LI 131, Winter 2020
Melencolia 2020
Über den Blues unserer TageElementardaten
Textauszug
In Hegels Philosophie gelten glückliche Perioden als „leere Blätter der Weltgeschichte“, als „Perioden der Zusammenstimmung“ und damit (so der Dialektiker) „des fehlenden Gegensatzes“. In der Alltagserfahrung der Coronapandemie lösten die leergefegten Straßen des Lockdowns eine melancholische Verstimmung aus. Neue Seiten, ja Extrablätter der Weltgeschichte wurden in rascher Folge aufgeschlagen und mit beunruhigenden Moritaten vollgeschrieben. Die Zustimmung in das angeblich Unvermeidliche war anfänglich groß und der Widerspruch von Querdenkern schwach. Dialektik im Stillstand? Den meisten fiel es schwer, sich auf das Anhalten des geschichtlichen Gangs, auf den langsamer werdenden „Puls der Lebendigkeit“ (Hegel) einen Reim zu machen. Obwohl die zahlreichen Todesfälle von Covid-19-Infizierten keine Sache der Naherfahrung waren, sondern ihre Wirkung über die Macht der Bilder entfalteten, baute sich ein raues Klima anschwellender Angst auf.
Diese Verlangsamung, soviel stand fest, verhieß nichts Gutes, bedeutete für viele vor allem Einschränkung und Vereinsamung. Notgedrungen eingesperrt wurden wir wahrhaft zu Insassen des entstellten Lebens, die wir draußen im bienengleichen Betrieb philosophisch gesehen immer schon waren. Was genau geschah mit uns (der Welt, der Menschheit) in jenen Tagen, in jenem neuesten, überraschend auf uns einbrechenden Akt der menschlichen Komödie, in dem Umarmungen und Küsse verpönt waren und die Liebe der Enkel darin bestand, Kontakt zu den Großeltern abzubrechen? In dem der Staat in eigener Machtvollkommenheit vollzog, was bisher nur dem Aufstand revolutionärer Arbeiter gelang: Betriebe und Fabriken schlagartig zu schließen, ja das öffentliche Leben zum Erliegen zu bringen? Was hat es auf sich mit dem Blues, in den wir geraten sind und der uns nach dem schrittweisen Aufwachen aus der kollektiven Sicherheitsverwahrung immer noch gefangen und in Atem hält?
SPIEGEL DER ALLEGORIE
Ein verläßlicher Führer durch das Reich der Melancholie, jenem Zwieland einer gleichzeitig unerträglichen Schwermut und Leichtigkeit des Seins, ist gewiß Walter Benjamin. Er wußte davon, daß auf dem langen Passionsweg der Melancholie Allegorien die Stationen sind und deren gemeinten Sinn figurieren – häufig in Gestalt von Engeln, himmlischen wie luziferischen. Boten der Hoffnung und Vorboten ihres Verlustes angesichts drohender Katastrophen. Eine Hoffnungslosigkeit, die Benjamin zufolge nur erträgt, wer die seelischen Besitzverhältnisse richtig einzuschätzen weiß. Denn die letzte Hoffnung gehört niemals dem, „der sie hegt, sondern jenen allein, für die sie gehegt wird. (...) Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.“
War nicht die angesichts des Wütens des Todesengels ausgegebene Parole von wohlmeinenden Politikern, das anempfohlene Tragen einer Atemmaske diene weniger dem eigenen Schutz, vielmehr der Schonung des anderen, des Nächsten, ein schwaches Echo auf diese Botschaft? Und streift uns nicht mit jedem in der Maske einbehaltenen Atemzug ein Hauch jener Luft, die um die (abgeschnitten von ihren Lieben) einsam in Heimen Verstorbenen gewesen ist oder die als letzter Seufzer den Lungenmaschinen entwich, stellvertretend für die schon atemlosen menschlichen Körper, die auf Gedeih und Verderb an diese technischen Blasebälge angeschlossen worden waren?
(…)
REALER LOCKDOWN
Das Schockerlebnis des Lockdowns ist eine Erfahrung im Stande des Ähnlichseins: ein Stillstehen der Zeit unter dem freien Himmel der Geschichte. Was erlaubt uns diese surreale Verknüpfung? Vermag Dürers hochverdichtetes Bild das traurige Dunkel unserer Tage um ein weniges zu erhellen? Ist die wahrgenommene Korrespondenz zwischen dem Eindruck, den Dürers Bild beim Betrachter hinterläßt, und dem Leidensdruck, den der zeitgenössische Blues manifestiert, stark genug, die zentrale Frage neu zu stellen: Was ist hier und jetzt eigentlich los?
Nicht der Ausbruch der Pandemie selbst, sondern die am Vorbild der autoritären Staatsmacht Chinas geschulte Krisenbewältigung (die in den westlichen Staaten dann freilich erheblich abgemildert worden ist) hat das Leben und Fortschreiten unserer Gesellschaft (fast) zum Erliegen gebracht.
Der rasende Puls unserer Zivilisation wurde drastisch heruntergefahren. Daß keine revolutionären Massen am Werk waren, um die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen und damit zum Besseren zu wenden, ist offensichtlich. Unterm Bann politischer Direktiven leben wir seitdem im Status einer neuen Unfreiheit, in einem neuartigen Gehäuse der Hörigkeit, in dem jederzeit das Grundrecht der Bewegungsfreiheit eingeschränkt und je und je eine Testung oder Quarantänemaßnahme angeordnet werden kann. Warnungen werden ausgesprochen, Risikogebiete abgesteckt, zunächst vor unserer Haustür, dann Stadt und Land betreffend, schließlich immer weiter bis ans Ende der Welt. Mit Verweis auf die Gefährdung der „öffentlichen Gesundheit“ breitet sich die politische Biomacht nach Maßgabe eines neuen Habeas Corpus über den Volkskörper aus.
Die Herrschenden haben die Angst der vielen einzelnen unter dem Dach eines nationalen Notstands vergesellschaftet. Sie handeln mit ihr wie mit einer ebenso gefährlichen wie kostbaren Verfügungsmasse, deren Quantum in Gestalt von Infektions-, Reproduktions- und Todeszahlen die täglichen Nachrichten beherrscht. Menschenmassen führen, ihre Bewegungen steuern und ihre Kontakte nachverfolgen, so lautet das Kunststück, das die chinesische Staatsmacht zur Staatsräson erhoben hat – und das bei uns (auch) als Gegenstück zu jener barmherzigen Kapitulation vor den frei flutenden Flüchtlingsströmen verstanden werden muß, die uns im Jahre 2015 den kurzen Herbst der Anarchie beschert hat. Jener früheren Heimsuchung, welche die Kanzlerin mit dem Diktum „Wir schaffen das!“ zu bannen versuchte.
Eine merkwürdige Sehschwäche und Wahrnehmungsarmut hindert unsere Gesellschaft daran, über die grell leuchtenden, angsteinflößenden Ränder der Coronaerscheinung hinaus zum heißen Kern der Sache vorzudringen, das heißt die weltgeschichtliche Bedeutung der augenblicklichen Krise in den Blick zu nehmen. Als ein bekanntes Beispiel einer solchen (auch sonst eher seltenen) Vergegenwärtigung darf Goethes Satz am Tag der Kanonade von Valmy zitiert werden: „Von hier ab und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Angesichts der weltumspannenden Kanonade mit Covid-19-Viren müßte der Satz heute lauten: Hier und jetzt erfährt die Menschheit zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine zeitgleich erlebte, existentielle Bedrohung an Leib und Leben, ein Schattenbild der globalen Umweltkatastrophe, deren ungezügelter Lauf auf den Kollaps unseres Planeten und das Aussterben unzähliger Arten einschließlich unserer eigenen Gattung zusteuert. Hier dabei zu sein ist ein verstörendes und quälendes Erleben, das einen neuen kategorischen Imperativ auf den Plan ruft: alles zu tun, um das (mit und hinter der Pandemie) anrollende Desaster in seiner Wirkung abzuschwächen.
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Die Pandemie unserer Zeit ist auf eine andere Weise Teil einer Zwillingsgestalt; sie ist Vor- und Mitläuferin einer im Wortsinne unfaßbaren und unvordenklichen Weltenkatastrophe. Man weiß um sie. Die Meldungen über verheerende Brände und Fluten, über Wald- und Artensterben, über Vermüllung und Verwüstung, über das Schmelzen von Gletschern und menschlicher Gastlichkeit (um nur einige Stichworte zu nennen) sind wohlfeil, doch gefühlt ist der katastrophale Einbruch eine Sache von morgen. Sein realer Schrecken, zeitlich und räumlich über die ganze Welt verteilt, ubiquitär, aber fragmentiert, ist gestundet; die ihm gebührende Panik von der Routine des Alltags eingehegt. Lautet das aktuelle Motto der Pandemiebekämpfung „Mit dem Virus leben“, so bleibt festzustellen, daß wir schon um ein Vielfaches länger mit der Klimakrise leben – schlecht leben. Zur Erinnerung: Laut aktuellem Weltkatastrophenbericht hingen drei Viertel der jüngsten Naturkatastrophen mit dem Klimawandel zusammen. Aber im Affekthaushalt der Gegenwart bleibt dieser ein Kind der Zukunft, das langsam wächst. Eine verkehrte Welt. Anders als vor hundert Jahren steht heute die Pandemie im Fokus öffentlichen Handelns, die Krise von Erde und Welt dagegen im Abseits.
Tatsächlich hat sich die offizielle Politik mit beiden Krisen auf sehr unterschiedliche Weise arrangiert und eingerichtet. Auf das kleine Sterben der Pandemie antwortet sie mit Wucht und Entschlossenheit. Sie feuert mit großem Geschütz und feiert sich im Bild des starken und fürsorglichen Staates. Mit Blick auf das große Sterben der Klima- und Umweltkatastrophe will ihr dagegen nichts Rechtes einfallen. Leisetreterei überall und ein bleiernes Schweigen im Walde. Aus dem adretten Mundschutz heraus verlauten bestenfalls unverbindliche Lippenbekenntnisse.
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