LI 117, Sommer 2017
Fahrt durchs Gebirg
Elementardaten
Textauszug
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OBEN, DAS WUSSTE ICH, wartete seine Hütte, die vielberühmte Denkhütte mit dem Geläut der Stille, wo zur gebotenen Zeit das Seinsgedächtnis erwachte und sich aussprach, in deutscher Zunge, aus der Tiefe des Grundes, von herrlicher limpidité. Welch eine verwunschene Nibelungenschaft dort, zwischen dem Denker der Lichtung, dessen Name einst durch Deutschland reiste wie das Gerücht vom heimlichen König, und dem linkischen Henker mit der Tarnkappe, dem Herrscher im Reich der niederen Dämonen. Welch wunschdurchklungene Nachbarschaft hier, zwischen dem hütenden Denker und dem Dichter mit dem lichtdurchlässigen Tagbewurf, der trotz allem den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim duldet. Wundgelesenes Sein, der verworfene Stein von der Bauhütte des Hüters, der kommende (ungesäumt kommende) Eckstein. Woher nur nahm ich den Mut, aufwärts zu fahren, den Höhenweg über die Engelsbucht zu wagen – ich?
Dann oben der gemeinsame Gang, der Hütte entgegen, er und ich, einzeln wie Orchis und Orchis. Er, der alte Knabe mit der Vaterschläfe und der Nasenrute, ich, das Muttersöhnchen mit der hochsitzenden Hode und dem unaussprechlichen Namen. Er, der Gebende und Zeugende, ich, der Nehmende und Empfangende: den Trunk aus dem Brunnen mit dem Holzstern drauf. Weh mir! Weiß er denn nicht (so pochte mein Herz), daß ich von der Chuzpe weiß, wie das hochhakige Brunnenkreuz, der Erstling der neuen Zeit, erst gegen Kriegsende verschwand, kunstvoll verwandelt in den unbescholtenen Gegenstern. Ein Sternwürfel mit ausgestochenen Augen, in gelbes Halbdunkel getaucht. Hatte der Herr der Dinge vergessen, daß die Dinge nach vollzogener Metamorphose stets noch ihr wahres Wesen wahren: das, was sie gewesen sind. Ich trank und trank. Mutter, für dich nahm ich das Trankopfer auf mich, ich, deine Rebe, die dir grün ist auf immer. Ein Winzer bin ich geworden, notgedrungen, einer, der alles Geweinte keltert und keltert.
(…)
VOM ZUVIEL war die Rede, vom Zuwenig. Es war kein Zungenspaß dabei, die ausgeschlüpften Worte, sie taten weh, sie taten gut. Mit beiden Hälften, die sich nichts taten, hatte ich Umgang und verspürte eine Lust zum Verstummen. Seltsam war mir zumute, so nah bei dem Schweigenden zu sitzen, selbst zu schweigen und gemeinsam einander zuzuschweigen. Eine wunderliche Nachbarschaft war das, schweigend in einer anderen Sprache zu sprechen, das ganz Andere vom schreibenden Schweigen, dem oft geübten. Und plötzlich, ich weiß nicht wie, hüllte mich der Mantel einer grenzenlosen Furcht ein, der namenlosen Angst, restlos verstanden zu werden. Ich wollte, er schlüge mich mit seinem Ant-Wort tot.
Das auf mich zukommende, das auf mich treffende Wort des Denkers, das willkommen geheißene, es blieb säumig, es blieb ungesagt. (Sollte ich sagen, er blieb es mir schuldig? Nein!) Die Wegstrecke entlang der Lautgrenze, durchrast und durchmessen von einem epochalen Schweigen, mißverstanden wie das Schweigen der Sirenen, kam an ihr Ende am bezeichneten Ort. St. Blasius, du Lispler vor dem Herrn, du, der du den Hals-über-Kopf-Leidenden hilfst, was sagt deine Flüsterzunge, was spricht die bedeckte Stimme, die weiß ins Dunkel blickt, wie Espenlaub? Alles an-gesprochen, alles zu-gesprochen, mit abgesenktem Kehlkopf, mit offener Glottis, mit einem beschnittenen Herzen, verblasen in ein aufmerksames Morgen, aufgehoben für ein künftiges Gedächtnis. Mit der naseweisen Hoffnung, daß einiges noch eines Tages im Gespräch aus dem Ungesprochenen gelöst wird, ausgelöst werden möge.
(…)