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Cover Lettre International, Valérie Favre
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LI 115, Winter 2016

Plattform-Kapitalismus

Die Sozialen Medien als Infrastruktur der Zukunft und als Ideologie

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NEUE ELEKTRIZITÄT

Ohne es zu bemerken, sind wir in einem neuen, noch namenlosen Stadium angekommen, der hegemonialen Ära der Social-Media-Plattformen als Ideologie. Es ist klar, daß Produkte und Dienstleistungen einer Ideologie unterliegen. Wir haben auch gelernt, eine Ideologie in sie „hineinzulesen“. Aber an welchem Punkt läßt sich überzeugend darlegen, daß sie selbst Ideologie geworden sind? In einem oberflächlichen Sinne kann man natürlich behaupten, Mark Zuckerberg sei ein Ideologe, der dem amerikanischen Geheimdienst zuarbeitet, oder dokumentieren, wie gesellschaftliche oder politische Gruppen sein Betriebssystem auf eine Weise nutzen, die gegen die Vorgaben seines inhärenten Designs gerichtet ist. Aber an einer umfassenden Theorie der sozialen Medien zu arbeiten, in der deren ideologische Funktion analysiert wird, bedeutet etwas ganz anderes. Für die kritische Theorie ist dies ein entscheidender Moment, um ihren Blick von den quantitativen auf die qualitativen, nicht berechenbaren Einflüsse der allgegenwärtigen Formatierung des Sozialen zu verschieben und verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Die Forschung muß sich vom instrumentellen Ansatz des (viralen) Marketings und der Public Relations befreien.
Hört auf zu pushen und fangt an zu analysieren. Die Netzwerktechnologien sind gerade dabei, sich in atemberaubender Geschwindigkeit als „neue Normalität“ zu etablieren und gleichzeitig ihre Funktionsweisen und Kontrollmechanismen dem Blick zu entziehen. Wir müssen die Neue Elektrizität, die privatwirtschaftlichen Versorgungsunternehmen unseres Jahrhunderts, zu einem politischen Thema machen, bevor sie einfach im Hintergrund verschwinden.

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Vom sozialen, politischen und ökonomischen Versprechen des Internets als eines dezentralisierten Netzwerks aller Netzwerke ist nicht viel übriggeblieben. Die Alternativen zu den etablierten sozialen Medien treten, fünf Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, weiter auf der Stelle. Auch sind allen wohlgemeint kritischen Voraussagen zum Trotz die Herden nicht zu grüneren Weidegründen aufgebrochen. Das Gesamtbild zeigt eine Stagnation in einem von der kommerziellen Vorherrschaft einiger Akteure geprägten Feld.
Wir hängen alle im Morast der sozialen Medien fest. Aber muß das so sein? Wie schon bei der steckengebliebenen Kritik an den Mainstream-Medien in den späten 1970ern wird der Ansatz einer Kritik der politischen Ökonomie allein nicht ausreichen, um zu praktikablen Strategien zu kommen. Ein möglicher Ausweg läge vielleicht in einer postfreudianischen Antwort auf die Frage: Was geht im Kopf des Nutzers vor? Wir müssen uns klarmachen, was uns die sozialen Medien wirklich bieten. Welche Bedürfnisse sprechen sie an? Warum ist Aktualisieren zu einer so verführerischen und gleichwohl öden Gewohnheit geworden? Können wir ein Register kritischer Begriffe entwickeln, das die zwanghafte Anziehung, die sie auf uns ausüben, beschreibt, ohne sie auf die übliche Suchtrhetorik zu reduzieren?

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Rund um die Uhr sozial sichtbar, verschmelzen Apparat und Anwendung im Körper zu einem. Aus McLuhans „Ausdehnung des Menschen“ wird die Umkehrung des Menschen. Wenn die Technologie erst einmal unsere Sinne umfangen hat und unter unsere Haut gedrungen ist, bricht die Distanz zusammen und das Bewußtsein, daß wir Abstände überbrücken, verschwindet. Mit Jean Baudrillard könnten wir von einer Implosion des Sozialen in das Handheld-Gerät sprechen, in dem sich eine nie dagewesene Zusammenballung von Speicherkapazität, Rechenkraft, Software und sozialem Kapital kristallisiert. Die Dinge treten direkt vor unsere Augen, in unsere Ohren, gesteuert von unseren autonomen Fingerspitzen. Das ist, was Michel Serres so an der navigatorischen Plastizität der mobilen Generation bewundert, die Geschmeidigkeit ihrer Gesten, versinnbildlicht in der Geschwindigkeit des Daumens, der sekundenschnell Aktualisierungen sendet, Minikonversationen meistert und die Stimmung eines globalen Stamms in einem Moment erfaßt. Um im Reich der französischen Referenzen zu bleiben, soziale Medien als Apparat für ein aufreizendes und ausgelassenes „aktives Agieren“ werden so zu einem perfekten Vehikel für die Literatur der Verzweiflung, wie sie sich etwa in Michel Houellebecqs verquerer Körperpolitik darstellt.

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PROFIT UND INFRASTRUKTUR

Bewerten wir Bots und Like-Ökonomie als das, was sie sind: Schlüssel-Features des Plattform-Kapitalismus, um hinter dem Rücken der Nutzer eine ökonomische Wertsteigerung zu erzielen. Soziale Medien sind auch keine Sache des Geschmacks oder Lebensstils wie etwa bei einer „Konsumentenentscheidung“, sie sind unser technologischer Modus des Sozialen. Im letzten Jahrhundert wären wir nie auf den Gedanken gekommen, Briefeschreiben oder Telefonieren als Geschmackssache zu bezeichnen. Es waren „Kulturtechniken“, starke Ströme des symbolischen Austauschs. Ebenso verwandelten sich die sozialen Medien bald nach ihrer Einführung und Installierung von einem Hype und einem reinen Onlinedienst in eine essentielle Infrastruktur, die sich mit dem früheren Briefeschreiben, Telegrammeschicken und Telefonieren vergleichen läßt. Es ist genau diese Verbindungsstelle einer „werdenden Infrastruktur“, an der wir die Ideologie-Akte (wieder) aufschlagen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.