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Cover Lettre International 136
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Inhaltsverzeichnis

LI 136, Frühjahr 2022

Garküche der Zukunft

Vom Leben und Überleben am Rande der Geschichte

Was geschieht gegenwärtig? Was ist das für eine Zeit, in der wir leben? Das sind zeitlose Fragen von wechselnder Konjunktur, die ganzen Epochen ihren Stempel aufzudrücken vermögen. Michel Foucault hat ein Echo dieser brennenden Fragen über die Weiten der westlichen Zivilisation aufgefangen, um den Puls der Erregung angesichts einer immer wieder enttäuschten Heilserwartung zu messen und zu vergleichen. Sein erstes Hören und Aufhorchen gilt den frühen christlichen Jahrhunderten. Weil sich nicht ereignet, was nach der Himmelfahrt des erdgeborenen Heilands verheißen wurde, schlägt die lange Weile des Wartens zunehmend in Ratlosigkeit um: „Wie und wann wird sich die Rückkehr Gottes ereignen, die uns verheißen ist? Was tun mit dieser Zeit, die gleichsam überflüssig ist? Und was sind wir, die wir dieser Übergang sind?“
     Mehr als ein Millennium später ist das neuzeitliche Denken von einer sehr diesseitigen Erwartung beherrscht, die sich in den Köpfen und Schriften von Humanisten, Aufklärern und Frühsozialisten aufbaut, um im Programm des revolutionären Kommunismus seinen finalen politischen Ausdruck zu finden. Aber wie schon zuvor das Judentum als wahrhaft „wartende Religion“ (Ernst Bloch) noch jeden bisher erschienenen Messias mit einem unerlösten Gefühl wieder verabschiedete, so hat die kritische Moderne keiner der real vollzogenen Revolutionen den Rang einer wirklichen Befreiung zuerkannt: den Eintritt in das von Karl Marx visionär beschriebene Reich der Freiheit, in dem alle Verhältnisse umgeworfen sind, in welchen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.      Als postmoderner Nachfahre dieser Zeit, und das heißt: als Bürger einer der hybriden kapitalistisch-demokratischen Gesellschaften, stellt Foucault ernüchtert fest: „Man könnte sagen, daß wir an diesem Rand der Geschichte, über den die wirkliche Revolution immer noch nicht hereingebrochen ist, die gleiche Frage stellen: Wer sind wir, die wir eigentlich überflüssig sind zu dieser Zeit, wo nicht geschieht, was geschehen sollte?“ Was geschieht statt dessen? Gilt der Umkehrschluß, daß geschieht, was nicht geschehen sollte? Und ist ein Drittes zugelassen: daß etwas geschieht ohne Sinn, aber mit Bedeutung für die Betroffenen?

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STOP ANTHROPOS
Es gibt keine einfachere Erklärung dessen, was vor unseren Augen geschieht, als das, was in dem Satz des Anaximander über die gestaltende Naturkraft ausgesagt wird: „Woraus aber dem mannigfaltig Seienden die Entstehung zuteil wird, darin findet auch das Vergehen statt, gemäß der Notwendigkeit (der waltenden Gewalt), denn sie zahlen einander Strafe und Buße für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“

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Ein gutes Jahrhundert nach Anaximander hat sein Landsmann Sophokles versucht, die Etappen der menschlichen Kulturgeschichte als Gang des historisch Unheimlichen zu enträtseln. Der Auftakt im ersten Chorlied seiner Antigone lautet (in Hölderlins Übersetzung): „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch.“ Es folgt der Katalog jener zivilisatorischen Errungenschaften, die wir traditionell als Gewinne der neolithischen Revolution verbuchen: die Unterwerfung der Erde durch den Pflug, die Zähmung von Stier und Pferd, die Erfindung der Schrift, die Gründung von Städten und die Beherrschung ihrer Bewohner. Ein Leichtes, diese Reihe stichwortartig fortzusetzen (die Gewinnung von Bronze und das Schmelzen von Eisen, der Bau von Kathedralen und die Erfindung des Buchdrucks, die industrielle Revolution) und enden zu lassen mit den atomaren, genetischen, neuronalen und digitalen Grenztechnologien unserer Zeit. Ecce homo: ein manisch Getriebener, der die Baupläne der Natur aufdeckt und benutzt, zu seinem Wohl und (häufig) ihrem Wehe; der nicht aufhören kann mit der Ausübung seiner verfeinerten Herrschaftstechniken über Erde und Wasser, Pflanzen und Tiere, schließlich über sich selbst – zuletzt durch die biopolitische Unterwerfung des menschlichen Körpers und seine Auslieferung an künstliche Intelligenzen.
     Der Rückblick auf die abgelaufene Zeit und der Anblick unserer Jetztzeit, dieser gewollten und zugleich nicht-intendierten Epoche, lassen den dämonischen Motor erahnen, der die menschliche Geschichte antreibt bis auf den heutigen Tag. Gäbe es in unserem Sonnensystem einen zweiten bewohnbaren und für die Menschen erreichbaren Planeten: die Menschheit würde wie ein Heuschreckenschwarm die Erde verlassen und ohne Reue und Besinnung auf der neuen Erde siedeln, um jetzt diesem Boden ihre Taten und Werke einzuschreiben. Nur weil der Mensch (der Raumfahrtindustrie zum Trotz) an seine Heimaterde gebunden ist und sie deshalb nicht aus seinem Zwangsgriff entläßt, erleben wir das irdische Drama des I can’t breathe any longer. Keine Aufklärung und keine List, kein Schrecken und keine Drohung haben es vermocht, den Bann zu lösen. Indes ist der Mensch nicht nur das Werkzeug produzierende und von seinen technischen Machenschaften berauschte Tier, er ist gleichzeitig ein fragendes und sinnstiftendes Wesen, das dem metaphysischen Zauber und Taumel verfallen ist. Und dieser andere Wahn feiert fröhlich-frostige Urständ. Mitten unter uns gibt es einflußreiche, von alten Narrativen getragene Gruppen, welche die naturgesetzlich ablaufende Katastrophe, diese profane Endzeit, als Beginn der prophezeiten Apokalypse umdeuten – und zugleich sehnlichst erwarten. Allen voran die fundamentalistischen Verfechter der monotheistischen Religionen. So haben sich amerikanische Evangelikale und israelisch-jüdische Fanatiker längst in Armageddon verabredet, um unter Ausschluß islamistischer Glaubenskämpfer den biblischen Boden für den großen Endkampf zu bereiten. Man könnte irre werden an der Zeit und versucht sein, mit vorgehaltener Hand nach den Kindern auf der Straße zu rufen: „He, ihr da draußen, sagt doch mal – welches Jahrtausend haben wir?“

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.