und war in der Wirtschaft angekommen.

Die Hausse der späten Neunziger überzeugte Analysten, Investoren, Wirtschaftsprüfer und sogar staatliche Behörden davon, daß es nicht nötig ist, die konkreten Praktiken von Unternehmen zu hinterfragen, solange die Aktienpreise sich auf hohem Niveau bewegen. Das änderte sich drastisch im Jahr 2000. Während sich die Medien nach dem März 2000 auf die ständig wachsende Zahl von Dotcom-Bankrotten konzentrierten, wurden diese Einzelfälle im Jahr 2002 durch eine weitaus größere, umfassendere Rezession überschattet sowie durch schwerwiegende Zusammenbrüche wie die des Energieunternehmens Enron und des Telekommunikationsunternehmens Global Crossing.

Der Niedergang Enrons wurde als erstes Lehrstück der Ara nach dem Boom verstanden. Die enorme Resonanz, die er in den Medien hervorrief, zeigt einen symbolischen Wendepunkt an, nach dem 11. September waren Zuversicht und Optimismus geschwunden. „Als ob es bestätigen wollte, daß eine Ara zu Ende gegangen war, implodierte das siebtgrößte Unternehmen des Landes, das sich neu erfunden hatte, indem es die Werkzeuge der Stunde nutzte – Technologie, den Glauben an den Markt, heimliche Lobbyarbeit und die Fähigkeit, Deregulierung zu nutzen, um neue Geschäftsfelder zu schaffen", so Richard W. Stevenson von der New York Times.

Laut Bill Keller „verkörperte Enron den Kult des Schnell-obszön-reich-Werdens, der an der Schnittstelle von digitalen Technologien, Deregulierung und Globalisierung entstand. Enron ritt auf der Zeitgeistwelle, die durch Geschwindigkeit, Hype, den Neuigkeitsfaktor und Angeberei charakterisiert war." Einst sei Enron ein Unternehmen gewesen, „das kreativ dachte, Paradigmen verschob und Märkte schuf. Es führte vier Jahre hintereinander sogar die Hitliste der innovativsten Unternehmen Amerikas an, die von neidischen Firmenkollegen jährlich mittels einer Umfrage gewählt werden." Das Kerngeschäft Enrons war seine Web-basierte Plattform, auf der mit Energie gehandelt wurde. Das Internet hatte sich hierfür als ideales Vehikel herausgestellt. Der blinde Glaube an die New Economy war paradigmatisch geworden für die Alles-ist-möglich-Attitüde der neunziger Jahre. Manche sahen als Ursache hierfür den Liberalismus der sechziger Jahre, die Wiedergeburt des Materialismus, Clinton oder gar die Umweltbewegung.

Keller: „Öl war hoffnungslos uncool geworden; Derivate waren heiß. Unternehmen wurde geraten, das schwere Gepäck der harten Vermögenswerte wie Fabriken oder Ölfelder loszuwerden, die sich im digitalen Weitsprung nur als hinderlich erweisen würden, und sich stattdessen auf Markenbildung und PR zu verlassen." Wirtschaftsprüfer, die darauf beharrten, die Disziplin der Bilanz walten zu lassen, wurden als „Erbsenzähler" abgetan, die im alten System gefangen waren. In der Wall Street setzte man auf neue Methoden, um den immateriellen Genius der Innovation zu messen: Der wichtigste Modus zu seiner Erfassung wurde das tägliche Zucken der Börsenkurse. Als die Aktien in den Keller fielen, starb Enron auf der Stelle.

Die liquide Modernität war nicht krisenfest. Keller faßt den Stimmungswechsel in Worte, die sich radikal vom Denken der Jahre zuvor unterscheiden: „Je lauter heute jemand ‘Freie Märkte!’ ruft, desto akribischer will man sich seine Bilanzen ansehen (falls sie noch nicht im Reißwolf gelandet sind)." Schließlich wurde gar die grundlegende Frage nach Sinn und Zweck eines Unternehmens gestellt: Ging es nur darum, Geld zu machen, oder darum, Werte zu schaffen und der Kundschaft eine Dienstleistung anzubieten? Plötzlich wurde ein grundlegender Unterschied sichtbar zwischen „Feuerwehrleuten, die ihre Pflicht taten, ohne lang und breit über Pensionen für Witwen zu diskutieren, bevor sie ins brennende Gebäude gingen, und den Managern von Enron, die ihre Aktien verkauften, als die Kurse sanken, ohne ihre Angestellten zu warnen, die daraufhin unter anderem ihre Altersrenten verloren."

Als Option, sich aus der Krise herauszureden, erwies sich die Unterscheidung zwischen dem „reinen" und unschuldigen, spirituellen und alternativen (kalifornischen) Internet und der „schmutzigen", geldwaschenden und spekulierenden Mafia von der Wall Street. Der Wired-Redakteur Kevin Kelly, der die 1998 erschienene Bibel New Rules for the New Economy (deutsch: NetEconomy) verfaßt hatte, verwischt rückblickend jede Spur einer persönlichen Mitverantwortung an der Affäre.

Drei Billionen Dollar an der Technologiebörse Nasdaq verloren, 500 Dotcoms gescheitert und eine halbe Million High-Tech-Jobs verschwunden. Selbst die Kunden auf der Straße sind nicht gerade begeistert von technischen Apparaten, die sich durch nichts voneinander unterscheiden, und Bandbreiten, die niemals kamen", schreibt Kelly im Wall Street Journal. „Der jetzt skeptische Blick auf das Netz ist – so vernünftig er auch sein mag – dennoch genauso unangebracht wie die frühere Ansicht, mit dem Internet könne es nur nach vorn gehen. Das Internet ist weniger ein Geschöpf, das von der Ökonomie gesteuert wird, als vielmehr ein Wunder und ein Geschenk."

Hastig rennt Kelly den CEOs (Chief Executive Officers) davon, mit denen er sich in den boomenden Neunzigern noch gerne abgab. Um seine eigene Beteiligung zu verbergen, preist er schließlich das Heer der Amateure, die Websites bauen: „Zwar sind die 50 populärsten Websites auf krasse Weise kommerziell, die meisten der 3 Milliarden Websites, die auf der Welt existieren, sind es aber nicht. Nur 30 Prozent der Seiten im Web wurden von Firmen wie etwa pets.com erstellt. Der Rest wurde aus Liebe gebaut, wie etwa care4pets.com oder responsiblepetcare.org. Die Antwort auf die Frage, warum Menschen innerhalb von 2 000 Tagen drei Milliarden Websites gebaut haben, ist einfach zu beantworten: Sie wollten teilen." Vielleicht sind solche Sonntagsreden ein Trost für diejenigen, die alles verpaßt oder alles verloren haben. Voluntarismus wird die Strafe für alle in Haussestimmung begangenen Sünden sein.

(...)

Während der Dotcom-Welle „wurden die Arbeitnehmer vollkommen von ihrer Gier übermannt", erklärte ein Profi aus der IT-Branche der Australian Financial Review. „Sie verlangten hohe Gehälter, wechselten alle zwölf Monate den Arbeitsplatz – und jetzt müssen sie zurückzahlen." Unter Beobachtern spricht man von Vergeltungsmaßnahmen, die unter Büroangestellten zu Depressionen führen. „Plötzlich werden die Lieblinge der neuen von der alten Ökonomie überholt. Wenn du eine Drehbank bedienen oder eine Betonplatte gießen kannst, bist du ein gesuchter Mann", erklärt der Reporter der Financial Review. Denn auch Wissensarbeiter sind „den Kräften von Angebot und Nachfrage unterworfen".

Der alte Hut, der hier als Offenbarung verkauft wird, kann nur im Kontext des Versprechens auf ein ewiges Hyperwachstum verstanden werden. Die Dotcom-Welle wurde vom Glauben getrieben, daß Technologie neue Märkte schaffen, selbst aber die Gesetze der Ökonomie hinter sich lassen könne.

Die Zeit der Anschuldigungen war gekommen. Daß der Wind sich gedreht hatte, zeigte sich etwa, als David Murray von der Australian Commonwealth Bank auf dem World Congress on IT 2002 vor der Versuchung warnte, „Informationstechnologie als Strategie an sich zu verstehen". Mit dem Stolz desjenigen, der das Dotcom-Modell nicht übernommen hat, signalisierte Murray, daß der Einsatz von Technologien für seine Bank keine weiteren Produktivitätsgewinne brächte.

Wenn jeder PC im Büro permanent Lizenzgebühren kostet, wenn dieser PC dazu benutzt wird, um private E-mails zu schreiben oder pornographisches Material herunterzuladen, und damit juristische Risiken produziert …, wenn Technologie nicht die Anforderungen erfüllt, dann sollte man ihren Wert hinterfragen." Schließlich behauptete Murray sogar, Informationstechnologien würden die Weltwirtschaft ruinieren. „Microsoft behauptet, Informationstechnologien werden das Wachstum der Weltwirtschaft vorantreiben. Lassen sie mich dazu sagen: Die IT-Industrie der USA hat es ganz allein geschafft, die Weltwirtschaft zu ruinieren, weil die Versprechen der Branche zu groß waren. Als diese sich in den Casino-Zonen der Aktienmärkte in Gewinnversprechen verwandelt hatten, hatte dies völlig unrealistische Investitionen zur Folge." So beschuldigen sich Technologie-Unternehmen und das Kapital gegenseitig, für den Dotcom-Crash und die folgende Rezession verantwortlich zu sein.

Unter der Hingabe und der Aufregung der späten Neunziger lauerte ein Gefühl von Unvermeidlichkeit, um nicht zu sagen der Schicksalhaftigkeit. Unglücklicherweise fehlte es den Dotcoms an Spannung. Wie viele andere Aspekte der „transparenten Gesellschaft" wurden sie von einer essenziellen menschlichen Fadheit angetrieben. Die Protagonisten der Generation @ waren ganz normale Leute, und möglicherweise gibt es gar kein Geheimnis, das aufgeklärt werden müßte. Es gibt weder Anzeichen der Verzweiflung noch solche der Hoffnung. Bestenfalls haben wir es mit Wirtschaftskriminalität zu tun. Denn eigentlich fehlte den Dotcoms, die durch das Versprechen auf völlig neue Möglichkeiten charakterisiert waren, die nötige verschwörerische Energie.

Es bleibt also fraglich, ob hinter ihren Geschäftsmodellen tatsächlich eine planmäßig durchgeführte Wirtschaftskriminalität steckte. Sicher aber läßt sich Zynismus konstatieren, weil man sich verspekuliert hat. Es wurden aber offenbar keine Fehler gemacht. „Regeln waren für Warmduscher. Hier waren unbesiegbare Innovatoren am Werk, die über Regeln nur lachten", so Keller über Enron. Der Management-Guru Tom Peters hatte dazu aufgerufen, Revolutionen anzuzetteln, die Regeln zu brechen und alle bekannten Systeme zu zerschlagen – und die Enronisten folgten, vermutlich ohne sich darüber klar zu sein, daß Anklagen wegen Behinderung der Justiz folgen würden.

Die Beeinflussung von Regierungsbeamten war der modus operandi," erklärt Karel Williams, ein Professor für Buchhaltungswesen aus Manchester. Die Enron-Elite schuf eine Organisation, die durch eine Kultur der Rücksichtslosigkeit charakterisiert war. Individuelles Fehlverhalten wurde durch das allgemeine Geschäftsgebaren unterstützt. „Der Aktienmarkt war insofern am Betrug beteiligt, als an jedem erfolgreichen Schwindel außer dem cleveren Betrüger, der den Gewinn einsteckt, auch ein gieriges Gegenüber beteiligt ist, das jeden Zweifel mit Absicht ignoriert", glaubt Williams.

Der Schlüssel liegt wohl darin, daß alles so schnell ging. Es war schon vorbei, bevor die Protagonisten auch nur eine Ahnung davon haben konnten, was sie eigentlich taten. Man hatte junge, aggressive Betriebswirtschaftler, die sogenannten Baby Suits, angeheuert, von denen erwartet wurde , sich ruhig und unauffällig zu verhalten und keine Probleme zu machen. Sie beschleunigten die geschäftlichen Transaktionen weiter. Als man sich so dem magischen Jahr 2000 näherte, sah alles bestens aus.

Die Folgen extrem schnellen Handelns sind Teil der „organisierten Unschuld", die sich hier zeigt. Der Geschwindigkeitskult der „Fast Companies" machte es unmöglich, überhaupt Fragen zu stellen. Im Zuge einer bewußt herbeigeführten kollektiven Halluzination erschien es unangebracht, auch nur darüber nachzudenken, daß auch dieses Geschäft wie alle anderen einem Auf und Ab unterliegen würde.

Ehemalige Dotcommer sind immer noch verblüfft. Obwohl sie selbst behauptet hatten, ihre Revolution würde alles verändern, war ihnen die historische Weisheit völlig unbekannt, daß jede Revolution ihre Kinder frißt. Die als ungerecht empfundene Krise, die scheinbar ohne ersichtlichen Grund gekommen war, überwältigte die Propagandisten virtueller Unternehmen, die sich darauf einigten, daß eigentlich niemand für die Entwicklung verantwortlich gemacht werden könne. Es ist gut möglich, daß ihre Anwälte den Dotcom-Chronisten geraten haben, nicht zu tief in der eigenen Geschichte zu stochern. Gemeinsame Klagen von Geschädigten könnten drohen.

Dies würde den erstaunlichen Mangel an Selbstkritik unter den Autoren erklären. Wahrscheinlicher aber ist, daß die Autoren immer noch von ihrer oberflächlichen Selbstwahrnehmung eingenommen sind und immer noch an das Bild einer einzigartigen Erfahrung glauben, durch welche die Dotcom-Generation weltweit gemeinsam gegangen ist. Die Protagonisten der Dotcom-Welle hatten die Geschichte auf ihrer Seite, die Möglichkeiten konnten sich eigentlich nur vervielfältigen. Was also war schiefgelaufen?

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.