LI 90, Herbst 2010
Ciudad Juárez, Mexiko
Erlebnisse mit Toten und Lebenden in einem Surrealismus der GewaltElementardaten
Genre: Reportage
Übersetzung: Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel
Textauszug
(Auszug/LI 90)
(...)Der Mann liegt auf einem Aluminiumtisch. Ein Teil seines Gesichts ist entstellt, an seiner Kleidung klebt Blut. Sein Bauch ist entblößt, dick, behaart. Es gibt weder eine Geschichte noch einen Namen. Der Leichenbeschauer trägt Silikonhandschuhe, er bedeckt den Körper mit einem Wachstuch und schreibt darauf in Bauchhöhe mit grellgelbem Marker: „Unbekannter Leichnam 30. Juni 2010“.
Dies war ein Mann.
„Wir hatten heute bereits 14 Autopsien, und jetzt haben sie uns noch mal sieben weitere gebracht“, sagt die Leiterin des Leichenschauhauses, Alma Rosa Padilla, ein pompongesäumtes Kleid, spitze Lackschuhe. Einige der Obduzierten sind gestern umgekommen, aber heute ist noch kein Ende abzusehen. Es ist erst 19 Uhr 25, und wie sich zeigen wird, geht es weiter mit dem Töten.
Am Ende des Flurs ziehen Angestellte neu eingetroffene, in Wachstuch gehüllte Körper von einem Lieferwagen. Sie legen jedes Paket einzeln auf einen Tisch mit Rädern und schieben ihn in den Autopsiesaal. Nirgendwo ist Blut. Das Leichenschauhaus ist ein sauberer Ort, gekachelt, und die Absätze von Frau Doktor Alma Rosa hallen hohl wider. Vor ihrer Autopsie werden die Toten nur zur photographischen Registrierung aufgedeckt. „Dann weist ihnen das System eine Nummer zusammen mit den charakteristischen Merkmalen zu: Tätowierungen, Narben, Amputationen, chirurgische Eingriffe.“ Und außerhalb des Systems wird die Leiche mit dem entstellten Gesicht in der Statistik der Morde dieses Jahres eine Nummer im Haus der 1.400 sein.
Als in Juárez noch weniger als eine Person pro Tag eines gewaltsamen Todes starb, hatten die Reporter mehrere Stunden, um einen Fall zu rekonstruieren. Das war vor Jahrhunderten, genauer: 2007. Jetzt stehen die Toten Schlange, um in die Nachrichten zu kommen, so wie im Leichenschauhaus.
2007 wurden in Juárez 316 Personen ermordet. 2008 waren es 1.623. 2009 2.754.
Oder: Zwischen 2007 und 2009 stieg die Zahl der Mordopfer auf fast 900 Prozent.
Und 2010 ist die Tendenz weiter steigend.
Nicht inbegriffen die Entführungen, Erpressungen, Vergewaltigungen und Folterungen, sind dies die Zahlen, die Juárez zur gewalttätigsten Stadt weltweit machen, in großem Abstand gefolgt von San Salvador, Kapstadt und Medellín.
Laut Consejo Ciudadano para la Seguridad Pública y la Justicia Penal en México – einer Beobachterkommission, die internationale Statistiken vergleicht – war die Mordrate 2009 in Juárez mit 191 pro hunderttausend Einwohner die höchste der Welt. Den zweiten Platz belegt San Pedro Sula in Honduras mit 119 Morden. (Bagdad erscheint mit zwanzig Morden gar nicht erst in diesem Ranking.)
Aber Molly Molloy, eine Bibliothekarin der Universität von Neumexiko, die seit Jahren die Daten von Juárez sammelt, verfügt über noch schwärzere Berechnungen. Da Hunderttausende Personen die Stadt aufgrund der dort herrschenden Gewalt verlassen haben, ist die Einwohnerzahl der letzten Schätzung zufolge auf 1,1 Millionen gesunken. Geht man von dieser Zahl aus, „kann man sagen, daß die Mordrate derzeit bei 249 (pro hunderttausend Einwohner) liegt“, schreibt Molly in ihrer E-Mail. „Und wenn wir die Gesamtzahl der Morde für 2010 höher veranschlagen, kann sie bis auf 265 steigen.“
Die sicários brauchen sich nur noch einen kleinen Ruck zu geben, und die Inflation der Toten wird sich um die tausend Prozent bewegen.
Doch wer sind diese sicários? Es sind die, die auf Befehl töten. Jedes Drogenkartell verfügt über eine eigene Armee. Angeblich ist das Juárez-Kartell, das in dieser Stadt seit jeher dominiert, 2008 auf eigenem Boden vom Sinaloa-Kartell herausgefordert worden. Was den rasanten Anstieg der Todesrate erklärt.
Und dies ist die offizielle, von der Justiz, der Polizei und den Politikern wiederholte Version: zwei Kartelle im Krieg, und die Behörden als Ordnungsstifter im Einsatz.
Doch es gibt außerdem die inoffizielle Version der Leute (die von den für diese Reportage interviewten Behördenvertretern auch nicht bestritten wird): Die Behörden sind in den Drogen-handel verwickelt.
Und was inzwischen jeder in Juárez zu wissen scheint, ist, daß er jeden Augenblick ums Leben kommen kann.
Die Bilanz der vier Tage, die die Reporterin dieses Berichts in der Stadt verbrachte:
Am 29. Juni kamen fünf Personen, darunter ein Polizist, ums Leben.
Am 30. Juni kamen 17 Personen ums Leben, darunter Jugendliche, die Handys reparierten, Zimmerleute bei der Arbeit und die Unterstaatsanwältin. Der Kopf eines der Ermordeten wurde vor der Haustür eines Lokalpolitikers abgelegt.
Am 1. Juli kamen sieben Leute ums Leben, darunter eine Minderjährige; alle auf offener Straße oder in öffentlichen Einrichtungen.
Am 2. Juli kamen fünf Personen ums Leben, darunter ein Mann, den man mit abgehackten Gliedmaßen an einem Baum aufgehängt hatte.
Eine Menge Arbeit für das Leichenschauhaus, wo sich die forensische Wissenschaft folglich bestens entwickelt. „Wir haben vier Kühlschränke mit einem Fassungsvermögen von bequem vierzig Körpern“, erläutert Doktor Alma Rosa. „Wir arbeiten täglich in drei Schichten, einschließlich der Wochenenden. Wir sind bereits bei dreißig Autopsien pro Tag angelangt.“
Und wie wir weiter sehen werden, gehört dieses Leichenschauhaus zur Weltavantgarde hinsichtlich der Rehydrierung mumifizierter Leichen. Wir befinden uns in der Wüste, und die Wüste wirkt sich entsprechend aus auf Leichen.
Aber man erreicht Juárez mit dem Flugzeug wie eine ganz normale Stadt.
(...)