LI 102, Herbst 2013
Brasilien auf der Strasse
Über Gruppen, die an die Oberfläche kamen und die Demokratie umformenElementardaten
Genre: Landesporträt, Literarische Reportage / New Journalism, Reportage
Übersetzung: Aus dem Portugiesischen von Ulf-Dieter Klemm
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Textauszug
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In der Geschichtsfakultät
Geht man an den Anfang der Unruhen in Brasilien zurück, stößt man auf eben diese Fakultät für Geographie und Geschichte der USP, diese Bastion der öffentlichen Universität mit einer langen linken Tradition, als einen auslösenden Faktor.
Wir sind am Vorabend der Demo auf der Avenida Paulista, und die Halle des Gebäudes ist voller Fahnen, Plakate, Losungen. Treffen bei Einbruch der Nacht mit Luísa Mandetta, neunzehnjährige Studentin der Sozialwissenschaften, eine der Militanten der Bewegung für freie Fahrt (Movimento Passe Livre, MPL), bei der es weder Anführer noch Sprecher gibt; alle sind Militante.
Die MPL bildete im Juni die Zündschnur, als sie zu Demos gegen die Fahrpreiserhöhung der städtischen Busse von drei auf 3,20 Real aufrief. Der Personentransport ist in der verstopften Megalopolis São Paulo mit ihrer kleinen und überfüllten U-Bahn, den schlechten und vollen Omnibussen ein zentrales Drama, abgesehen von der mit den Transportunternehmen verbundenen Korruption (was sich in vielen brasilianischen Städten ebenfalls zum Drama auswächst, wo in den letzten Jahren der Konsum hochschoß: immer mehr Autos, keine Investitionen in öffentlichen Nahverkehr und Stadtplanung). Die Reaktion der Polizei auf die Paulistaner Proteste mit Tränengas, Gummigeschossen, zig Verletzten und Verhafteten trug dazu bei, daß der Aufstand anschwoll und sich auf das ganze Land ausbreitete, dabei die Gründe für den Protest vervielfältigend. Gruppen und Bewegungen, die seit Jahren Basisarbeit verrichteten, traten an die Oberfläche. Öffentliche Gewalt und private Körperschaften waren verwirrt: Alles wurde in Frage gestellt in dem Bemühen, mannigfaltige Wahrheiten zu begreifen, weit über die Fahrpreiserhöhung hinaus. Unterdessen verbuchte die MPL den Etappensieg, den sie sich vorgenommen hatte: In ganz Brasilien kippten die neuen Bustarife wie Dominosteine.
Der Kampf geht weiter
Mit Ring in der Nase, Tuch auf dem Kopf nimmt Luísa Platz, eine handgeschriebene Notiz in der Hand: Sie ist das Bild von einem Hippiemädchen, das in diesem Moment auch eine Party für eine traditionelle linke Partei organisieren könnte. Aber sie gehört keiner Partei an und ist auch keine Tochter aktiver Parteimitglieder. All ihr Engagement gehört der MPL, die sich auf ihrer Facebook-Seite mit 300 000 Mitgliedern als „autonome, soziale, horizontale, parteilose und unabhängige Bewegung“ definiert, im Kampf „für einen wirklich öffentlichen Nahverkehr, kostenlos für die gesamte Bevölkerung und frei von Privatinitiative“.
Auf diesen Namen getauft, existiert die Gruppe seit dem Weltsozialforum von Porto Alegre im Jahr 2005, aber die Idee geht auf frühere Kämpfe für den öffentlichen Nahverkehr in Florianópolis (Südbrasilien) und Salvador (Nordosten) zurück. Es geht nicht um den „Gratisomnibus“, stellt das Manifest der Bewegung klar: „Der Omnibus hat einen Preis, wird aber durch progressive Steuern bezahlt, nicht durch einen Tarif. Die Stadtverwaltung muß eine Reform der progressiven Steuern durchführen, damit derjenige, der mehr Geld hat, mehr zahlt, wer weniger hat, weniger zahlt, und wer nichts hat, nicht zahlt (weder Steuern noch Gebühren).“ Und weiter: „Den öffentlichen Haushalt besser verteilen, einen Teil für die Subvention des öffentlichen Nahverkehrs vorsehen anstatt Geld für Propaganda, Korruption und Projekte zu verschwenden, die nicht den wahren Bedürfnissen der Bevölkerung dienen.“
Mit der Gewandtheit eines Menschen, der seine Freizeit seit zwei Jahren der MPL widmet, erklärt Luísa: „Wir sehen die urbane Mobilität als die Frage, die das gesamte Recht auf die Stadt durchdringt. Um Zugang zu Gesundheit, Bildung, Freizeit und Kultur zu haben, muß man die jeweiligen Orte erreichen. Daher ist Transport ein Kampfziel für alle. Deshalb hat die Bewegung diese Dimensionen angenommen.“
Die Fahrpreiserhöhung traf die Leute im Portemonnaie, war der Auslöser; aber sehr viel Arbeit war schon vorausgegangen, auf der Straße, in Schulen, auf dem Land, stellt Luísa fest. Und diese Hartnäckigkeit zeigt sich an der Entschlossenheit, mit der ihre Kollegen und sie selbst der Polizei in Momenten der Gewalt gegenübertreten. „Ich hatte niemals Angst“, sagt sie über die Nacht, in der sie sich plötzlich inmitten der Geschosse und der Gaswolken wiederfand. „Ich stand hinten und habe alles gefilmt.“
Mayara Vivian, 23 Jahre alt, im letzten Studienjahr der Geographie, beteiligt sich an dem Gespräch. Sie war eine der von der MPL nach Brasília Entsandten, als Präsidentin Dilma Roussef die Bewegung empfing, nachdem die erste Schlacht schon gewonnen war. Sie redet über die Gummigeschosse und das Gas: „Eine Gasgranate fällt, und die Leute rennen nicht weg. Anstatt wegzulaufen, teilen sich die Leute in Gruppen von tausend Personen auf. Wer Erfahrung mit Demos hat, sagt: ‘Ruhig Blut! Ruhig Blut! Nicht weglaufen!’ Das ist über viele Jahre eingesunken.“ Mayara war von Anfang an in der MPL, das heißt seit sie 15 ist. Brasilia und die Welt mögen überrascht worden sein, aber was im Juni aufbrach, hat nicht im Juni begonnen. „Wir haben eine Kampfkultur aufgebaut“, faßt Luísa zusammen.
Der harte Kern von São Paulo umfaßt nicht einmal fünfzig Personen. Sie haben keine Anführer, und schätzen es nicht, einzelne Personen herauszustellen. Sie mißtrauen den großen brasilianischen Medien, traditionell mit konservativen Interessen verflochten, politischen wie wirtschaftlichen. Mayara gefiel es nicht, Protagonistin in den Medien zu sein, und fängt an, die Fragen der Reporterin mit Mißtrauen zu beantworten: wo sie aufgewachsen sei, ob sie einem militanten Familienmilieu entstamme. Sie beschränkt sich darauf zu sagen, daß sie von der Peripherie der Stadt komme, der Grenze zum Industriegürtel (wo Lula Arbeiter war), daß ihre Eltern keine abgeschlossene Oberschulbildung hätten und auch keine militante Vergangenheit, daß sie selber immer öffentliche Schulen besucht habe.
Sie redet nicht über einen weitergehenden Kampf. Endziel der MPL ist der Nulltarif. Und dabei hat sie, von Schlacht zu Schlacht, Fortschritte erzielt. „Vor fünf Jahren wurde man für verrückt erklärt, wenn man vom Nulltarif redete, aber jetzt haben wir es geschafft, das Thema auf die Straße zu bringen. Die zwanzig Centavos waren die Spitze des Eisbergs, darunter liegen die drei Real.“
In Wahrheit ist das „Ziel“ in alle Richtungen explodiert: die Millionen für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele im Jahr 2016, die mittlerweile zur Verdrängung von Bewohnern geführt und die Preise in die Höhe getrieben haben (vor allem in Rio, wo Millionen in Favelas leben und es heute schwierig ist, ein kleines Appartement für weniger als 1 500 Euros zu mieten); die Nachlässigkeit und Korruption im brasilianischen Kongreß, der von den Lobbys der Großgrundbesitzer, die mit der Abholzung im Amazonasbecken in Verbindung stehen, und den evangelikalen Pfingstkirchen beherrscht wird, die Schwule oder das Recht auf Abtreibung aktiv bekämpfen; die grundsätzliche Ungleichheit, die trotz der 40 Millionen offiziell der Armut Entronnenen fortbesteht; die Kriegslogik der Polizei.
Und was? Wird die MPL weiterhin nur über den Nulltarif reden? „Wir sind eine soziale antikapitalistische Bewegung und unterstützen daher alle Kämpfe für den Abbau der allgemeinen Unterdrückung“, räumt Mayara ein. „Die Stadt wird von der kapitalistischen Logik regiert, sie vertreibt Menschen, da muß man doch solidarisch sein.“ Zum Beispiel mit Wohnungsbesetzungen oder Widerstand gegen Räumungen, wovon São Paulo viele Beispiele liefert, im Zentrum wie an der Peripherie.
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Morgensonne auf der Veranda, er bittet in sein Büro, ein Tisch voll mit Papieren, CDs und Büchern neben einem Fernsehapparat. Die CDs sind Einspielungen von Beethoven. Der Bücherstapel beginnt mit Heinrich Heine, gefolgt vom Kleinen Handbuch zur Inästhetik von Alain Badiou. Ein deutscher Dichter, der auf dem Nachttisch von Karl Marx lag, und ein linker französischer Philosoph. „Ah, ich liebe Badiou“, bemerkt der Oberst. Weitere Bücher aus dem Stapel: Borges in Brasilien, Mário de Andrade, Alberto Manguel, Psychoanalyse. Wer hier erwartet, bestätigt zu bekommen, was er bereits über die militarisierte Polizei weiß, sollte erst mal zuhören.
An der Wand ein hölzernes Kruzifix. Beide Türen des Büros stehen offen. Alaíde Rodrígues, eine Pädagogin, tritt herein. Sie arbeitet bei der Polizei im Bereich Leseförderung. „Ich und der Oberst glauben, daß es Erziehung nur mit Literatur geben wird“, sagt sie energisch. „Das humanisiert, ändert das Klima“, bekräftigt der Oberst. Und sie stimmen an:
„Die neue Polizei muß zeigen, daß sie die Menschenrechte respektiert, denn Polizeiarbeit beginnt mit Akten der Sozialisierung, um Bestrafung zu vermeiden.“
„Wir fangen damit an für eine neue Generation.“
„Wer nicht liest, denkt nicht, ohne Leser gibt es keine Demokratie.“
„Wir wollen Bürger ausbilden.“
Alaíde verabschiedet sich, der Oberst zeigt der Reporterin den Nebensaal, wo verschiedene Frauen ein Atelier für Ikebana vorbereiten, die japanische Blumenkunst. Die Reporterin hat den Besuch am Vorabend arrangiert, als sie erfuhr, daß Íbis Gastgeber einer Vortragsreihe über Gewalt sein werde. Nach dem Krieg auf den Straßen Polizisten zu veranlassen, Ikebana zu betreiben, erscheint wie schwarzer Humor, aber Íbis nimmt das sehr ernst: „Es ist eine Art, die Neigung zu Waffen zu reduzieren.“ Die Inspiration stammt von der japanischen Polizei.
Wir setzen uns auf die gegenüberliegende Seite des Saales. Die Premiere des Films Hannah Arendt fiel mit den Protesten zusammen. Die Reporterin hat an einer gut besuchten Diskussion nach der Premiere teilgenommen, die das Verhalten der brasilianischen Polizei anhand der „Banalität des Bösen“ erörterte – einem Begriff, der von der deutschen Philosophin entwickelt wurde. Bei der Beobachtung des Prozesses gegen den Nazi Eichmann kam Arendt zu dem Schluß, daß das extrem Böse nicht diabolisch, sondern banal sei. Es beginnt in dem Moment, wo ein Individuum, integriert in eine Maschinerie, aufhört zu denken.
„Ich glaube, die beste Art, die Banalität des Bösen nicht zu reproduzieren, ist das Denken“, sagt Íbis. „Ich habe den Film nicht gesehen, aber Arendt gelesen. Das Tragische am Bösen ist, daß es sich einschmeichelt, aber das Denken kann verhindern, daß es sich manifestiert. Wir versuchen unsere Studenten zum Denken zu bringen, ihre Affekte zu bearbeiten.“ Eine neue Praxis, „um die Philosophie der UPPs zu unterstützen“, der Unidades de Polícia Pacificadora [„Einheiten der Friedenstiftenden Polizei“], die in den Favelas von Rio eingericht werden. „Ich bin gekommen, um die Ausbildung zu humanisieren. Man kann dieses Projekt der UPPs nicht denken, ohne die Ausbildung zu überdenken. Es geht nicht nur um Kenntnisse in Straf- und Zivilrecht, denn der Polizist wird sich mit Personen und Grenzsituationen auseinandersetzen.“
Wie schätzt er das Verhalten der Polizei von Rio bei diesen Protesten ein? „Es gab unsererseits einen Exzeß an Gewaltanwendung. Auf der Straße gab es ein Gemenge von subjektiven Vorstellungen, die Polizei war darauf nicht vorbereitet.“
In der Diskussion über den Film hat der Anthropologe Luiz Eduardo Soares, ein profunder Kenner der Fragen öffentlicher Sicherheit, von der Obsession von dem „Feind“ im polizeilichen Denken gesprochen. „Dem stimme ich zu“, sagt Íbis. „Die brasilianische Gesellschaft hat einen sozial akzeptierten autoritären Zug, der aus einer tragischen Vergangenheit stammt. Brasilien blickt auf 500 Jahre Geschichte und 400 Jahre Sklaverei zurück. Das erklärt den Erfolg einer faschistischen Persönlichkeit wie Hauptmann Nascimento [aus Elitetruppe, dem größten Hit des brasilianischen Films]. Dieser Film ist eine Anklage gegen den Faschismus, und das BOPE-Kostüm [BOPE ist eine Elitetruppe der Einsatzpolizei] war das am meisten verkaufte beim Karneval 2010. Das ist der Knoten, den wir entwirren müssen.“
Apropos: Während der Proteste drang die BOPE in die Favela da Maré ein und tötete gemäß zahlreichen Zeugnissen von Anwohnern blindlings. Neun Personen starben. Alles weist darauf hin: aus Vergeltung für den Tod eines Polizisten. Während die Reporterin an den Fall erinnert, nickt Íbis. „Der Vorsitzende der Untersuchungskommission bin ich“, verkündet er. „Ich werde sogar eine Verlängerung beantragen.“
Daran gehindert, über diese Untersuchung zu sprechen, kommentiert Íbis: „Es gibt eine Geschichte der täglichen Gewalt auf den Straßen. Und die Militärdiktatur hat uns eine Ideologie der nationalen Verteidigung beschert mit den Kommunisten als internem Feind. Das Denken wurde durch diese Kampflogik kolonisiert. Von da ist es nur ein Schritt, die Favela als zu eroberndes Territorium und den Drogenhandel als Feind zu betrachten. Der kriegerische Geist durchdringt das gesamte Polizeiwesen, die Gefängnisse, das Rechtssystem.“
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